In einer Zeit, in der nahezu alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereiche digitale Transformationsprozesse durchlaufen, darf die Justiz nicht zurückbleiben. Wer das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat erhalten will, muss das Angebot gerichtlicher Konfliktlösung modernisieren – umfassend, digital und nutzerorientiert. Eine punktuelle „Reparatur“ reicht nicht mehr aus.
Rechtsstaat unter Veränderungsdruck
Digitalisierungsdruck entsteht nicht nur durch technische Innovationen. Er speist sich auch aus der legitimen Erwartung einer Gesellschaft, die gewohnt ist, Dienstleistungen digital, schnell und benutzerfreundlich zu erhalten. Die Ziviljustiz, als Rückgrat des Rechtsstaats und Garant der Rechtsdurchsetzung, darf in diesem Wandel kein analoger Fremdkörper bleiben. Ihre strukturelle Erneuerung ist Voraussetzung dafür, dass sie ihre Funktionen im 21. Jahrhundert erfüllen kann.
Zugleich geht es um mehr als um Technik: Der Zivilprozess muss als Teil eines umfassenden gesellschaftlichen Konfliktmanagementsystems neu gedacht werden. Recht ist mehr als Justiz – aber die Justiz ist ein zentrales Element des Rechtsstaats. Deshalb braucht es ein übergreifendes Leitbild, wie es die Reformkommission „Zivilprozess der Zukunft“ formuliert hat, und keine weitere kleinteilige Normenpflege.
Vision: Der Zivilprozess im Jahr 2040
Die in mehreren Beiträgen entwickelte Vision des „Zivilprozesses 2040“ [zum Beispiel Otte/Breidenbach, Zivilprozess 2040, ZRP (2023) 130 ff.] zeigt einen umfassenden Wandel: Justiz wird zu einem lernenden, digitalen System, das Transparenz, Verständlichkeit und Zugang zum Recht in den Mittelpunkt stellt. Digitale Rechtsantragsstellen, ein Onlineklageverfahren und ein zentrales Justizportal bieten einfachen Zugang und fördern die Inanspruchnahme des Rechts. Gerichtsverfahren werden durch strukturierte digitale Kommunikation, KI-Assistenzsysteme und benutzerzentriertes Design effizienter, schneller und verständlicher.
Die Digitalisierung wird hier nicht als Bedrohung des Rechtsstaats, sondern als dessen funktionale Sicherung verstanden. Sie erleichtert die Arbeit von Richterinnen und Richtern wie auch von Rechtspflegerinnen und Rechtspflegern, entlastet dadurch die Organisation und verbessert zugleich die Servicequalität für die Nutzerinnen und Nutzer der Justiz.
Justizportal und Kommunikationsplattform
Zentrale technische und organisatorische Elemente der künftigen Justiz sind bereits benannt: Ein digitales Justizportal als zentrale Anlaufstelle bündelt Informationen, Formulare und Zugangsmöglichkeiten. Darüber hinaus wird der digitale Parteivortrag schrittweise das seitenbasierte PDF ersetzen – nicht zur Einschränkung, sondern zur besseren Strukturierung und Verarbeitung des Vortragsstoffs.
Eine bundeseinheitliche cloudbasierte Kommunikationsplattform löst den bisherigen, oft brüchigen elektronischen Rechtsverkehr ab. Sie wird zur Infrastruktur eines modernen Verfahrensmanagements – modular ausbaubar mit Videotools, digitalen Terminkalendern oder Chatfunktionen.
KI und Automatisierung mit Maß
Künstliche Intelligenz darf die richterliche Unabhängigkeit nicht berühren. Aber sie kann unterstützen: in der Aktenbearbeitung, der Formalkontrolle oder bei Berechnungen. Gerade in Massenverfahren, etwa bei der Kostenfestsetzung oder im Zwangsvollstreckungswesen, eröffnen sich Chancen für Effizienzgewinne, die zugleich Ressourcen schonen und die Verfahrensdauer verkürzen können.
Digitale Verfahren und neue Rollenbilder
Das digitale Verfahren wird nicht nur durch Technik, sondern auch durch neue Rollenbilder getragen. Richterinnen und Richter sind künftig nicht nur Entscheider, sondern auch aktive Verfahrensmanager – im schriftlichen wie im mündlichen Verfahren. Digitale Organisationstermine, klare Verfahrenspläne und strukturierende Hinweise sichern Verständlichkeit und Effizienz. Der Zivilprozess der Zukunft ist dadurch weniger konfrontativ, stärker lösungsorientiert – ohne den Rechtsweg zu verkürzen oder abzuwerten.
Ein zentrales Reformelement ist dabei die frühzeitige und prozessbegleitende Verfahrensleitung. Künftig soll das Gericht – nicht erst zum „Haupttermin“ – Hinweise geben, Fragen stellen und den Sach- und Streitstand aktiv strukturieren. Verbindliche Verfahrenspläne mit klaren Fristen sowie digitale Organisationstermine (auch per Videokonferenz) ermöglichen eine effiziente, verlässliche und transparente Prozessführung. Der Zugang zur Justiz wird dadurch nicht nur technik-, sondern auch organisationsfreundlicher.
Spezialisierung und Kammerprinzip
Ein moderner Zivilprozess braucht spezialisiertes Wissen. Die Erweiterung spezialisierter Spruchkörper in wirtschaftsrelevanten Bereichen (wie IT-, Vergabe-, Urheber- oder Transportrecht) erhöht nicht nur die fachliche Qualität gerichtlicher Entscheidungen, sondern auch das Vertrauen der Nutzerinnen und Nutzer. Zugleich schlägt die Reformkommission vor, das Kammerprinzip am Landgericht zu stärken, etwa bei komplexen Verfahren oder hohen Streitwerten. Das „Mehr-Augen-Prinzip“ sichert Qualität, Kontinuität und Autorität – nach innen wie nach außen.
Gestufter Zugang und Opt-out-Modell
Die digitale Transformation muss sozialverträglich gestaltet sein. Der Zugang zur Justiz wird daher über ein gestuftes System geregelt, das auf einer zunächst optionalen, langfristig verpflichtenden digitalen Kommunikation basiert. In einer Übergangsphase gilt ein „Opt-out“-Modell, das auf individuelle oder technische Ausnahmen Rücksicht nimmt. Flankierend sind Unterstützungsangebote wie „Digitallotsen“ vorgesehen, die insbesondere weniger digitalaffinen Bevölkerungsgruppen helfen sollen. Damit bleibt die Justiz für alle erreichbar – barrierefrei und chancengerecht.
Fazit
Die Justiz muss sich verändern, um ihre Funktion im digitalen Zeitalter zu erfüllen. Der Zivilprozess der Zukunft ist digital, zugleich menschlich und zugänglich. Dafür braucht es Mut zur Transformation, Klarheit im Ziel und die Bereitschaft, nicht nur das Recht, sondern auch die Justiz selbst neu zu denken. Die Umsetzung dieser Vision setzt Investitionen in die Infrastruktur, das Personal und die juristische Ausbildung voraus. Doch der Verzicht darauf hätte einen hohen Preis für unseren Rechtsstaat.

