Die Insolvenz der einst zweitgrößten Fluggesellschaft Deutschlands Air Berlin in der Reisezeit im August 2017 dürfte vielen noch in Erinnerung sein. Durch einen Übergangskredit des Bundes konnte der Flugbetrieb zunächst aufrechterhalten werden, so dass Urlauber keiner (unfreiwilligen) Verlängerung ihres Aufenthalts am Urlaubsort entgegensehen mussten. Ende November 2017 kam es dann zur Stilllegung des Flugbetriebs, im Zuge dessen die Airline sämtlichen Piloten und dem übrigen Personal kündigte. Mittlerweile ist klar: Nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13.02.2020 (6 AZR 146/19) war die Kündigung des klagenden Piloten wegen einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige unwirksam. Erneut zeigt sich die Komplexität der Massenentlassungsanzeige, da nicht zuletzt auch der europarechtliche Hintergrund des § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) zu beachten ist. Fehler können hier gravierende Auswirkungen haben, da eine Vielzahl von Kündigungen betroffen sein kann.
Sachverhalt
Die Parteien stritten unter anderem um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung. Die Fluggesellschaft,die ihren Sitz in Berlin hatte, unterhielt an mehreren Flughäfen sogenannte Stationen, denen (soweit erforderlich) Cockpit-, Kabinen- und Bodenpersonal zugeordnet war. Der Kläger war an der Station Düsseldorf tätig. Vor den Kündigungen des Cockpitpersonals erstattete Air Berlin am 24.11.2017 eine Massenentlassungsanzeige bei der für den Sitz der Gesellschaft zuständigen Agentur für Arbeit Berlin-Nord. Die Anzeige betraf den angenommenen „Betrieb Cockpit“, bezogen auf das bundesweit beschäftigte Cockpitpersonal. Air Berlin ging davon aus, dass es aufgrund der zentralen Einsatzplanung des Personals aus Berlin heraus nur einen Betrieb gäbe und eben nicht noch einen weiteren in Düsseldorf. Ferner trennte man das Cockpitpersonal vom übrigen Personal. Dieses Verständnis beruhte auf den bei Air Berlin tarifvertraglich getrennt organisierten Vertretungen für das Boden-, Kabinen- und Cockpitpersonal. Der Kläger bestritt die Stilllegungsentscheidung sowie die soziale Rechtfertigung der Kündigung. Der Flugbetrieb werde durch andere Gesellschaften teilweise fortgeführt, weshalb eine Sozialauswahl hätte durchgeführt werden müssen. Zudem sei die Massenentlassungsanzeige fehlerhaft. Die Vorinstanzen hatten die Klage abgewiesen. Die Revision hingegen war erfolgreich. Das BAG prüfte die Frage der Rechtmäßigkeit der Kündigung als solche nicht, da es bereits die Massenentlassungsanzeige als fehlerhaft ansah.
Die Entscheidung des BAG
Die Anzeige war schon deswegen fehlerhaft, weil sie bei der zuständigen Agentur für Arbeit in Düsseldorf hätte eingereicht werden müssen. Ferner hätte sie sich auf das gesamte Personal der Station beziehen müssen. Nach Ansicht des BAG handelt es sich bei den Stationen – entsprechend einem unionsrechtlich auszulegenden Betriebsbegriff des § 17 Abs. 1 KSchG – um Betriebe im Sinne dieser Norm. Air Berlin habe den maßgeblichen Betriebsbegriff verkannt und deswegen die Anzeige für den falschen Betrieb bei einer unzuständigen Agentur für Arbeit erstattet. Gemäß § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG muss die Anzeige unter anderem neben Angaben über die Art des Betriebs auch Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer enthalten. Folglich hätte die Anzeige nicht auf das Cockpitpersonal beschränkt sein dürfen.
„Station“ als „Betrieb“ ? Alles ist relativ – je nach Rechtsquelle!
Gemäß § 17 Abs. 1 KSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er einen gesetzlich definierten Prozentsatz der in einem Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt.
Der Begriff „Betrieb“ ist in § 17 KSchG nicht definiert. Da das deutsche Arbeitsrecht auch im Übrigen keine gesetzliche Definition des Begriffs enthält, hat das BAG im Zusammenhang mit den Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) eine Definition entwickelt, die auch im Rahmen der Anwendung anderer Gesetze stets herangezogen wird. Demnach ist Betrieb als die organisatorische Einheit anzusehen, innerhalb derer der Unternehmer allein oder zusammen mit seinen Mitarbeitern mit Hilfe sächlicher oder immaterieller Mittel bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. Für den Betriebsbegriff kommt es dabei in erster Linie auf die Einheitlichkeit der betrieblichen Organisationsstruktur an, die von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert wird. Da der Flugbetrieb zentral aus Berlin gesteuert wurde und eine tarifvertraglich getrennt organisierte Vertretung des Boden-, Kabinen- und Cockpitpersonals bestand, nahm man wohl im Sinne dieser Auslegung einen „Betrieb Cockpit“ für das bundesweit beschäftigte Cockpitpersonal an, zumal es an den Stationen auch keine Leitungsfunktion in personellen und sozialen Angelegenheiten gab.
Keine Anwendung des rein aus nationalem Recht determinierten Betriebsbegriffs
Der deutsche Gesetzgeber hat unter anderem mit § 17 KSchG die Richtlinie 98/59/EG, die sogenannte Massenentlassungsrichtlinie, ins deutsche Recht umgesetzt. Nach der Rechtsprechung des EuGH handelt es sich bei dem auch in der Massenentlassungsrichtlinie nicht definierten Betriebsbegriff um einen unionsrechtlichen Begriff, der nicht anhand der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten bestimmt werden kann. Somit kann sich die Auslegung des Begriffs „Betrieb“ in § 17 KSchG nicht an der seitens des BAG geschaffenen Definition orientieren. Dem EuGH nach wird das Arbeitsverhältnis im Wesentlichen durch die Verbindung zwischen dem Arbeitnehmer und dem Unternehmensteil gekennzeichnet, dem er zur Erfüllung seiner Aufgabe angehört. Der Begriff „Betrieb“ ist deshalb dahingehend auszulegen, dass er nach Maßgabe der Umstände die Einheit bezeichnet, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgabe angehören. Ob die Einheit eine Leitung hat, die selbständig Massenentlassungen vornehmen kann, ist danach nicht entscheidend.
Eine Divergenz, die sich auswirkt!
Für den Betriebsbegriff der Massenentlassungsrichtlinie ist es somit ohne Belang, dass die Beschäftigtengruppen kollektivrechtlich in anderen Vertretungsstrukturen eingeordnet waren. Durch die Anzeige soll der Agentur für Arbeit die Möglichkeit gegeben werden, rechtzeitig vorbereitend den Auswirkungen der Massenentlassung entgegenzuwirken. Da sich Auswirkungen einer Massenentlassung an der Station Düsseldorf gerade dort zeigen, hätte die Anzeige in Düsseldorf gestellt werden müssen. Ausgehend vom Zweck des § 17 KSchG, enthält Abs. 3 Satz 4 Vorgaben der zwingend in der Anzeige zu machenden Angaben, wie etwa die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum der Kündigungen, sowie Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. Die Anzeige hätte sich somit zwingend auch auf das übrige dem Standort Düsseldorf zugewiesene Personal beziehen müssen. Die Verkennung des Betriebsbegriffs und die Unvollständigkeit der Anzeige bewirken die Unwirksamkeit der betroffenen Kündigungen. Mit Urteil vom 14.05.2020 (6 AZR 235/19) hat das BAG diese Entscheidung auch für das Kabinenpersonal bestätigt.
Praxishinweis
Die Begründung des Urteils bleibt abzuwarten. Erneut zeigt sich, dass die Massenentlassungsanzeige ein besonderes Augenmerk erfordert, da falsche Annahmen gravierende wirtschaftliche Auswirkungen haben können. Der der Massenentlassungsanzeige zugrundeliegende Betriebsbegriff wird durch die Vorgaben der Europäischen Massenentlassungsrichtlinie geprägt. Der unionsrechtliche Betriebsbegriff ist in vielen Fällen deutlich weiter zu verstehen als der Betriebsbegriff nach deutschem Recht. So kann etwa eine Einheit auch dann als Betrieb eingestuft werden, wenn sie über keine maßgebliche wirtschaftliche oder verwaltungstechnische Selbständigkeit verfügt. Es sollte stets genau geprüft werden, welche Einheit ein Betrieb in diesem Sinne darstellen könnte, was bei Zweifelsfällen zu einer doppelten Anzeigeerstattung führen kann. Die Vorinstanzen hätten sich dieser Besonderheiten bewusst sein können, da auch der Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne des § 17 KSchG anders definiert wird. So wird gemäß Entscheidung des EuGH vom 09.072015 (C 229/14) auch ein Geschäftsführer als Arbeitnehmer bei den Schwellenwerten des § 17 KSchG mitgezählt. Geraden in der jetzigen Zeit, in der aufgrund der angespannten Wirtschaftslage mit vielen Kündigungen krisengebeutelter Unternehmen zu rechnen ist, ist ein sicherer Umgang mit den Regelungen zur Massenentlassungsanzeige unerlässliche Voraussetzung.
Laura.engelmann@kallan-legal.de