Am Nachmittag des 18. Januar 2023 fand ein hybrides Diskussionsforum zur Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13.09.2022 in Berlin statt. Veranstalter des rechtspolitischen Dialogs waren das Forschungsinstitut für Anwaltsrecht der Humboldt-Universität, das Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Bonn sowie der Bundesverband der Wirtschaftskanzleien in Deutschland (BWD). In Ausgabe 03/2023 des Deutschen AnwaltSpiegels haben wir bereits kurz über die Veranstaltung berichtet (siehe hier). Welche Meinungen in der anschließenden Podiumsdiskussion vertreten wurden, möchten wir in dieser Ausgabe detaillierter beleuchten.
Rückblick
Rund 100 Teilnehmer vor den Bildschirmen und 60 Teilnehmer vor Ort verfolgten bei der hybriden Veranstaltung sowohl die Vorträge der Gastgeber als auch die Diskussion zwischen Kanzleivertretern und Bundestagsabgeordneten.
Nach der Begrüßung und Einführung durch Prof. Dr. Reinhard Singer von der Humboldt-Universität zu Berlin hielt Christof Kleinmann, Co-Managing Partner bei GvW Graf von Westphalen und Leiter der BWD-Task-Force „Arbeitszeitgesetz“ (siehe hier), einen Vortrag mit dem Titel „Warum wir ein flexibleres Arbeitszeitrecht für Anwälte brauchen“. Anschließend wandte sich Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M., Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit an der Universität Bonn, mit motivierenden Worten an das Auditorium im Saal und vor den Bildschirmen: „Ich möchte Sie ermutigen, heute Lösungen zu diskutieren und erst dann zu überlegen, ob und wie diese in das europäische Recht passen!“ Er verabschiedete sich mit den Worten: „Hier sitzt heute der gesammelte arbeitsrechtliche Sachverstand, und ich wünsche Ihnen eine aussichtsreiche Diskussion!“
Fünf Bundestagsabgeordnete, fünf Meinungen?
Der Einladung zum rechtspolitischen Dialog waren Carl-Julius Cronenberg, MdB (FDP), Susanne Ferschl, MdB (Die Linke), Kaweh Mansoori, MdB (SPD), Beate Müller-Gemmeke, MdB (Bündnis 90/Die Grünen) sowie Wilfried Oellers, MdB (CDU/CSU) gefolgt. Moderator der Diskussionsrunde war Prof. Dr. Thomas Wegerich, Herausgeber der Magazine der Produktfamilie Deutscher AnwaltSpiegel und stellvertretender Vorstandssprecher des BWD.
Beate Müller-Gemmeke stellte sich und ihre Haltung zu der vieldiskutierten BGH-Entscheidung als erstes vor. Sie habe sich über die Klarstellung des BAG gefreut. Ihr gehe es um den Gesundheitsschutz, vor allem, da sich Arbeit immer mehr beschleunige und verdichte und daraus immer mehr psychische Erkrankungen resultierten. Und weiter: „Ich habe noch nie verstanden, warum Arbeitszeit nicht erfasst werden muss, oder wenn, dann nur Überstunden erfasst werden.“ Die Politikerin findet die Aufregung rund um das Thema „Arbeitszeiterfassung“ gut, da es so in den Fokus gerückt werde.
Susanne Ferschl schloss sich der Meinung ihrer Vorrednerin weitestgehend an. Man müsse die Entscheidung unter dem Aspekt verstehen, dass der Kern des Arbeitszeitgesetzes das Arbeitsschutzgesetz sei. Auch sie habe sich über die BAG-Entscheidung gefreut. Es gebe – je nach Berufsgruppe – eben verschiedene Wünsche an das Arbeitszeitgesetz. Um ihre Sichtweise zu untermauern, berichtete sie über ihre Tätigkeit im Gesamtbetriebsrat von Nestlé. Viele Mitarbeiter arbeiteten im Schichtbetrieb und hätten damit gänzlich andere Voraussetzungen. „Wir brauchen ein Arbeitszeitgesetz, nicht einzelne Arbeitszeitgesetze für verschiedene Berufsgruppen!“, erklärte Ferschl bestimmt. Sie führte weiter aus, dass überlange Arbeitszeiten nachweislich krank machten und in Folge zu Arbeitsunfällen führten. Mit der Entscheidung habe das BAG ein wichtiges Urteil gefällt, das für Klarheit sorge.
Ein Paukenschlag sei der Beschluss gewesen, so der CDU/CSU-Vertreter Wilfried Oellers, und ergänzte sogleich, dass er sich nicht anmaße, die Urteilsbegründung zu beurteilen. Kritisch bemerkte er zudem, dass Berufsgruppen Pflichten hätten, die sie einhalten müssen, aber nicht können, wenn es das Arbeitszeitgesetz nicht hergibt. Entscheidung hin oder her: Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung müsse im Rahmen der EU-Richtlinie eine Flexibilisierung ermöglichen. Außerdem sei es wichtig, Rechtsklarheit zu haben.
„Die Lebenswirklichkeit der Menschen ist mir näher als die Paragraphen“, so Carl-Julius Cronenberg von der FDP. Er sei kein Jurist, sondern Unternehmer, und man müsse fragen, was sich die Menschen wünschen: selbstbestimmtes Arbeiten, ohne Stechuhr, Vertrauensarbeitszeit? Arbeitgeber wünschten sich motivierte Mitarbeiter, die eigenverantwortlich agieren und gesund sind und bleiben. Vertrauensarbeitszeit müsse weiterhin möglich sein, befand der FDP-Politiker.
Der SPD-Vertreter Kaweh Mansoori befand die Entscheidung als „ein bisschen überraschend“ und führte aus, dass er darauf gehofft habe, dass das Urteil greifbarer mache, wie die Zeit zu erfassen sei. Es sei vernünftig, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) Gründlichkeit vor Schnelligkeit walten lasse und Vorschläge prüfe. Ihm gehe es bei der Durchsetzung zur Pflicht der Arbeitszeiterfassung darum, dass Arbeitnehmer nicht um ihren Lohn geprellt werden. In Großkanzleien sei dies sicher nicht der Fall, dennoch sei die Arbeitszeiterfassung auch in dieser Berufsgruppe sinnvoll. Mokant fügte er hinzu. „Wenn man nicht gerade Strafverteidiger ist, gibt es kein Problem, das man um 23.30 Uhr noch lösen muss.“
Lebenslagenbezogenes Arbeiten
Die Grünen-Politikerin Müller-Gemmeke wollte über Zeitsouveränität sprechen: „Es sollte möglich sein, lebenslagenbezogen zu arbeiten.“ Sie monierte, die Brückenteilzeit sei sehr starr, und forderte, dass Arbeit besser ins Leben passen müsse. Die Aufregung darüber, durch die Zeiterfassung zu sehr eingeschränkt zu sein, könne sie nicht nachvollziehen. „11 Stunden Pause sind nicht machbar? Das nennt sich auch schlafen – und jeder muss doch zwischenzeitlich essen, duschen und einkaufen.“
Moderator Thomas Wegerich verfolgte die Statements aufmerksam und wollte von den Diskutanten wissen, wie flexibel sich sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber anlässlich der Zeiterfassungspflicht zeigen sollten.
Für Wilfried Oellers muss eine Flexibilisierung der Arbeitszeiterfassung für beide Seiten rechtssicher sein. Das sei eine große Aufgabe. Christof Kleinmann, der nun im Auditorium saß, mischte sich in die Diskussion ein. Als Anwalt verfüge er über Zeitsouveränität und müsse nicht geschützt werden. Es sei wichtig, bei Freiberuflichen Ausnahmen gelten zu lassen. Dem stimmte Mansoori teilweise zu: „Es sind nicht alle Berufsgruppen gleichermaßen schutzwürdig. Bei einem hohen sechsstelligen Jahresgehalt beutet man sich nur selbst aus – aber das kann natürlich auch krank machen.“ Er verwies darauf, dass der Arbeitsschutz bei hochqualifizierten Berufsgruppen trotzdem gelten müsse. Es spreche nichts dagegen, in Ausnahmesituationen bis 23 Uhr zu arbeiten. Doch sollte dies nicht die Regel sein. „Wir wollen Selbstausbeutung nicht legalisieren.“
Müller-Gemmeke hielt fest, dass es unendlich viele gute Arbeitgeber gebe, aber eben auch solche, die ihre Mitarbeiter nicht gut behandeln. „Kanzleien befinden sich in einem intensiven Wettbewerb um die besten Köpfe. Sie können es sich gar nicht leisten, ihre Mitarbeiter nicht gut zu behandeln“, schaltete sich Thomas Wegerich ein.
Flexibilität: Ja oder nein?
Cronenberg zeigte sich verwundert, dass die Zeiterfassung für die Anwaltschaft so problematisch zu sein scheint: „Bei Rechnungen von Anwälten sind ganz genau die Stunden abgebildet. Also erfasst ja wohl jemand die Zeit.“ Schlussendlich brauche die Arbeitszeiterfassung Ausnahmen, und die Vertrauensarbeitszeit müsse geschützt werden. Zudem ließen die Tarifverträge einiges zu. Mit dieser Aussage zeigte sich Susanne Ferschl weniger einverstanden. Sie bemängelte, dass jede Ausnahme und jede Abweichung die Schwierigkeit berge, alles nachzuvollziehen, und je löchriger ein Gesetz sei, desto schwieriger sei es, dieses umzusetzen. Mansoori intervenierte mit dem Einwurf, dass, wenn man überhaupt Öffnungen des Gesetzes zulasse, branchenspezifische Lösungen gefunden werden müssten.
Aus dem Auditorium meldete sich Kathrin Reitner, Vorstandsmitglied im BWD und Mitglied der Task Force „Arbeitszeitgesetz“: „Wenn Ausnahmen nicht im Arbeitszeitgesetz aufgenommen werden sollen, dann wäre doch eine Öffnung für spezifische Regelungen im Berufsrecht entsprechend der Öffnung durch Tarifverträge sinnvoll. Insoweit könnten Öffnungsklauseln im Arbeitszeitgesetz für Ausnahmen im jeweiligen Berufsrecht aufgenommen werden.“ Linken-Politikerin Ferschl hielt das für keine gute Regelung. Müller-Gemmeke fragte: „Wie soll das ohne Tarifvertrag gehen?“
Austausch mit jungen Anwälten
Zum Nachdenken brachte Michael Siebold, ebenfalls Vorstandsmitglied im BWD, die Teilnehmenden. Er erinnerte sich an ein Vorstellungsgespräch mit einer jungen Absolventin, die ihn fragte, wo denn eigentlich geschrieben stehe, dass Rechtsanwälte weit mehr als 40 Wochenstunden arbeiten müssten. Siebold wandte sich an seine Kollegen: „Die nachwachsende Generation ist eine Marktmacht. Vielleicht sollten wir uns einmal mit dieser Generation zusammen- und auseinandersetzen und die jungen Leute fragen, wie sie sich das Arbeitsleben in einer Kanzlei vorstellen. Vielleicht bedarf es gar nicht so vieler Ausnahmen, sondern das regelt sich von alleine.“
Kleinmann wies darauf hin, dass der Ruf nach Ausnahmen für einzelne Berufsgruppen einerseits kritisiert werde, andererseits aber längst anerkannte Praxis sei. In Richtung Politikvertreter forderte er, darüber nachzudenken, ob Freiberufler nicht doch anders zu behandeln seien. Er verwies auf die Niederlande, wo man dieses Thema viel lockerer angehe.
Eine andere Teilnehmerin erinnerte an die Aufforderung Gregor Thüsings, Lösungen zu diskutieren und erst dann zu überlegen, ob und wie diese in das europäische Recht passen. Zudem entwickelten wir uns zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Das Arbeitsschutzgesetz aus Zeiten der Industrialisierung würde dies eben nicht ausreichend abbilden.
Die Diskussionen, die sich in einer solchen Zusammenfassung nur knapp wiedergeben lassen, hätten noch lange weitergeführt werden können. Doch die fünf Politikvertreter mussten sich nach mehr als 90 Minuten verabschieden, um einer Sitzung beizuwohnen. Für den Input, den ihnen dieser Austausch vermittelt hatte, zeigten sie sich dankbar und versprachen, diesen in weitere Überlegungen zur BAG-Entscheidung mitzunehmen.
Ein erstes Fazit
Festhalten ließ sich vorerst:
- Der Zielkonflikt besteht zwischen den unterschiedlichen rechtlichen Vorgaben.
- Vertrauensarbeitszeit muss bleiben.
- Es gibt viele knifflige Fragen hinsichtlich der Erlaubnis von Datenverarbeitung und Arbeitszeiterfassung.
- Es sollte keine pauschale Ausnahme für bestimmte Berufsgruppen geben.
- Die erforderliche Dokumentation soll nicht dazu führen, dass es keine Vertrauensarbeitszeit und kein Homeoffice mehr gibt.
- Es bedarf einer praxistauglichen Lösung.
- Entscheidungen vom Gesetzgeber müssen auch von unten getragen werden.
Zum Ende der Veranstaltung dankte Reinhard Singer den Anwesenden mit dem Schlusswort: „Sie alle haben heute ein differenziertes Bild zum Thema vermittelt. Vielen Dank!“
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