Nach dem Urteil des EuGH vom 14.05.2019 (C-55/18) müssen die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten, ein System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer gemessen werden kann

Von Markus Künzel und Dr. Erik Schmid

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Die bestehenden Regelungen der Arbeitszeitgesetze in Deutschland und in anderen Mitgliedstaaten werden nicht nur von Arbeitgebern inzwischen als unflexibel angesehen und passen häufig nicht mehr zu den aktuellen Notwendigkeiten und Wünschen der Arbeitszeitgestaltung beider Arbeitsvertragsparteien. Die Schlagworte „entgrenztes und mobiles Arbeiten“ und „Digitalisierung“ erfordern einerseits und ermöglichen andererseits flexibelste Arbeitszeitmodelle. Während in den traditionellen Industrien und Dienstleistungen die Arbeitszeit meist durch elektronische Erfassungssysteme beim Betreten und Verlassen der Betriebsstätte oder spätestens beim Einloggen in das IT-System erfasst wird, bauen viele Unternehmen immer mehr auf das eigenverantwortliche Arbeiten, wie auf die Vertrauensarbeitszeit. Obwohl hier meist noch auf eine Selbstaufzeichnungspflicht der Arbeitnehmer gesetzt wird, gibt es zunehmend Modelle, bei denen vollständig darauf verzichtet wird, womit der Beginn und das Ende der Arbeitszeit sowie die Pausen nicht dokumentiert werden. Dementsprechend ist die Gefahr bei solchen Arbeitszeitmodellen viel größer, dass gegen das Arbeitszeitgesetz (ArbZG), insbesondere gegen die werktägliche Höchstarbeitszeit, die Einhaltung der Ruhepausen und Ruhezeiten verstoßen wird. Etwaige Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz sind nicht nachweisbar, wenn die Arbeitszeit weder vom Arbeitnehmer noch vom Arbeitgeber erfasst und/oder dokumentiert wird. Nach der derzeit geltenden Regelung in Deutschland ist nur die über die tariflich oder vertraglich vereinbarte reguläre Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit (Überstunden) zu erfassen. Mit dem Urteil des EuGH vom 14.05.2019 (C-55/18) zeichnet sich ab, dass in Zukunft diesbezüglich ein grundsätzlicher Wandel zu erwarten ist.

EuGH-Urteil vom 14.05.2019 (C-55/18)

Sachverhalt (EuGH-Pressemitteilung Nr. 61/19)
Die spanische Gewerkschaft Federación de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO) verklagte die Deutsche Bank SAE in Spanien. Ziel dieser Klage war, die Deutsche Bank zu verpflichten, ein System zur Erfassung der täglich geleisteten Arbeitszeit der Arbeitnehmer einzurichten. Hintergrund ist, dass in Spanien 53,7% aller geleisteten Überstunden wohl nicht erfasst worden waren. Nach Ansicht der CCOO können mit einem solchen System die Einhaltung der vorgesehenen Arbeitszeit sowie die in den innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehene Verpflichtung, den Gewerkschaftsvertretern die Angaben über die monatlich geleisteten Überstunden zu übermitteln, überprüft werden. Nach Ansicht der Deutschen Bank sieht das spanische Recht nach der Auslegung des Obersten Gerichts in Spanien (Tribunal Supremo) keine solche allgemeinverbindliche Verpflichtung vor. Soweit nichts anderes vereinbart sei, schreibe das spanische Gesetz nur die Führung einer Aufstellung der von den Arbeitnehmern geleisteten Überstunden sowie die Übermittlung der Zahl dieser Überstunden zum jeweiligen Monatsende an den Arbeitnehmer und seine Vertreter vor.
Der nationale Gerichtshof in Spanien (Audiencia Nacional) hatte Zweifel an der Vereinbarkeit der Auslegung des spanischen Gesetzes durch das Tribunal Supremo mit dem Unionsrecht und legte dem EuGH diese Frage im Wege des Vorabentscheidungsersuchens vor.

Die Entscheidung
Der EuGH erklärt in seinem Urteil vom 14.05.2019, dass die Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88/EG vom 04.11.2003) und die Richtlinie über die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer bei der Arbeit (Richtlinie 89/391/EWG vom 12.06.1989) im Lichte der Grundrechte­charta der Europäischen Union einer Regelung entgegenstünden, durch die nationale Gerichte Arbeitgeber nicht verpflichten, ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Der EuGH stellt fest, dass die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und deren zeitliche Verteilung sowie die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich nur mit einem System für die Messung der täglichen Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers gemessen werden könnten. Andernfalls sei es für Arbeitnehmer äußerst schwierig oder gar unmöglich, ihre Rechte durchzusetzen. Der EuGH ist der Auffassung, dass die Arbeitszeitrichtlinie und die Grundrechtecharta der Europäischen Union Arbeitgeber zu einem solchen System verpflichteten. Die Mitgliedstaaten müssten dafür sorgen, dass diese Rechte der Arbeitnehmer nicht ausgehöhlt werden. Nach dem Urteil des EuGH müssen die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Alle Arbeitgeber in der EU müssen die Arbeitszeit aller Arbeitnehmer vollständig erfassen. Ein solches System erleichtert den Arbeitnehmern den Nachweis ihrer Rechte und den Behörden und Gerichten die Kontrolle.

Hausaufgaben und Hinweise für den deutschen Gesetzgeber
Eine Frist zur Umsetzung durch die Mitgliedstaaten hat der EuGH im Urteil nicht genannt. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat angekündigt, bis Ende des Jahres 2019 Antworten auf Fragen oder gesetzliche Regelungen gefunden haben zu wollen. Dem hat Wirtschaftsminister Altmaier widersprochen und angekündigt, das Urteil zunächst nicht umsetzen zu wollen, sondern es stattdessen zu prüfen. Im Hinblick auf die „Arbeitswelt 4.0“ wird das Urteil nicht nur von ihm, sondern auch von vielen Arbeitgebern und deren Vereinigungen so bewertet, dass es in die falsche Richtung weise und es keinen Weg geben könne, die „Stechuhr“ wieder einzuführen. Auch die damit gerade für kleinere, häufig besonders innovative Unternehmen verbundene große Bürokratie führte zu massiver Kritik. Die Arbeitgeberverbände fordern, erst einmal genau zu prüfen, ob es in Deutschland nach dem Urteil überhaupt Handlungsbedarf für eine Umsetzung gibt und wie der gegebenenfalls aussähe.
Der EuGH lässt den Mitgliedstaaten Spielräume. Es obliege den Mitgliedstaaten, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems zu bestimmen. Insbesondere könnten die Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs oder Eigenheiten, wie die Größe bestimmter Unternehmen, berücksichtigt werden.

Folgen für die Praxis
Ob und gegebenenfalls welche Auswirkungen das Urteil des EuGH auf die bisherige Arbeitszeitpraxis in Deutschland haben wird, ist noch nicht absehbar – dies nicht nur wegen der anhaltenden innenpolitischen Diskussion, sondern auch in Hinsicht darauf, wie der deutsche Gesetzgeber die Vorgaben des EuGH umsetzen könnte. Der EuGH hat nicht ausgeführt, welches System im jeweiligen Unternehmen für die Aufzeichnung der Arbeitszeiten bestehen muss, sondern hier sind Spielräume eröffnet, die angemessen ausgeschöpft werden können. Auch in Zukunft wird es wohl möglich sein, bereits existierende Ausnahmen beizubehalten.
Eine elektronische Erfassung der Arbeitszeit erfordert in Unternehmen mit einem Betriebsrat auf jeden Fall dessen Beteiligung gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG. Was passiert, wenn Betriebsräte in Unternehmen mit extrem flexiblen Arbeitszeitmodellen – insbesondere zugunsten der Arbeitnehmer – sich einer Regelung der Dokumentation verweigern? Wie soll eine Einigungsstelle entscheiden?
Es ist daneben zu erwarten, dass ein hoher Verwaltungsaufwand bei Unternehmen entsteht, die bisher die Arbeitszeit nicht detailliert erfassen. Ebenso ist zu erwarten, dass Arbeitnehmer im Ergebnis mehr Arbeitszeit bezahlt haben wollen. Ob das gelingt, bleibt abzuwarten: Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG ist es zulässig, dass je nach Position und Vergütung ein angemessener Teil an Mehrarbeit mit der Vergütung abgegolten ist. Diese Regelung wird verstärkt zum Einsatz kommen. Eine Folge des Urteils wird auch sein, dass die zu erfassende – und gegebenenfalls zu vergütende – Arbeitszeit noch genauer definiert wird. Für Raucherpausen muss derzeit bereits in vielen Betrieben „ausgestempelt“ werden. Ein „Ausstempeln“ von der Arbeitszeit könnte auch für sämtliche anderen nicht dienstlichen Tätigkeiten von Arbeitgebern verlangt werden, wie etwa Kaffeetrinken, private Gespräche und Kommunikation in den sozialen Medien.
Nach dem Urteil herrscht erst einmal Aufregung und großer Diskussionsbedarf. Juristen wie Praktiker können gespannt sein, ob es zu einer Umsetzung kommen wird, und falls ja, zu welcher.

markus.kuenzel@bblaw.com

erik.schmid@bblaw.com

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