Mit beA, E-Akte und Videokonferenz allein wird die Justiz den Anschluss ans digitale Zeitalter nicht schaffen

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Eine Pferdekutsche wird nicht dadurch zum zeitgemäßen Verkehrsmittel, dass man ihr eine windschnit­tige Karosserie verpasst und auf dem Kutscherbock einen PC installiert. Solange man nicht – wie Gottlieb Daimler anno 1886 – die Pferde durch einen Motor ersetzt, wird sich an der Funktionalität nicht viel ändern.

Mit den bisherigen Digitalisierungsbemühungen der Justiz liegt es ähnlich. Obwohl Computer auf jedem Richtertisch stehen, die Anwälte ihre Schriftsätze elektronisch übermitteln müssen und viele Sitzungssäle mit Videotechnik ausgestattet sind, dauern Zivilprozesse zunehmend länger und wächst die Unzufriedenheit mit der Effizienz der Rechtsprechung (vgl. Meller/Hannich, MDR 2023, 737 ff.).

Es wird höchste Zeit, in der Justizpolitik nicht nur über den Einsatz digitaler Werkzeuge, sondern über eine grund­legende Innovation des Verfahrens nachzudenken. Das Abbilden hergebrachter Abläufe in einem digitalen Gewand ist so sinnlos wie der Prozessor auf dem Kutscherbock. Die Rechtsfindung im gerichtlichen Verfahren muss insgesamt an den heutigen technischen Möglichkeiten ausgerichtet werden. Digitalisieren heißt: digital denken.

Verfahrensleitung von Anfang an

Hauptursache für die lange Dauer und die Ineffizienz der Zivilprozesse ist die Fokussierung auf die mündliche Verhandlung. Natürlich soll an dieser großartigen Errungenschaft der Civilprozeßordnung (CPO) von 1877 nicht gerüttelt werden; es gilt lediglich, ihren Stellenwert im Lichte der heutigen Verhältnisse neu zu bestimmen.

Es mag im ausgehenden 19. Jahrhundert sachgerecht gewesen sein, dass gleich nach Eingang der Klageschrift ein Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Gericht bestimmt wurde [vgl. § 233 CPO vom 30.01.1877 (RGBl S. 83)]. Dort hatten die Parteien ihre Sach- und Rechtsausführungen dem Richter in freier Rede vorzutragen. Viel geschrieben wurde nicht, denn eine Bezugnahme auf Schriftsätze war nicht zulässig [vgl. § 128 CPO vom 30.01.1877 (RGBl S. 83)].

Heute findet der Parteivortrag hauptsächlich in den Schriftsätzen statt; sie werden durch bloße Antragstellung in der mündlichen Verhandlung zur Entscheidungsgrundlage. Und das Gericht ist, anders als vor 145 Jahren, zur aktiven Prozessleitung durch rechtliche Hinweise und vorbereitende Maßnahmen (§§ 139 ff. Zivilprozessordnung – ZPO) sowie zum vorrangigen Hinwirken auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits verpflichtet (§ 278 ZPO).

Dennoch wird weiterhin zu Beginn des Verfahrens, entweder schon mit Zustellung der Klage oder nach einem schriftlichen Vorverfahren, ein Verhandlungstermin bestimmt – wegen der Vielzahl zu verhandelnder Sachen und der begrenzten Verfügbarkeit von Sitzungsräumen Monate im Voraus. Nicht selten müssen Termine verlegt werden, viele werden aufgehoben, weil sich die Sache anderweitig erledigt hat. Weit mehr als die Hälfte aller Verfahren endet ohne streitiges Urteil, so dass die Anberaumung eines Verhandlungstermins, das Vorhalten eines Sitzungssaals und die Ladungen gar nicht nötig gewesen wären. Die anderen Sachen aber liegen auf Halde; durch weiteren Schriftwechsel wird der Prozessstoff zunehmend unübersichtlich, der Konflikt oftmals aufgeheizt und so mancher Nebenstreit gezüchtet.

Ein wesentlicher Beitrag zu Effizienzsteigerung und ­Ressourcenschonung könnte daher erreicht werden, wenn das Ansetzen einer mündlichen Verhandlung auf die Fälle beschränkt würde, in denen es einer solchen tatsächlich bedarf, und wenn in diesen Fällen die mündliche ­Verhandlung konzentrierter und zielgerichteter durchgeführt würde. Dies erfordert ein flexibles Verfahrens­management.

Kommunikatives Case-Management

Der Grundfehler der herkömmlichen Prozesspraxis besteht darin, dass bis zum lange im Voraus bestimmten Verhandlungstermin seitens des Gerichts zu wenig geschieht, um das Verfahren in die falladäquaten Bahnen zu lenken. Der unkoordinierte Austausch von Schriftsätzen bewirkt eher das Gegenteil, schriftliche Verfügungen des Vorsitzenden erzeugen oft nur zusätzlichen Streitstoff. Natürlich ziehen die Parteivertreter zunächst alle Register, die zu einem Prozesssieg führen können.

Um Leerlauf, Aufblähung und Zersplitterung des Verfahrens zu vermeiden, bedarf es vor der Verhandlung, die die Urteilsgrundlage bilden soll, einer mit den Parteivertretern zu erörternden Verfahrensplanung. Anders als viele moderne Verfahrensordnungen sieht unsere noch den Geist des 19. Jahrhunderts in sich tragende ZPO eine solche Case-Management-Conference nicht vor. Sie müsste in einen künftigen digitalen Zivilprozess fest eingebaut werden. Ihr Grundgedanke ist aber auch schon nach geltendem Recht umsetzbar.

Dazu sollte nicht bereits mit Klagezustellung ein Verhandlungstermin bestimmt, sondern gemäß § 276 ZPO ein schriftliches Vorverfahren angeordnet werden. Der Rechtsstreit kann dann sogleich durch ein schriftliches Versäumnisurteil erledigt werden, wenn der Beklagte ­keine Verteidigungserklärung einreicht. Ist eine Klageerwiderung (und eine evtl. gebotene Replik des Klägers) eingegangen, wird ebenfalls nicht gleich zum Haupttermin geladen. Stattdessen setzt der Vorsitzende als vor­berei­tende Maßnahme i.S.v. § 273 Abs. 1 ZPO einen Erörterungstermin an, der in der Regel digital per Videoübertragung, in einfachen Fällen telefonisch, ausnahmsweise auch als persönliche Besprechung, abgehalten wird.

Dort wird nach Art einer Roadmap der Fortgang des Verfahrens festgelegt, also zum Beispiel:

  • ob einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 128 Abs. 2 ZPO) zugestimmt wird, weil die entscheidenden Rechtsfragen in den Schriftsätzen bereits ausgiebig erörtert wurden;
  • ob das Gericht einen schriftlichen Vergleichsvorschlag nach § 278 Abs. 6 ZPO unterbreiten soll;
  • ob ein Güteversuch, evtl. beim Güterichter oder in ­einem außergerichtlichen Verfahren (§ 278 Abs. 5, § 278a ZPO), sinnvoll ist;
  • ob eine vorterminliche Beweiserhebung durchgeführt werden soll (§ 358a ZPO).

Solche Absprachen können zu unstreitigen Erledigungen führen, die eine mündliche Verhandlung erübrigen.

Aber auch wenn es beim Regelfall eines mündlichen Haupttermins bleiben soll, bringt der Erörterungstermin einen erheblichen Effizienzgewinn. Besser als durch einseitige Verfügungen kann in der unmittelbaren Kommunikation zwischen Gericht und Parteivertretern auf eine umfassende Vorbereitung hingewirkt werden, zum Beispiel durch die Beiziehung von schriftlichen Unterlagen nach § 142 ZPO oder eines Gutachtens aus einem anderen Verfahren (§ 411a ZPO), die Einnahme eines Augenscheins (§ 144 Abs. 1 ZPO), die Anforderung einer schriftlichen Zeugenaussage (§ 377 Abs. 3 i.V.m. § 358a Satz 2 Nr. 3 ZPO), die Zulassung einer Teilnahme per Video (§ 128a ZPO), die Verständigung auf eine Internetrecherche und dergleichen mehr. Bei umfangreichem oder komplexem Prozessstoff kann eine sachgerechte Strukturierung oder Abschichtung (§ 139 Abs. 1 Satz 3 ZPO) abgestimmt werden. In bestimmten Fällen kann es sich auch empfehlen, den weiteren Verfahrensgang in einem Strukturtermin mit Parteivertretern und Sachverständigen festzulegen.

All dies kann per formloser Telekommunikation, also kurzfristig, ohne Belastung mit Raumproblemen und Verlegungsanträgen, geschehen; Beteiligten bleibt erspart, dass sie wegen reiner Formalverhandlungen entgegen ökonomischer und ökologischer Vernunft (ggf. sogar mehrmals) anreisen müssen. Zugleich wird Verfahrensfehlern durch Verletzung des rechtlichen Gehörs vorgebeugt, weil rechtliche Hinweise, wie von § 139 Abs. 4 ZPO gefordert, frühestmöglich, das heißt nicht erst in der mündlichen Verhandlung, erteilt werden.

Rechtliche Bedenken gegen eine derartige Verfahrens­konferenz bestehen nicht. In anderen Ländern und in der Schiedsgerichtsbarkeit ist sie ständige Praxis, auch die Modellregeln für einen Europäischen Zivilprozess (vgl. ELI/UNIDROIT, Model European Rules of Civil Procedure, Rule 61) sehen sie vor. In der deutschen Gesetzesschmiede wurde ihr Wert ebenfalls schon erkannt: Nach dem neuen § 87c Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) soll in bestimmten verwaltungsgerichtlichen Verfahren ein früher Erörterungstermin stattfinden, und nach dem Referentenentwurf eines Justizstandort-Stärkungsgesetzes ist beim künftigen Commercial Court grundsätzlich ein „Organisationstermin“ durchzuführen, in dem Vereinbarungen über die Organisation und den Ablauf des Verfahrens zu treffen sind [§ 621 ZPO-E; abrufbar hier]. Was dort obligatorisch sein soll, kann dem richterlichen Verfahrensermessen ansonsten nicht verschlossen sein. Wenn § 128a ZPO die Videoübertragung sogar für die öffentliche mündliche Verhandlung zulässt, ist sie für den nichtöffentlichen Erörterungstermin erst recht unbedenklich, ja sogar wesentlich besser geeignet, denn man benötigt hierfür weder einen Sitzungssaal noch eine perfekte Ausstattung mit Kameras und Monitoren oder Vorkehrungen zur Herstellung von Öffentlichkeit.

Pilotprojekt „Digitales Vorverfahren“

Die Justizministerkonferenz hat am 10.11.2023 beschlossen, eine Reformkommission einzuberufen, die Vor­schläge für den Zivilprozess der Zukunft erarbeiten soll. Damit es nicht bei der Pferdekutsche bleibt, muss es vor allem darum gehen, durch einen IT-gestützten Workflow die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation für einen effizienteren Verfahrensablauf nutzbar zu machen. Die frühzeitige Adjustierung durch eine informelle Verfahrenskonferenz bietet hierfür beste Voraussetzungen. Aus diesem Grund sollen mit einem Pilotprojekt Erfahrungen gesammelt werden, die in die Erarbeitung von Programmen und Musterverfügungen für ein digitales Vorverfahren eingehen können. Es werden daher Richterinnen und Richter gesucht, die bereits Erörterungstermine praktizieren oder dies vorhaben und bereit sind, über die damit gemachten Erfahrungen zu berichten. Auch Feedbacks und Vorschläge von anwaltlicher Seite wären sehr wertvoll. Näheres und Kontakt siehe hier.

 

Autor

Prof. Dr. Reinhard Greger FB Rechtswissenschaft Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Univ.-Prof. i.R. Richter am BGH a.D. regreg@t-online.de https://www.reinhard-greger.de

Prof. Dr. Reinhard Greger
FB Rechtswissenschaft Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Univ.-Prof. i.R.
Richter am BGH a.D.
regreg@t-online.de
https://www.reinhard-greger.de

 

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