Einleitung
Was soll ein Fahrzeug können, und welche Leitplanken gibt es? Mit dieser Frage lassen sich unzählige Problemstellungen in der Automobilindustrie zusammenfassen. Ein Industriezweig, dessen deutsche Vertreter allein im Jahr 2019 einen Umsatz von 436,2 Milliarden Euro (siehe hier) erzielt haben, befindet sich seit Jahren in einem noch nicht dagewesenen technologischen Wandel. Getrieben durch neue Marktteilnehmer aus den USA und China und durch den kritischen Blick der Kunden, Umweltorganisationen und nicht zuletzt der Behörden, müssen Hersteller beweisen, dass sie technologisches Neuland rasant erobern und zugleich damit einhergehende Risiken wirksam minimieren können. Hierbei spielt die Erwartungshaltung der Kunden, aber auch der Gesetzgeber eine große Rolle. Der „Kunde von heute“ mit seinen Vorstellungen von Mobilität – insbesondere in den Ballungszentren – und politisch gewachsene Anforderungen an Sicherheit und Umwelt werden ungefiltert an Hersteller und Zulieferer weitergegeben. Parallel rüstet sich der Gesetzgeber gegen mögliche Verfehlungen der Unternehmen, indem er ein Sanktionsrecht für Unternehmen in Deutschland einführt, das weit über die bisherige Gesetzgebung hinausgeht.
Vor diesem Hintergrund ist die Anpassung bestehender Compliancemanagementsysteme (CMS) hinsichtlich Technical Compliance unausweichlich. Die Herausforderung besteht darin, solche Systeme entlang der Zulieferketten zu harmonisieren und die Agilität in der Entwicklung nicht einzuschränken. Hierfür bieten bewährte Standards wie auch die bisherigen Compliancemanagementaktivitäten eine gute Grundlage, es zeigt sich aber auch, dass weiterer Handlungsbedarf besteht.
Komplexe und dynamische Vorgaben
Der Katalog der rechtlichen Anforderungen an Fahrzeuge, die in den Verkehr gebracht werden sollen, ist nicht nur vielfältig und komplex, sondern er verändert sich auch je nach geplantem Absatzmarkt.
Aus Kundensicht entscheiden vor allem folgende Kriterien (siehe hier) über den Kauf von Fahrzeugen:
- Zuverlässigkeit und Sicherheit
- Preis-Leistungs-Verhältnis
- Umweltfreundlichkeit
- Bedienung und Technik
Insbesondere umweltbezogene Aspekte haben bei der Kaufentscheidung in den vergangenen Jahren auch über den B2C-Bereich hinaus an Gewicht gewonnen. Dabei spielen nicht nur Verbrauch und Emissionen eine Rolle, sondern beispielsweise auch die Verwendung nachhaltiger Materialien und das Recycling bei Stilllegung des Fahrzeugs. Ebenso in den Fokus gerückt sind die Geräuschemissionen. Diese werden, vergleichbar mit den Abgasen, in Form von Grenzwerten in einer EU-Verordnung geregelt und phasenweise (nach Jahren) weiter eingeschränkt. Die Hersteller müssen hier – ähnlich wie bei den Abgasen – in entsprechenden Prüfverfahren die Konformität mit den vorgegebenen Grenzwerten nachweisen, um eine Zulassung für den Betrieb der Fahrzeuge im Straßenverkehr zu erhalten.
Die Anforderungen entlang der Wertschöpfungs- sowie Zulieferkette sind nicht für alle Beteiligten gleich. Hersteller müssen bereits im Rahmen des Anforderungsmanagements die komplexen gesetzlichen Vorgaben und Grenzwerte für Fahrzeuge berücksichtigen. Diese Vorgaben fließen in die entsprechenden Lasten- und Pflichtenhefte ein.
Zulieferer sehen sich dann „lediglich“ mit den Anforderungen an das zu liefernde Bauteil konfrontiert. Dabei verschiebt sich der Druck von komplexen rechtlichen Anforderungen hin zu den Themen Kosten und Zeit. Die Abbildung zeigt diese Veränderung entlang der Zulieferkette. Der Kosten- und Zeitdruck ist umso höher, je weiter der Zulieferer vom Hersteller entfernt ist. Letzterer wiederum sieht sich dem gesamten Anforderungsspektrum gegenüber.
Risikofelder bei der Fahrzeugentwicklung
Im Spannungsfeld von dynamischen komplexen Anforderungen und ökonomischen Interessen ergeben sich diverse Risikofelder. Diese können je nach Organisationsstruktur und Prozesslandschaft unterschiedlich ausgeprägt sein, haben aber in der gesamten Automobilbranche eine hohe Relevanz.
Das Anforderungsmanagement, das die technischen und regulatorischen Anforderungen berücksichtigt, ist ein sehr komplexer Bestandteil der Fahrzeugentwicklung. Hier treffen Erwartungshaltungen an das zukünftige Fahrzeug in technischer und funktioneller Sicht (Kunden) auf gesetzliche Anforderungen (Regulatoren). Dabei sind die Vorgaben im Bereich der technischen Compliance oftmals aus allgemeinen Grundsätzen abgeleitet und überwiegend nicht funktional definiert. Somit sind sie bei der Implementierung und im späteren Funktionstest schwerer erfassbar. Es besteht das Risiko, dass die Anforderungen in der Phase der Lasten- und Pflichtenhefterstellung nicht ausreichend detailliert worden sind und keine hinreichende funktionale Verfeinerung vorgenommen wurde.
Falsche oder fehlende Schnittstellen können sowohl in technischer als auch in organisatorischer Form ein Risiko darstellen. Aus technischer Sicht beispielsweise hat der Integrationstest das Abprüfen von Schnittstellen im Fokus und weniger funktionale Tests. Es besteht das Risiko, dass ein Nichtbeachten der technischen Compliance in diesem Prozessschritt fälschlicherweise vorhandene Zusatzsoftware und -funktionen „passieren“ lässt, die mit anderen Systemen kommunizieren.
Organisatorische Schnittstellen umfassen im Wesentlichen die interne und externe Einbeziehung und Abstimmung bestimmter Rollen und Funktionen. Dies gilt insbesondere in der Zulieferkette, wenn der Zulieferer die Anforderungen nicht hinreichend validiert, etwa aus Zeitgründen oder aufgrund von fehlender Expertise oder Rechtskenntnis. Und selbst bei der Feststellung von Unstimmigkeiten können Risiken wegen einer nicht adäquaten Abstimmung unbemerkt weitergeführt werden.
Zeitliche und ökonomische Drucksituationen verschärfen sich entlang der Zulieferkette (siehe dazu die Abbildung auf S. 11) und erzeugen dabei neue Zielkonflikte. Die schnelle Entwicklung von Funktionalitäten und die Erwartungen an den Entwicklungsumfang lassen aufgrund zeitlicher und ökonomisch festgelegter Meilensteine notwendige Complianceaktivitäten in den Hintergrund treten.
Zielstellung und Bedeutung von Technical-Compliance-Management
Technical-Compliance-Management stellt ein Instrument des zielgerichteten, bewussten Handelns zur Einhaltung gesetzlicher und regulatorischer Anforderungen nach ethischen, aber auch nach unternehmenseigenen Grundsätzen im Rahmen des Fahrzeugentwicklungsprozesses dar. Mit dieser Zielstellung steigt die Bedeutung von technischer Compliance vor dem Hintergrund gesetzlicher Bestrebungen, ein Sanktionsrecht für Unternehmen in Deutschland einzuführen. Bestehende CMS zielen auf die nachweisliche Einhaltung unternehmensrelevanter Vorgaben ab, reichen aber in der Regel nicht aus, um konkrete Risiken und Risikofelder im Rahmen der Fahrzeugentwicklung abzudecken. Ein Vorstoß in Richtung Technical Compliance ergibt sich deshalb nicht zuletzt auch aus dem Risikomanagement heraus, wonach die Geschäftsführung von Kapitalgesellschaften gesetzlich verpflichtet ist, ein Risikomanagementsystem (etwa Technical-Compliance-Management) zu unterhalten und mit dessen Hilfe Geschäftsrisiken transparent, kontrollierbar und steuerbar zu machen. Für die Wirksamkeit solcher Systeme spielt allerdings auch die Harmonisierung entlang der Zulieferkette eine entscheidende Rolle, wobei der Grat zwischen Transparenz und gewerblichem Rechtsschutz schmal ist.
Zusammenfassung
Bei für die Straße zugelassenen Fahrzeugen muss ein Gleichgewicht aus technologischem Fortschritt und nachhaltigen Anforderungen bestehen. Vor allem Letzteres stellt mit Blick auf ökologische und sicherheitsrelevante Anforderungen durch Regulatoren, aber verstärkt auch durch Kunden die Unternehmen in der gesamten Branche vor große Herausforderungen. Das Spannungsfeld aus Machbarkeit und Restriktion ist vielschichtig und wird sich stetig verändern – ebenso wie sich Technologien und gesetzliche Vorgaben weiterentwickeln werden. Hierfür bedarf es eines Managementsystems, das in der Tiefe und Dynamik eine entsprechende Wirksamkeit entfalten kann. Die Agilität eines Technical CMS erlaubt es, zielgerichteter auf Anforderungsfeinheiten zu reagieren, als es beispielsweise bei einem unternehmensweiten Risikomanagementsystem der Fall ist. Perspektivisch wird sich Technical Compliance fest verankern und die Compliancestandards im Bereich der Fahrzeugentwicklung branchenweit erhöhen.