Ausgangslage: Die Arbeitswelt ist virtuell – doch der Betriebsrat nicht
Was seit Jahren im Management, in Kundengesprächen, aber auch im Gespräch zwischen Mitarbeitern gängige Praxis ist, sich virtuell zu besprechen und auch zu verhandeln, ist im Betriebsverfassungsrecht ein Fremdwort geblieben. Nach den Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes sind Sitzungen der betriebsverfassungsrechtlichen Gremien nicht öffentlich. Beschlüsse werden „mit der Mehrheit der anwesenden Mitglieder gefasst“. Dies gilt natürlich für den Betriebsrat, den Gesamtbetriebsrat und den Konzernbetriebsrat, aber auch für die betriebliche Jugendvertretung sowie die Einigungsstelle.
Gerade der Gesichtspunkt der „Nichtöffentlichkeit“ sowie das Stichwort „anwesend“ gelten nach wohl herrschender Meinung als Hindernis für Beratung und Beschlussfassung per Telefon- oder Videokonferenz. Bei einer solchen Zusammenkunft sei nicht sichergestellt, dass Dritte nicht von den Inhalten Kenntnis erlangen könnten oder gar – unbemerkt – gezielt hinzugezogen würden.
Beschlüsse, die unter Nichtbeachtung dieser Grundsätze zustande kommen, gelten als „nichtig“ – was einschneidende Folgen haben kann, wenn zum Beispiel der Betriebsrat zur Einführung von Kurzarbeit Beschlüsse fasst. Ein solch fehlerhafter Beschluss, der einer Betriebsvereinbarung zugrunde liegt, entfaltet gegenüber betroffenen Arbeitnehmern keine Wirkung, was in der derzeitigen Lage fatale Folgen haben kann. Es reicht eben nicht, wenn Arbeitgeber und Betriebsrat meinen, „ganz pragmatisch“ einverständlich auf die „Förmelei“ der „persönlichen Anwesenheit“ verzichten zu können. Es liegt hier gerade im Interesse der Arbeitgeber, dass die Formvorschriften eingehalten werden. Die Sitzung des Betriebsrats durch „Zusammenschaltung“ verschiedener „Home-Offices“ ist rechtlich bisher nicht möglich.
Änderung in Sicht – aber nur begrenzt!
Nun aber ist es so weit – am 15.05.2020 hat der Bundesrat der vom Bundestag am 23.04.2020 beschlossenen Gesetzesänderung zugestimmt, wonach rückwirkend (!) zum 01.03.2020 gesetzlich geregelt werden soll, dass – so bestimmt es ein neuer §129 BetrVG – eine Beschlussfassung mittels Video- und Telefonkonferenz erfolgen kann, wenn sichergestellt ist, dass Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können. Wermutstropfen ist, dass diese Regelung nur befristet bis zum 31.12.2020 gelten soll, positiv hingegen, dass Formmängel von Beschlüssen rückwirkend ab dem 01.03.2020 geheilt werden, also Rechtssicherheit geschaffen wird. Der Übergangscharakter der Regelung zeigt sich schon daran, dass sie in einen §129 eingefügt wird, der sich im Abschnitt „Übergangs- und Schlussvorschriften“ des BetrVG befindet, nicht etwa im dritten Abschnitt „Geschäftsführung des Betriebsrats“.
Die Rückwirkung ist gerade im Zusammenhang mit der Einführung von Kurzarbeit wichtig, da hier viele Betriebe bereits im März entsprechende Vereinbarungen mit dem Betriebsrat schließen mussten. Sofern ein Betriebsrat in diesem oder anderem Zusammenhang virtuelle Beschlüsse gefasst haben sollte, sind diese nun unstreitig wirksam. Es drohen im Hinblick auf Kurzarbeit keine Rückforderung der Agentur für Arbeit für bereits ausgezahltes Kurzarbeitergeld oder aber eben Forderungen der Arbeitnehmer auf ungekürzte Zahlung von Vergütungen.
Die Regelung im Einzelnen
Das BetrVG wird um einen neuen § 129 ergänzt. Danach können nun sowohl die Teilnahme an Sitzungen als auch die Beschlussfassung des Betriebsrats, Gesamtbetriebsrats, Konzernbetriebsrats, der Jugend- und Auszubildendenvertretung, der Gesamtjugend- und Auszubildendenvertretung und der Konzernjugend- und Auszubildendenvertretung sowie des Wirtschaftsausschusses mittels Video- und Telefonkonferenz erfolgen. Auch Betriebsversammlungen können künftig mittels audiovisueller Einrichtungen durchgeführt werden. Ebenfalls gilt dies für Sitzungen der Einigungsstelle. Entsprechende Regelungen sind auch im Sprecherausschussgesetz sowie im Europäischen Betriebsräte-Gesetz vorgesehen. Das Gesetz bestimmt nicht, dass diese Form nur nachrangig zu persönlichen Treffen ist – sie ist also gleichrangige Alternative.
Grundvoraussetzung der Verwendung dieser Kommunikationsformen ist, dass sichergestellt wird, dass der Grundsatz der „Nichtöffentlichkeit“ der Sitzungen gewahrt wird, also Dritte sowie nicht Teilnahmeberechtigte keine Kenntnis nehmen können. Eine Aufzeichnung der Sitzungen ist explizit verboten, obwohl eine solche bei physischen Betriebsratssitzungen zu Protokollzwecken anerkannt wird. Außerdem gilt die gesetzliche Regelung, nach der die Anwesenden ihre Teilnahme an einer Sitzung in eine Teilnehmerliste eintragen, mit der Maßgabe, dass die Teilnehmer ihre Anwesenheit gegenüber dem Vorsitzenden in Textform bestätigen. In „Textform“ ist eine Erklärung abgegeben, wenn dies beispielsweise per E-Mail oder Telefax, aber auch per SMS erfolgt, jedenfalls per Datenträger, der eine Speicherung ermöglicht. Also modernisiert sich das Betriebsverfassungsrecht auch an dieser Stelle.
Diese Sonderregelungen sind bis zum 31.12.2020 befristet.
Ausblick
Diese Veränderung in Krisenzeiten ist zu begrüßen. In Zeiten, in denen viele verstärkt aus dem Home-Office heraus arbeiten, von Reisen eher abgeraten wird, auch Hotels nur begrenzt zur Verfügung stehen, wäre das Festhalten an alten Regelungen sowie deren Interpretation nahezu schädlich, da viele Maßnahmen, die jetzt zu treffen sind, auch in Bezug zum Beispiel auf Arbeitsplatzsicherheit, mitbestimmungspflichtig sind. Die Umsetzung solcher Maßnahmen darf nicht an Formvorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes scheitern. So weit, so gut.
Hilfestellung, welche datentechnischen Anforderungen an die Systeme zu stellen sind, die hier die Vertraulichkeit der Sitzungen sichern sollen, gibt der Gesetzgeber jedoch nicht. Wie ist es mit Systemen, gegen die teilweise bezüglich Datenschutzes Bedenken geäußert werden? Sind diese Fragen Einfallstore für Anfechtungen? Arbeitgeber und die entsprechenden Gremien sind jedenfalls gut beraten, wenn sie sicherstellen, dass die Teilnehmer bestätigen, dass sie „ungestört“ an den Sitzungen und der Beschlussfassung teilgenommen haben. Dies kann gegebenenfalls zusammen mit der Teilnahmebestätigung in Textform erfolgen. Das setzt zum Beispiel voraus, dass der teilnehmende Betriebsrat während der Sitzung sich nicht in einem Raum seiner Wohnung befindet, in dem sich gleichzeitig das „Familienleben“ abspielt. Damit wäre die Vertraulichkeit nicht gewahrt. Je wichtiger der Beschlussgegenstand ist, desto penibler sollte darauf geachtet werden.
Aber auf den Arbeitgeber kommen eventuell auch andere Fragen zu. Wenn beispielsweise in einem Betrieb mit vielen Produktionsmitarbeitern diese über kein dienstliches Telefon oder dienstliches Laptop verfügen – ist der Arbeitgeber dann verpflichtet, die notwendigen Geräte zur Verfügung zu stellen, oder darf der Betriebsrat auf seine privaten Telefone und Laptops verwiesen werden? Und wie, wenn die Software auf dem privaten Laptop nicht ausreichend sicher ist? Alle diese Fragen bedürfen der Klärung.
Bedauerlich ist die zeitliche Limitierung bis zum Ende des Jahres. Zum einen mag jedoch eine Verlängerung je nach Verlauf der Pandemie im Raum stehen, zum anderen aber vielleicht auch, dass diese Ausnahmeregel eine dauerhafte wird, wenn erkannt wird, dass auch die Abhaltung einer Sitzung „audiovisuell“ möglich ist, gerade wenn der Gegenstand der Sitzung nicht von einer Bedeutung ist, die persönliche Anwesenheit erfordert. Und ein Nebenaspekt – viele unnötige Reisen mit An- und Abfahrten an Vor-und Folgetagen zu einer Sitzung, die gerade bei Sitzungen von Gesamt- und Konzernbetriebsräten nicht immer zur Freude der Arbeitgeber erfolgen, mögen obsolet werden. Somit ergeben sich auch positive Nebeneffekte für die Nachhaltigkeit des Unternehmens sowie die Kostenbelastung durch die Betriebsratsarbeit. Festzuhalten bleibt, dass – so unschön sie auch ist – die Pandemie auch in diesem Punkt einen Anlass gibt, tradierte Formen im Rahmen des heute technisch Möglichen zu überprüfen. Es bleibt somit zu hoffen, dass die Regelung bald in den dritten Abschnitt des Gesetzes verlegt wird – dorthin, wo sie hingehört.
Christian.bloth@kallan-legal.de