Was wir Spanien nicht alles verdanken – neben der Paella, dem Tiki-Taka-Fußball, der Erfindung des Wischmopps, dem 17. Bundesland Mallorca auch die regelmäßigen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Arbeitszeiterfassung:
Nachdem der EuGH schon im Jahre 2019 die generellen Regelungen Spaniens zur Arbeitszeiterfassung für unvereinbar mit der Richtlinie 2003/88/EG erklärt hat, legt er jetzt mit der Entscheidung vom 19.12.2024 (C-531/23 [Loredas]) nach, indem er eine in Spanien bestehende Ausnahmeregelung für Hausangestellte (hier spielt der Wischmopp eventuell wieder eine Rolle) für unvereinbar mit der Richtlinie erklärte.
Nicht erst seit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13.09.2023 stellt sich für die Praxis die Frage, wie die moderne Arbeitswelt und die sehr restriktive Handhabung der Richtlinie für Arbeitnehmer und Arbeitgeber miteinander vereinbar sind – die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen in den letzten Jahrzehnten durch mobile Kommunikation, mobiles Arbeiten und ähnliche Entwicklungen immer mehr.
Unser starres Arbeitszeitrecht fußt im Wesentlichen auf der europäischen Richtlinie 2003/88/EG. Die Richtlinie ist also mehr als 20 Jahre alt und verlangt unter anderem, dass die durchschnittliche Arbeitszeit 48 Stunden wöchentlich nicht überschreiten darf und an jedem Tag eine Ruhezeit von mindestens elf Stunden bestehen muss. Unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt die Richtlinie Abweichungen hiervon – zum einen können Mitgliedstaaten einzelnen Arbeitnehmern ermöglichen, von der maximalen durchschnittlichen Arbeitszeit abzuweichen (Opt-out-Modell). Zum anderen dürfen Mitgliedstaaten von den Regeln zur maximalen wöchentlichen Arbeitszeit, den täglichen Ruhezeiten, Pausen, der wöchentlichen Mindestruhezeit und der Dauer der Nachtarbeit abweichen, wenn angestellt Arbeitende ihre Arbeitszeit eigenverantwortlich im Sinne des Art. 17 Abs. 1 lit. a der Richtlinie einteilen können.
Der Fall Loredas betraf die Verpflichtung für Arbeitgeber zur Erfassung der Arbeitszeit von Hausangestellten und die Vereinbarkeit nationaler Regelungen mit den EU-Arbeitszeitrichtlinien. Ausgangspunkt war die Klage einer Hausangestellten gegen ihre Arbeitgeber auf Feststellung der Unrechtmäßigkeit ihrer Entlassung sowie auf Zahlung von Überstunden und Urlaubsabgeltung. Das Tribunal Superior de Justicia del País Vasco (Obergericht des Baskenlands, Spanien) legte dem EuGH die Frage vor, ob nationale Regelungen, die Arbeitgeber von der Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung befreien, mit den EU-Richtlinien und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) vereinbar sind.
Der EuGH prüfte die Vereinbarkeit der spanischen Regelung mit der Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sowie mit den Richtlinien 2000/78/EG, 2006/54/EG und 2010/41/EU, die den Grundsatz der Gleichbehandlung und Chancengleichheit in Beschäftigungsfragen sicherstellen sollen. Zudem zog das Gericht Art. 31 Abs. 2 der Charta heran, der das Recht auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten garantiert.
Der EuGH entschied, dass die Art. 3, 5 und 6 der Richtlinie 2003/88/EG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 2 der Charta einer nationalen Regelung entgegenstehen, die Arbeitgeber von Hausangestellten von der Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung befreit. Der Gerichtshof betonte, dass ohne ein objektives und verlässliches System zur Erfassung der Arbeitszeit die Rechte der Arbeitnehmer auf Begrenzung der Arbeitszeit und auf Ruhezeiten nicht wirksam durchgesetzt werden können. Dies gelte insbesondere für Hausangestellte, die aufgrund ihrer schwächeren Position im Arbeitsverhältnis oft zögern, ihre Rechte geltend zu machen.
Der EuGH stellte fest, dass die Mitgliedstaaten zwar einen gewissen Spielraum bei der Umsetzung der Richtlinie 2003/88/EG haben, jedoch sicherstellen müssen, dass die praktische Wirksamkeit der in der Richtlinie vorgesehenen Rechte gewährleistet ist. Die spanische Regelung, die Hausangestellte von der Arbeitszeiterfassung ausnimmt, wird als unvereinbar mit den EU-Vorschriften angesehen, da sie den Arbeitnehmern die Möglichkeit vorenthält, ihre geleisteten Arbeitsstunden objektiv und zuverlässig festzustellen.
Zudem ist die Regelung als mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bewertet worden, da die Mehrheit der Hausangestellten in Spanien Frauen sind. Eine solche Diskriminierung sei nur zulässig, wenn sie durch objektive Gründe gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. Der EuGH konnte jedoch keine solchen Gründe erkennen.
Und was heißt das für Deutschland – Tiki-Taka-Fußball hat bei uns ja auch nur mäßig funktioniert?
Die Entscheidung zeigt sehr deutlich, dass der Spielraum des nationalen Gesetzgebers bei der Arbeitszeit und ihrer Erfassung begrenzt ist.
Der Bundesverband der Wirtschaftskanzleien in Deutschland (BWD) hat in mittlerweile drei Positionspapieren die vorhandenen Spielräume für den nationalen Gesetzgeber aufgezeigt, die endlich genutzt werden müssen – die neue Bundesregierung hat nach der Wahl am 23.02.2025 alle Chancen, das umzusetzen – wenigstens drei Reformen sollte das deutsche Arbeitszeitrecht erfahren:
- Es sollte keine tägliche Höchstarbeitszeit mehr geben – stattdessen wird die europäische Höchstwochenarbeitszeit von 48 Stunden übernommen.
- Die Gruppe der Wissensarbeitenden wird von den starren Grenzen des Arbeitszeitgesetzes durch die Gleichstellung mit leitenden Angestellten entsprechend Art. 17 Abs. 1 der europäischen Arbeitszeitrichtlinie befreit, wenn angestellte Wissensarbeitende ihre Arbeitszeit eigenverantwortlich im Sinne des Art. 17 Abs. 1 lit. a der Richtlinie einteilen können. Ein Indiz hierfür sollte die Überschreitung der Bemessungsgrenzen für die Renten- und Arbeitslosenversicherung sein. Alternativ könnten Berufsgruppen entsprechend Art. 17 Abs. 3 der Richtlinie aus dem Anwendungsbereich herausgenommen werden, soweit Tätigkeiten im Wesentlichen im Rahmen von mobilem Arbeiten dergestalt erbracht werden, dass der Arbeitnehmende Ort und Zeit der Leistungserbringung selbst bestimmt.
- Sollte sich die Politik zu einer solchen überfälligen Anpassung der arbeitszeitrechtlichen Vorgaben nicht entschließen wollen, so sollte jedenfalls von dem Flexibilisierungselement des Art. 22 der europäischen Arbeitszeitrichtlinie (Opt-out-Modell) durch den Gesetzgeber weit großzügiger Gebrauch gemacht werden, als dies bisher der Fall ist. Als Vorbild könnten hier etwa die Regelungen gelten, die in Österreich zum 01.09.2018 in Kraft getreten sind, wonach grundsätzlich die Tagesarbeit zwölf Stunden und die Wochenarbeitszeit 60 Stunden nicht überschreiten dürfen. Nach der österreichischen Rechtslage wird dem Arbeitsschutz dadurch Rechnung getragen, dass Arbeitnehmende Arbeitszeiten, die über zehn Stunden täglich oder 50 Stunden wöchentlich hinausgehen, ohne Angabe von Gründen ablehnen und deshalb nicht benachteiligt werden dürfen. Entscheiden sich die Arbeitnehmenden für eine Verlängerung der Arbeitszeit, so haben sie die Wahl, ob dies durch Zeitausgleich oder in Geld vergütet werden kann. Frankreich und Dänemark haben ein ähnliches System umgesetzt.
Gleichzeitig sollte Deutschland auf europäischer Ebene Einfluss nehmen, um die Richtlinie der heutigen Arbeitswirklichkeit anzupassen – hierbei sollte auch einmal klargestellt werden, was eigentlich Arbeit ist: das Nachdenken über die Arbeit etwa unter der Dusche, das Checken von Mails, das Lesen von Mails, das Schreiben von Mails? – Fragen über Fragen.
Klar ist aber, dass auch nach Auffassung des Unterzeichners die spanische Ausnahmeregelung mit der Richtlinie genauso wenig vereinbar war wie Tiki-Taka mit schönem Fußball.

