Warum wir eine Kollaborationsplattform für den gesamten Rechtsmarkt brauchen

Von Kai Jacob

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Zugang zum Recht für jedermann

Der Zugang zum Recht ist Menschenrecht und damit eine der größten Errungenschaften unserer Gesellschaft. Doch wie verändert sich dieser Zugang zum Recht in Zeiten der sich rapide ausbreitenden Digitalisierung?

Nehmen wir das Beispiel einer Flugreise: Zahllose Portale stellen Übersichten der Flugreisen, der Flugzeiten und -preise sowie der Reisekonditionen bereit. Im Fall der Verspätung kann der Betroffene seine Rechte zwar selbst gegenüber der Fluglinie geltend machen – aber wer das einmal probiert hat, weiß auch, was das bedeutet: Man schreibt die Fluglinie an und wartet, wartet, wartet … bis man irgendwann entnervt aufgibt. Abhilfe schaffen nun Portale wie Flightrights (www.flightrights.de): Man gibt seine Reiseinformationen ein, und wenige Minuten später, nach automatisierter Prüfung, Authen­tifizierung und Beauftragung, wird eine Überweisung der Gutschrift (Schadensersatz abzüglich Kosten) ausgelöst.

Portale schließen hier also eine Lücke, die der Rechtsstaat nicht zu schließen vermochte. Gleiches gilt für die Prüfung von Bescheiden, für den Onlinekauf von Produkten und für den einfachen Rechtsrat. Aber macht das wirklich Sinn? Ist es wünschenswert, dass für jedes Problem ein neues Portal entsteht?

Ähnlich wie für Privatpersonen sieht es für kleine und mittlere Unternehmen aus, die über keine eigene Rechtsabteilung verfügen [siehe von Alemann, in: Kai Jacob et. al. (eds), Liquid Legal – Transforming Legal into a Business Savvy, Information Enabled and Performance Driven Industry, Springer, Heidelberg 2016]. Auch diese können nicht für jedes rechtliche Problem ihre Anwaltskanzlei kontaktieren. Aber woher soll der Rechtsrat dann kommen? – Auch hier bieten Portale Abhilfe, indem Kanzleien ihre Services online anbieten können.

Und wie finden wir diese Portale? Es sind die Suchmaschinen, die uns den Zugang zum kommerziellen Rechtsmarkt eröffnen, indem sie Mandanten und Anwälte, Konzerne und Kanzleien, Kunden und Lieferanten von rechtlichen Dienstleistungen und Produkten zusammenbringen. Überspitzt gesagt, könnte man behaupten, der Zugang zum Recht liegt in den Händen von Google.

Kollaboration der Teilnehmer des Rechtsmarkts

Aber auch die Anwälte und Mitarbeiter von Rechtsabteilungen, die Einkäufer und Contract-Manager, die Verträge verhandeln, Beschwerden bearbeiten, Streitigkeiten beilegen möchten oder Prüfaufträge bearbeiten (beispielsweise im Rahmen einer Due Diligence), stehen vor großen Herausforderungen.

Innerhalb des Unternehmens gibt es Prozesse und Tools, die die Zusammenarbeit stark erleichtern. Probleme entstehen jedoch dann, wenn externe Beteiligte dazukommen: Kleine Verträge kann man noch per Mail austauschen – für größere Datenvolumina braucht man schon einen gemeinsam genutzten Server. In der Praxis führt das zu einem enormen Mehraufwand, weil niemand sicher sein kann, dass die Gegenseite keine Änderungen am Dokument vorgenommen hat – und jeder daher seine eigenen Datenablageprozesse beibehalten möchte.

Nutzenszenarien für mehr Kollaboration im Rechtsmarkt

Würde uns eine Kollaborationsplattform für den Rechtsmarkt weiterhelfen? Und damit meine ich eine Kollaboration für das Allgemeinwohl, eine Zusammenarbeit zum Nutzen aller Rechtsmarktteilnehmer!

Standardisierung und Zugang zu Rechtsinformation

Es fehlt uns an marktweiten geschäftlichen, fachlichen und technischen Standards für die Erstellung, Verwendung und Administration von Verträgen und anderen Rechtsdokumenten.

Rechtsdokumente werden heute zumeist auf Grundlage proprietärer Formate erstellt und sodann auf lokalen Servern oder persönlichen Festplatten gespeichert. Verträge sind damit in technischer Hinsicht Black Boxes, geschlossene Dokumente, unstrukturiert und damit nicht ohne weiteres durchsuchbar und vergleichbar.

Selbst wenn Rechtsabteilungen und Kanzleien vermehrt und richtigerweise online editieren, sich also einer Vertragserstellungssoftware (nicht Microsoft-Word-basiert) bedienen, verpufft die dadurch erlangte Effizienzsteigerung spätestens dann, wenn die so erstellten Dokumente ausgetauscht werden. Denn der Austausch von Dokumenten erfolgt üblicherweise als Anhang zu einer E-Mail.

Eine Vielzahl von einfachen und unstrittigen Rechtsdokumenten, wie zum Beispiel eine Geheimhaltungsvereinbarung, wird schon heute semiautomatisch auf Basis von marktweiten Best-Practice Vorlagen, von Standardklauseln, Textblöcken und Regeln erstellt. Solange die Gegenseite den Vertrag akzeptiert und E-Signaturen verwendet werden, ist der Vertrag in Minuten geschlossen. Wenn aber der Austausch per Mail stattfindet, haben wir einen sogenannten Medienbruch. Wird der gleiche Vertrag jedoch auf einer zentralen Plattform und auf Basis von Standardklauseln erstellt, können sich die Parteien auf notwendige Abweichungen fokussieren und sich auf bereitgestellte Alternativklauseln verständigen, anstatt immer das ganze Dokument überprüfen zu müssen.

Dachverbände wie die International Association for Contract & Commercial Management (IACCM, http://www.iaccm.com/iaccm-facts-figures), zahlreiche Lobbygruppen und Vereine (etwa Haus & Grund) und auch Universitäten oder Verlage (etwa Beck Online) stellen ihren Mitgliedern Standardformulierungen und andere Rechtsinformation zur Verfügung. Das ist löblich, doch stellt es den Verwender immer vor die gleichen Probleme: Gibt es für meinen Fall einen Standard? Wenn ja, wo finde ich ihn? Und ist er noch aktuell? Gibt es Alternativen? Ist eine Standardklausel günstig für mich und warum?
Hier könnten ganz neue Märkte entstehen, etwa der „betreute Standardvertrag“.
Beispiel: Ein Kleinunternehmen möchte zum ersten Mal Produkte nach China verkaufen. Auf der Plattform findet der Unternehmer einen Standardvertrag, den er ausfüllt und der Gegenseite vorschlägt. Bei Fragen zur Erstellung oder bei gewünschten Abweichungen durch die Gegenseite kann der Kleinunternehmer sich an Kanzleien wenden, die ihm juristische Betreuungsdienste anbieten. Diese „Betreuungsleistung“ kann mit Hilfe von Machine-Learning immer weiter spezialisiert und automatisiert werden – zum Vorteil des Unternehmers, der Kanzlei sowie aller Rechtsmarktteilnehmer. Allein die entfallenden Übersetzungskosten und der damit verbundene Zeitgewinn sprechen für eine Standardisierung.

Kombination und Integration von rechtlichen Dienstleistungen und Softwareprodukten

Im Rechtsmarkt schlummert enormes Potential, das durch Kollaboration und ganz konkret durch eine bessere Integration von Service- und Produktanbietern realisiert werden könnte. Anwaltskanzleien, die ihre Kunden vor Gericht vertreten können, und Legal-Process-Outsourcer (LPOs), die rechtliche Transaktionen mittels Informationstechnologie automatisieren und zu geringen Kosten anbieten können, betrachten sich noch zu oft als Konkurrenten – und arbeiten nicht flächendeckend als strategische Partner zusammen.

Die meisten Softwaretools im Rechtsmarkt sind Stand-alone- und Nischenprodukte, die jeweils nur spezifische Rechtsbereiche wie Compliance, Intellectual Property, Contract- oder Claim-Management abdecken, nicht miteinander kompatibel sind und auch keine Standardschnittstellen zu den gängigen ERP-, SRM- und CRM-Systemen der Kunden bieten.

Durch die fragmentierte IT-Landschaft sind die Unternehmen gezwungen, sich aus einer Vielzahl von Services und Produkten eine eigene Lösung zusammenzubauen, und auf diese Weise entstehen proprietäre und komplexe Inhouse-Systeme, die wiederum nicht mit den Inhouse-Systemen der Geschäfts- und Verhandlungspartner kompatibel sind und Effizienz- und Synergiepotentiale ungenutzt lassen.

Beispiel: Bei SAP haben wir in den vergangenen Jahren durch einen durchgängigen und softwaregestützten Vertragsmanagementprozess über alle Geschäftseinheiten die durchschnittliche Bearbeitungszeit pro Vertrag von 180 Minuten auf unter zehn Minuten gesenkt und Millionen Euro eingespart (siehe Jacob, Legal Information Management (LIM) Strategy: How to Transform a Legal Department, in: Kai Jacob et. al. (eds), Liquid Legal – Transforming Legal into a Business Savvy, Information Enabled and Performance Driven Industry, Springer, Heidelberg 2016). Dieser Prozess lässt sich noch weiter verbessern (durch Automatisierung und durch Machine-Learning unterstützte Erstellung von Verträgen, E-Signaturen, Blockchain etc.) – allein der Medienbruch, verursacht durch die Interaktion mit der Außenwelt, setzt uns Grenzen.

Gespräche und Verhandlungen mit Kunden, Partnern, Lieferanten und Anwaltskanzleien

Uns Anwälten fehlen kostenlose und allgemein verfügbare virtuelle Gesprächs- und Verhandlungsräume, in denen Rechtsfälle mit allen Beteiligten auf neutralem Boden und in sicherer Umgebung besprochen und verhandelt werden können. Insbesondere bei Verhandlungen mit der Gegenseite wird viel Zeit und Energie für die Diskussion darüber verschwendet, wie und wo, in welcher Umgebung und mit welchen Tools die Gespräche geführt werden. Auf arbeitsaufwendige und fehleranfällige Weise werden pro Fall immer wieder neue Dokumentenversionen zwischen den Parteien per E-Mail hin- und hergeschickt, anstatt sie auf einer gemeinsamen Plattform zu erstellen und zu verwalten.

Der Wille zu mehr Kollaboration im Rechtsmarkt ist vorhanden!

Zahlreiche Kollegen stehen bereit, um gemeinsam eine neutrale Kollaborationsplattform für den Rechtsmarkt zu entwickeln, deren Basisfunktionalität dann allen Rechtsmarktteilnehmern kostenlos zur Verfügung stünde.

Was wäre, wenn es gelänge, neben Rechtsabteilungen von Konzernen und großen Anwaltskanzleien auch die anderen Marktteilnehmer (ich denke hier an LPOs und Legal-Tech-Unternehmen, aber auch Universitäten und Verbände) zu gewinnen, sich fachlich und finanziell zu engagieren? Sie könnten zur gemeinsamen Entwicklung einer Kollaborationsplattform beitragen und auf und mit einer solchen Plattform geschäftliche, fachliche und technische Kollaborationsstandards setzen, die wiederum allen Rechtsmarktteilnehmern zugutekämen – auch und gerade den mittelständischen und kleineren Unternehmen.
Wir sollten uns als Rechtsmarktgemeinschaft verstehen und stärker zusammenarbeiten – und schnell handeln!
Die Digitalisierung im Rechtswesen steht zwar noch am Anfang, schreitet aber zügig voran. Legal-Tech-Start-ups mit innovativen Produkten und hilfreicher Funktionalität sprießen wie Pilze aus dem Boden. Wir müssen als Rechtsmarktgemeinschaft nur sicherstellen, dass diese Services und Produkte für die Kunden auch kombinierbar sind, und wir sollten versuchen, eine noch stärkere Fragmentierung der IT-Landschaft zu verhindern.

Vision. Gründung. Engagement.

Die Kollaboration im Rechtsmarkt braucht einen gemeinsamen Start: erstens ein Bekenntnis der Überzeugten und die gemeinsame Entwicklung einer Vision; zweitens eine Gründungsaktion, die der Vision von „Kollaboration im Rechtsmarkt“ eine rechtliche Form und eine geschäftliche Gestalt verleiht; und drittens ein kontinuierliches gemeinschaftliches Engagement, um die Kollaboration ständig weiter zu verbessern. Think big, start small, grow fast.

Erster Schritt: Think big – Designworkshop der Visionäre

Am Design-Thinking-Workshop sollten Personen und Unternehmen teilnehmen, die gemeinsam eine Vision für die Kollaboration im Rechtsmarkt erarbeiten möchten und zu einer fachlichen und finanziellen Investition zur Realisierung dieser Vision bereit sind.

Die Teilnehmer bringen ihre jeweilige Expertise in den Workshop ein und entwickeln anhand folgender Fragen eine gemeinsame Kollaborationsvision:

  • Welche(s) Kollaborationsproblem(e) im Rechtsmarkt wollen wir lösen?
  • Wie sehen mögliche Kollaborationslösungen konkret aus?
  • Was sind die kurz-, mittel- und langfristigen Ziele dieser möglichen Kollaborationslösungen?
  • Welche geschäftlichen, funktionalen und technischen Anforderungen ergeben sich aus diesen Zielen für die Entwicklung einer Kollaborationsplattform?

Zweiter Schritt: Start small – Gründung eines Konsortiums

Die Visionäre gründen und finanzieren durch jährliche Beiträge zum Beispiel ein Konsortium, bestimmen einen Konsortialführer, statten diesen mit Mitarbeitern aus und betrauen ihn mit der Aufgabe, die Kollaborationsplattform auf Grundlage der Design-Thinking-Workshop-Ergebnisse nach der Rapid-Prototyping-Methode [https://de.wikipedia.org/wiki/Prototyping_(Softwareentwicklung)] zu entwickeln und anschließend zu vermarkten, zu betreiben und zu warten.

Das geistige Eigentum an der gemeinschaftlich entwickelten Kollaborationsplattform gehört dem Konsortium. Eine große Anwaltskanzlei hat bereits angeboten, kostenlos einen Entwurf für einen Konsortialvertrag zu erstellen. – Danke!

Dritter Schritt: Grow fast – Innovation und Wachstum 

Auch nach der Gründung engagieren sich die Konsorten weiter für die Verbesserung der Plattform und die Erhöhung der Nutzerzahl, da die Produktivitätsgewinne jedes einzelnen Nutzers proportional zur Anzahl der Gesamtnutzer steigen. Die Kollaborationsplattform ermöglicht so allen Marktteilnehmern, neue, mehr und sicherere Geschäfte zu machen, und wird zu einer Grundlage für Innovation und Wachstum im Rechtsmarkt.

Wer macht mit?

Wir möchten die Kollaboration im Rechtsmarkt verbessern und Menschen, Produkte und Services auf einer Plattform zusammenbringen.

Die Produktfamilie Deutscher AnwaltSpiegel wird das Projekt einer Kollaborationsplattform publizistisch begleiten.

Wer ist sonst noch dabei? – Melden Sie sich bei mir oder Thomas Wegerich, damit wir gemeinsam mehr erreichen!

kai.jacob@sap.com

23 replies on “Jetzt ist der Zeitpunkt zum Handeln”

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