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Macht, Moral und Mechanismen

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Dies ist ein auf den ersten Blick ungewöhnlicher Beitrag. Denn eine von drei Buchautorinnen berichtet über ihr eigenes Printprojekt: „Machtgebiete“.

Der zweite Blick sieht anders aus und zeigt, worum es mir geht: Als meine Co-Autorinnen Bettina Weiguny, Anna Sophie Herken und ich für das Buch „Machtgebiete“ mit über fünfzig Managerinnen, Aufsichtsrätinnen und Gründerinnen sprachen, wurde deutlich, wie eng Fragen der Gleichstellung mit Fragen der Integrität und Verantwortlichkeit verbunden sind. Fast alle berichteten von Situationen, in denen sie Fehlverhalten meldeten und keine Konsequenzen erlebten.

372 Milliarden Euro pro Jahr verliert die deutsche Volkswirtschaft, weil Frauen strukturell benachteiligt werden. Diese Zahl beschreibt nicht nur ein wirtschaftliches Defizit, sondern auch ein strukturelles Versagen in Governance und Compliance. Wenn Ungleichbehandlung, Machtmissbrauch oder stillschweigendes Wegsehen in Organisationen über Jahre bestehen, liegt das nicht an fehlenden Regeln, sondern an deren mangelnder Umsetzung.

Wenn Regeln existieren, aber niemand eingreift

In unserem Buch erzählen Managerinnen, dass sie trotz klarer Richtlinien und Compliancekodizes im Alltag kaum auf Unterstützung zählen konnten. Ein Beispiel: Einige schilderten sexuelle Belästigung durch Vorgesetzte und Kollegen, wie übergriffige Berührungen, anzügliche Bemerkungen oder unangemessene Nachrichten. Wenn sie sich schließlich anvertrauten, hörten sie häufig den Satz: „Ach, der macht das bei jeder.“ Alle wussten es, keiner handelte.

Diese Schilderungen zeigen, wie groß der Abstand zwischen formaler Compliance und gelebter Verantwortung ist. Es gibt Regeln, aber sie greifen nicht. In der Folge wird nicht das Fehlverhalten sanktioniert, sondern oft das Ansprechen selbst. Wer erlebt, dass Übergriffe folgenlos bleiben, zieht sich zurück. Schweigen wird zur Überlebensstrategie. Für eine Organisation aber ist Schweigen das größte Compliancerisiko. Denn der Code of Conduct hängt dann zwar an der Wand, aber nicht im Kopf.

Ich habe in Gesprächen schon zu oft erlebt, wie sehr sich Unternehmen auf ihre Compliancesysteme verlassen. Als wären Meldekanäle, Schulungen und Policies schon ein Beweis für Integrität. In Wirklichkeit helfen diese Systeme kaum, wenn die Kultur toxisch ist. Ein Regelwerk ersetzt kein Rückgrat. Wenn der Ton an der Spitze nicht stimmt, wird jede noch so gut gemeinte Maßnahme zur Fassade. Compliance wird dann zum Window-Dressing, das Sicherheit vorgaukelt, wo in Wahrheit Angst und Anpassung herrschen. Und am Ende sind es meist die Frauen, die gehen. Nicht weil sie „gescheitert“ wären, sondern weil sie die Widersprüche nicht mehr (er)tragen wollen.

Wenn Macht unkontrolliert bleibt

„Machtgebiete“ ist eine systemische Analyse und zeigt, dass Fehlverhalten nicht in Einzelfällen entsteht, sondern dort, wo Macht unkontrolliert bleibt. Wir haben erfahren, dass Aufsichtsräte die erste Frau im Vorstand oft mit weniger Mitteln ausstatten, dass Headhunter Frauen fragwürdige Ratschläge zum Äußeren geben und dass nach wie vor informelle Allianzen darüber entscheiden, wer wirklich mit am Entscheidungstisch sitzt.

In den Auswahlrunden werden Frauen nach ihrer familiären Situation gefragt, Männer nicht.

Ein Beispiel, das mich besonders beschäftigt hat, ist die Geschichte von Kenza Ait Si Abbou, eine deutsche Ingenieurin, Elektrotechnikerin und leitende Managerin und Expertin für künstliche Intelligenz und Robotik. Sie berichtete, dass sie nach der Geburt ihres Kindes in Bewerbungsgesprächen immer wieder gefragt worden ist, ob sie mit einem kleinen Kind so viel Verantwortung tragen könne. Schließlich strich sie das Wort „Mutter“ aus ihrem Lebenslauf. Erst dann nahm man sie wieder als Ingenieurin wahr.

Diese Mechanismen sind kein Kommunikationsproblem, sondern ein Compliancethema. Denn sie verletzen das Prinzip der Gleichbehandlung, das in jedem Governancesystem verankert sein sollte.

Diskriminierung als Governancefrage

Headhunter drücken Frauen häufig den Stempel „schwierig“ auf. Männer mit identischer Haltung gelten als „selbstbewusst und entscheidungsstark“. Diese stereotype Verzerrung zieht sich durch viele Ebenen: Frauen werden an Ergebnissen gemessen, Männer an Potential.

Im Buch belegen wir, dass sich diese ungleichen Bewertungsmaßstäbe bis in die höchsten Führungsetagen fortsetzen. In einem der geschilderten Fälle ist einer Managerin offen gesagt worden, sie werde „nicht befördert, weil sie eine Frau ist“. Solche Erlebnisse sind kein Randphänomen, sondern Ausdruck einer systemischen Schieflage.

Compliance bedeutet, gleiche Maßstäbe für alle anzulegen: nicht nur auf dem Papier, sondern in jedem Auswahlverfahren, in jeder Entscheidung und in jeder Form der Kontrolle.

Wenn Fortschritt wieder verhandelbar wird

Mehrere Managerinnen berichten im Buch von einem neuen Gegenwind. Diversityziele werden gestrichen, Gleichstellungsprogramme umbenannt, Abteilungen aufgelöst. Das Argument lautet, man habe die Quote erreicht. Oder wie eine Managerin es treffend formulierte, wird gesagt: „Jetzt haben wir die Zahlen erreicht. Nun haltet die Luft an, Mädels. Was wollt ihr denn noch?“

Tatsächlich erleben wir, dass Gleichstellung wieder in Frage gestellt wird. Wir zitieren Stimmen, die beschreiben, wie sich der Diversity-Backlash aus den USA nach Europa verlagert. Vielfalt wird zum Risikothema erklärt, statt als Teil von Unternehmensintegrität verstanden zu werden. Aber wenn Organisationen Fortschritt zu einer Stimmungsfrage machen, verlieren sie daher ihre ethische und wirtschaftliche Stabilität. Eine starke Compliance darf sich nicht nach dem politischen Klima richten, sondern nach Prinzipien.

Gleichstellung ist kein Projekt, das man abschließen kann. Sie ist ein dauerhafter Auftrag, nicht nur aus juristischer Compliancesicht, sondern auch kulturell und vor allem ökonomisch.

372 Milliarden Euro: Der Preis der Ungleichheit

Immer wieder erleben wir in Compliancediskussionen um „das Richtige“, dass moralische Argumente leider nicht durchdringen. Und wie im Unternehmenskontext, in dem es auch immer um den Return on Investment (ROI) von Maßnahmen geht, haben wir deshalb Preisschilder an das Thema geheftet: Wir haben in einer umfangreichen Formel berechnet, dass Deutschland jedes Jahr rund 372 Milliarden Euro an Wertschöpfung verliert, weil Frauen seltener erwerbstätig sind, weniger Führungspositionen innehaben, schlechter bezahlt werden und ihre Innovationskraft nicht voll entfalten können. Diese Summe entspricht fast 9% des Bruttoinlandsprodukts.

Gleichstellung ist damit kein moralisches Zusatzthema, sondern eine Compliance- und Governancefrage mit unmittelbarer Wirkung auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, sowohl im gesamtgesellschaftlichen Kontext als auch auf individueller Firmenebene. Unternehmen, die Vielfalt in ihre Steuerungsmechanismen integrieren, reduzieren Risiken, fördern bessere Entscheidungen und sichern langfristig ihre Wettbewerbsfähigkeit.

Mut als Organisationsprinzip

Was mich bei allen Gesprächen bei der Erstellung von „Machtgebiete“ am meisten beeindruckt hat, war der Mut dieser Frauen. Sie haben erlebt, wie ihnen Grenzen gesetzt worden sind, wo keine sein sollten, und sie haben dennoch gesprochen, obwohl Schweigen bequemer gewesen wäre. Doch Mut darf keine Einzelentscheidung bleiben. Organisationen müssen Strukturen schaffen, die diesen Mut schützen. Dazu gehören unabhängige Vertrauensstellen, sichere Hinweisgebersysteme, dokumentierte Verfahren und vor allem auch sichtbare Konsequenzen. Integrität entsteht erst, wenn Fehlverhalten Folgen hat, und zwar für alle, unabhängig von Rang oder Geschlecht.

Vom Kodex zur Kultur

Regeln allein verändern keine Kultur. Erst wenn Verhalten gemessen, bewertet und belohnt wird, entsteht Glaubwürdigkeit. Deshalb brauchen wir:

  • transparente Beförderungsentscheidungen
  • nachvollziehbare Bonus- und Zielsysteme
  • verpflichtende Bias-Trainings für Führungskräfte
  • Integritätsziele als Bestandteil der Leistungsbewertung

Compliance ist nicht die Abteilung, die Regeln schreibt, sondern die, die Werte schützt!

Fazit: Macht ist eine Compliancefrage

„Machtgebiete“ ist deswegen kein Buch nur über Frauen. Es ist ein Buch über Systeme. Es zeigt, dass Machtverteilung, Gleichstellung und Integrität untrennbar miteinander verbunden sind. Wer Compliance ernst nimmt, muss fragen, wie Macht entsteht, wie sie genutzt wird und wer sie kontrolliert.

Und deswegen ist es auch nicht nur ein Buch für Frauen, sondern für alle Verantwortlichen im System. Unabhängig davon, auf welcher Karrierestufe sie aktuell stehen. In den Worten einer unserer Gesprächspartnerinnen: „Wir reden viel über Compliance. Aber solange Frauen, die Fehlverhalten melden, schweigend abgestraft werden, haben wir keine Kultur der Integrität.“

Wo Macht ohne Kontrolle bleibt, verliert Compliance ihre Bedeutung. Echte Integrität zeigt sich dort, wo Verantwortung stärker ist als Privileg. ß

Hinweis der Redaktion:
Unsere Autorin ist seit vielen Jahren Fachbeirätin des in der Produktfamilie Deutscher AnwaltSpiegel seit 2015 erscheinenden Online-Magazins ComplianceBusiness. Sie ist Co-Autorin des Buches „Machtgebiete“, das sie gemeinsam mit der Wirtschaftsjournalistin Bettina Weiguny, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, und Anna Sophie Herken, Vorständin und Multi-Aufsichtsrätin, verfasst hat. Das Buch ist 2025 im Campus Verlag erschienen. (tw)

Autor

Christina Sontheim-Leven Aufsichtsrätin, Karrierementorin, Düsseldorf

Christina Sontheim-Leven

Aufsichtsrätin, Karrierementorin, Düsseldorf


christina.sontheim@web.de