Wichtige Neuerungen für schieds­gerichtliche Streitbeilegung in China

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Die 1956 gegründete China International Economic and Trade Arbitration Commission (CIETAC) mit ihrem Hauptsitz in Peking gilt als die wichtigste und renommierteste Schiedsinstitution der Volksrepublik China (VR China). Entsprechend häufig einigen sich internationale Akteure mit chinesischen Parteien auf eine CIETAC-Schiedsklausel, wenn die chinesische Partei auf eine lokale Schiedsinstitution besteht. Die Zahl der internationalen, durch die CIEATC administrierten Fälle nimmt jährlich zu. Im Jahr 2022 registrierte die CIETAC etwa 4.000 neue Schiedsgerichtsfälle, wobei der Gesamtstreitwert rund 126,9 Milliarden Renminbi (16,2 Milliarden Euro) erreichte. An den bisher ca. 30.000 von der CIETAC abgeschlossenen Schiedsverfahren waren Parteien aus mehr als 150 Ländern und Regionen außerhalb des chinesischen Festlands beteiligt. Im Einklang mit dem New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche werden die innerchinesischen Schiedssprüche der CIETAC in etwa 165 Ländern anerkannt und vollstreckt.

Die CIETAC aktualisiert ihre Schiedsgerichtsordnung regel­mäßig, um mit den neuesten Entwicklungen in der internationalen Schiedspraxis Schritt zu halten. Nach der letzten Anpassung aus dem Jahr 2015 hat die CIETAC ihre Schieds­ordnung nun erneut umfangreich überarbeitet. Die ­neuen Schiedsregeln traten am 01.01.2024 in Kraft und gelten grundsätzlich für alle CIETAC-Verfahren, die am oder nach diesem Datum eingeleitet wurden. Die Reformen sind ein weiterer Schritt in Richtung Internationalisierung der chinesischen Schiedspraxis: Sie erweitern die ­Befugnisse des Schiedsgerichts und enthalten u.a. Bestimmungen zu Beweis­mitteln, Drittfinanzierung, Konsolidierung von Schiedsverfahren, Digitalisierung und Unterstützungsleistungen bei Ad-hoc-Schiedsgerichtsbarkeit. Im Vergleich zu den CIETAC-Schiedsregeln von 2015 wurden die Bestimmungen von 84 auf 88 Vorschriften erweitert. Die wichtigsten Neuerungen werden hier in Kürze zusammengefasst.

Konstituierung des Schiedsgerichts (Art. 26, 27)

Im Einverständnis beider Parteien kann der vorsitzende Schiedsrichter nun durch die von den Parteien benannten Schiedsrichter gewählt werden (Art. 27.3). Zuvor wurde der vorsitzende Schiedsrichter durch die CIETAC auf der Grundlage einer von den Parteien erstellten Liste mit ­Kandidaten ernannt. Dieses Verfahren kann weiterhin zur Anwendung kommen, wenn die Parteien eine entsprechende Verein­barung nicht treffen.

Zugleich berechtigt der neu eingeführte Art. 26.4 allerdings die CIETAC, sich über die Vereinbarung der Parteien in Bezug auf die Bildung des Schiedsgerichts hinwegzusetzen, wenn das vereinbarte Verfahren „offensichtlich unfair oder ungerecht“ („manifestly unfair or unjust“) ist oder wenn eine Partei ihre Rechte in einer Weise missbraucht, die zu einer unangemessenen Verzögerung des Schiedsverfahrens führt. In einem solchen Fall kann die CIETAC das Verfahren zur Bildung des Schiedsgerichts bestimmen oder jedes Mitglied des Schiedsgerichts benennen.

Entscheidung über die Zuständigkeit (Art. 6)

Mit der Neuregelung des Art. 6 entscheidet das Schieds­gericht nach seiner Konstituierung nunmehr selbst über ­seine Zuständigkeit. Damit nähern sich die Schiedsregeln dem in der internationalen Schiedspraxis geltenden Grundsatz der sogenannten Kompetenzkompetenz des Schiedsgerichts an. Nach den bisherigen Schiedsregeln stand dieses Recht im Grundsatz der Schiedsinstitution CIETAC zu und konnte von dieser lediglich an das Schiedsgericht übertragen ­werden.

Eskalationsklausel (Art. 12.2)

Sieht die Schiedsvereinbarung vor, dass die Parteien vor Einleitung des Schiedsverfahrens verhandeln oder ein Mediationsverfahren durchführen müssen, so hindert ein Versäumnis nunmehr ausdrücklich weder die Parteien daran, dennoch unmittelbar ein Schiedsverfahren einzuleiten, noch die CIETAC daran, den Fall anzunehmen, es sei denn, das auf das Schiedsverfahren anwendbare Recht oder die Schiedsvereinbarung sieht ausdrücklich etwas anderes vor. Tatsächlich entspricht diese Bestimmung bereits der Praxis der chinesischen Gerichte bei Schiedsverfahren in den letzten Jahren.

Recht zur vorzeitigen Klageabweisung (Art. 50)

Zudem sind Schiedsgerichte nach Art. 50.1 nunmehr in ­eigener Entscheidungskompetenz dazu berechtigt, Klagen oder Widerklagen auf Antrag einer Partei wegen offensichtlicher Unbegründetheit oder Unzuständigkeit ganz oder teilweise vorzeitig abzuweisen. Ein solcher Antrag sollte nach Art. 50.3 so früh wie möglich, jedenfalls vor Klage­erwiderung, gestellt werden. Über den Antrag einer Partei auf vorzeitige Klage­abweisung muss das Schiedsgericht ­gemäß Art. 50.5 wiederum grundsätzlich innerhalb von ­60 Tagen nach ­Antragstellung eine begründete Entscheidung oder ­einen Schiedsspruch erlassen.

Zwischenschiedsspruch (Art. 49)

Auch ein Zwischenschiedsspruch – in der internationalen Schiedspraxis bereits weit verbreitet – ist nunmehr nach Art. 49 möglich. Mit einem Zwischenschiedsspruch kann das Schiedsgericht in einem frühen Stadium des Schiedsverfahrens beispielsweise entscheiden, welches Recht auf den Fall anzuwenden ist.

Einstweilige Maßnahmen vor Einleitung des Schiedsverfahrens (Art. 23)

Nach den bisherigen Schiedsregeln von 2015 musste die Partei gemeinsam mit oder nach Einleitung des Schiedsverfahrens bei der CIETAC Eilrechtsschutz beantragen. Die CIETAC hatte dann den Antrag an das zuständige Gericht in der VR China weiterzuleiten. Die Vorschrift des Art. 23.1 der neuen Schiedsordnung gewährt der Partei nun die Möglichkeit, noch vor Zustellung der Anzeige über die Einleitung des Schiedsverfahrens einen Antrag auf einstweilige Maßnahmen zu stellen, der dann von der CIETAC an das zuständige Gericht weitergeleitet wird. Diese Möglichkeit besteht nunmehr auch ausdrücklich für eine Weiterleitung an ein ausländisches Gericht.

Mehrvertragsklausel (Art. 14) und Konsolidierung von Schiedsverfahren (Art. 19)

Praktisch besonders bedeutsam dürfte die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Mehrvertragsklausel (Art. 14) sein, um bei mehreren, streitigen Verträgen eine Kosten- und Zeitersparnis für die Parteien zu bewirken. Während das chinesische Schiedsgesetz keine Regelungen über Mehr­vertrags- oder Mehrparteienschiedsverfahren enthält, hatte die CIETAC ­beide Konstellationen bereits in ihren Schiedsregeln von 2015 berücksichtigt.

Nach den bisherigen Regeln konnten Schiedsverfahren mit mehreren Verträgen nur dann in einem einzigen Verfahren eingeleitet und entschieden werden, wenn die Verträge aus einem Hauptvertrag und einem oder mehreren Nebenverträgen bestehen oder an den Verträgen dieselben Parteien beteiligt sind und sie dieselbe Rechtsnatur aufweisen oder dieselbe Rechtsbeziehung betreffen. Die neuen Vorschriften lassen nun zusätzlich auch den Fall genügen, dass solche Verträge miteinander in Zusammenhang stehende Sachverhalte betreffen („related subject matters“). Des Weiteren können sich die Parteien nach der neuen Schiedsgerichtsordnung nicht nur in der Phase der Eröffnung des Schiedsverfahrens auf die Vorschriften über mehrere Verträge berufen, sondern auch während des Schiedsverfahrens weitere Verträge hinzufügen. Entsprechend wurde in Art. 19 der Anwendungs­bereich einer möglichen Konsolidierung von bereits laufenden Schiedsverfahren auf mehrere Verträge mit in Zusammenhang stehenden Sachverhalten erweitert, und es können Verträge in ­einem bereits laufenden Schiedsverfahren hinzugefügt ­werden (Art. 14.2).

Anwendbarkeit der CIETAC-Beweisrichtlinien (Art. 41)

Sofern die Parteien keine anderweitige Vereinbarung ­getroffen haben, kann das Schiedsgericht gemäß Art. 41.4 beschließen, dass die CIETAC-Beweisrichtlinien von 2015 ganz oder teilweise Anwendung finden. Diese Beweisricht­linien sehen u.a. eine „Document Production“ vor, die eher aus Common-Law-Jurisdiktionen als dem chinesischen Rechtskreis bekannt ist. Bislang fanden die Beweisrichtlinien nur Anwendung, wenn sich die Parteien hierauf geeinigt hatten, nunmehr können diese aber auch ohne Einverständnis der Parteien Anwendung finden.

Vermeidung von Interessenkonflikten (Art. 22)

Wechselt oder erweitert eine Partei nach der Bildung des Schiedsgerichts ihren Prozessbevollmächtigten, kann der Präsident des Schiedsgerichts unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der Parteien und dem Verlauf der Verhandlung in der Sache die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um das Auftreten von damit einhergehenden Interessenkonflikten zu verhindern (Art. 22.2). Die Maßnahmen reichen bis hin zum Ausschluss des neuen Vertreters von der Teilnahme an dem Schiedsverfahren. Die neue Regelung soll Interessenkonflikte vermeiden, die absichtlich geschaffen werden, um die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts zu gefährden.

Digitalisierung (Art. 8, 21, 37, 52)

Mit den von der CIETAC im April 2020 veröffentlichten „Guide­lines on Proceeding with Arbitration Actively and Properly during the COVID-19 Pandemic (Trial)“ wurden bereits während der COVID-19-Pandemie Maßnahmen zur verstärkten Digitalisierung des Schiedsverfahrens eingeführt. So wurde ein virtuelles Anhörungssystem für ­Parteien etabliert, die aufgrund von Reise- und gesundheitlichen Einschränkungen nicht an den mündlichen ­Anhörungen teilnehmen konnten. Aufbauend hierauf enthält die neue Schiedsordnung der CIETAC nun ausdrückliche Regelungen zur digitalen Gestaltung von Schiedsverfahren. Nach den neuen Schiedsregeln stellt die elektronische Zustellung von verfahrensrechtlichen Dokumenten die bevorzugte Form der Zustellung dar. Die Einreichung von Schieds­dokumenten auf elektronischem Wege wird nun ausdrücklich zugelassen. Darüber hinaus liegt es nun ­gemäß Art. 37.5 im Ermessen des Gerichts, nach Rücksprache mit den Parteien zu entscheiden, ob eine Anhörung durch persönliche Anwesenheit, per Videokonferenz oder über andere geeignete Kommunikationsmittel abgehalten wird. Auch wird klargestellt, dass die elektronische Unter­schrift eines Schiedsrichters die gleiche Wirkung hat wie eine handschriftliche Unterschrift und dass ein Schiedsspruch elektronisch zugestellt werden kann.

Finanzierung durch Dritte (Art. 48)

Die CIETAC-Schiedsregeln von 2024 greifen erstmals ­Bestimmungen zur Finanzierung des Schiedsverfahrens durch Dritte auf. Die finanzierte Partei ist verpflichtet, gegen­über der CIETAC Informationen über die Finanzierungsvereinbarung offenzulegen, z.B. über das finanzielle Inter­esse, den Namen und die Adresse des Drittfinanzierers. Diese ­Informationen leitet die CIETAC sowohl an die andere Partei als auch an das Schiedsgericht weiter. Die Drittfinanzierung und die Einhaltung der Offenlegungspflicht können gemäß Art. 48.2 bei der Kostenentscheidung berücksichtigt werden. Die nun in den CIETAC-Schieds­regeln verankerte Drittfinanzierung im Rahmen von Schiedsverfahren spiegelt die bereits durch neue Gerichtsentscheidungen in der VR China bestätigte, wenn auch vorsichtige Akzeptanz von Drittfinanzierungen wider und lässt vermuten, dass sich diese Praxis weiter etablieren wird.

Ad-hoc-Schiedsverfahren (Art. 2.7)

Nach dem chinesischen Schiedsgesetz sind Ad-hoc-Schieds­verfahren, d.h. Schiedsverfahren, die ohne Unterstützung ­einer Schiedsinstitution stattfinden, unzulässig. Dies soll sich im Zuge der derzeit erfolgenden Reform des Schiedsgesetzes (siehe hierzu unseren Beitrag in Dispute­Resolution, Ausgabe 01/2022) ändern. Die neuen CIETAC-Schiedsregeln greifen dem Gesetzgeber vor, indem sie von der bereits erwarteten Lockerung des Verbots ausgehen und der CIETAC die Möglichkeit gewähren, auf Vereinbarung oder Ersuchen der Parteien Verwaltungs- und Unterstützungsdienste für Ad-hoc-Schiedsverfahren zu erbringen, z.B. in Form von Anleitung oder Beratung zur Anwendung der Schiedsgerichtsordnung, zur Ernennung von Schiedsrichtern oder zur Durchführung von mündlichen Anhörungen, Verwaltung der Vergütung der Schiedsrichter. Dies gilt nur, soweit die Ad-hoc-Schiedsvereinbarung wirksam ist und nicht zwingendem geltenden, ­anwendbarem Recht widerspricht.

Beschränkte Haftung (Art. 86)

Der neue Art. 86 regelt schließlich einen weitreichenden Haftungsausschluss. Die zivilrechtliche Haftung der CIETAC, ihrer Mitarbeiter, der Schiedsrichter, der Eilschiedsrichter („emergency arbitrators“) und der vom Schiedsgericht beauftragten Personen ist für jegliches Verhalten, einschließlich Fahrlässigkeit, Handlung oder Unterlassung, das im Zusammenhang mit einem Schiedsverfahren nach der Schiedsordnung der CIETAC steht, ausgeschlossen. Außerdem besteht keine Pflicht des genannten Personenkreises, als Zeuge auszusagen, es sei denn, das für das Schiedsverfahren geltende Recht sieht etwas anderes vor.

Bewertung und Ausblick

Die Schiedsregeln der CIETAC waren dem chinesischen Schiedsgesetz mit Blick auf internationale Entwicklungen stets einen Schritt voraus und trieben so die Gesetzes­entwicklung sowie die chinesische Schiedsgerichtspraxis weiter voran.
Auch die neuen Schiedsregeln der CIETAC vom 01.01.2024 greifen etwa mit Blick auf Ad-hoc-Schiedsverfahren dem chinesischen Schiedsgesetz vor, dessen Reform derzeit noch aussteht. Die neue Schiedsordnung von 2024 berücksichtigt zum Teil einige der neuesten Entwicklungen und bewährten Praktiken in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. Mit dem Inkrafttreten der Schiedsgerichtsordnung 2024 wird die CIETAC weiterhin eine wichtige Rolle bei der Beilegung von Handelsstreitigkeiten in der VR China und weltweit ­spielen.

 

Autor

Katharina Klenk-Wernitzki, Dipl. Reg.-Wiss. (China) Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbh, Berlin/Köln Rechtsanwältin, Complex Disputes, Counsel katharina.klenk@luther-lawfirm.com www.luther-lawfirm.com

Katharina Klenk-Wernitzki, Dipl. Reg.-Wiss. (China)
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbh, Berlin/Köln
Rechtsanwältin, Complex Disputes, Counsel

katharina.klenk@luther-lawfirm.com
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Autor

Dr. Madeleine Martinek, LL.M., LL.M. oec. (Nanjing) Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbh, Köln Rechtsanwältin, Complex Disputes, Associate madeleine.martinek@luther-lawfirm www.luther-lawfirm.com

Dr. Madeleine Martinek, LL.M., LL.M. oec. (Nanjing)
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbh, Köln
Rechtsanwältin, Corporate/M&A, Associate

madeleine.martinek@luther-lawfirm.com
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