Momentaufnahmen aus ungewöhnlichen Zeiten
Unlängst wurde von einem Prozess in England vor dem Technology and Construction Court berichtet, der komplett über „Zoom“ abgewickelt wurde. Es war ein aufwendiger Bauprozess, das Verfahren dauerte bereits vier Jahre. Verklagt war eine Gemeinde, die gegen die Prozessführung nur per Video protestiert hatte, aber ohne Erfolg. Die gesamte Beweisaufnahme einschließlich Kreuzverhör fand online statt, mit Öffentlichkeit und Pressebeteiligung. Das Verfahren endete mit einem Vergleich. Aus Deutschland: Ende März schickte eine Ad-hoc-Initiative von Legal-Tech-Kanzleien und -Unternehmen einen offenen Brief an die Justizminister sowie die Präsidenten der Amts- und Landgerichte mit dem Appell, in den Gerichten angesichts der Pandemie dafür Sorge zu tragen, dass mündliche Verhandlungen nur noch in absoluten Ausnahmefällen angeordnet und Möglichkeiten für die Durchführung von Videoverhandlungen geschaffen werden sollten. In LinkedIn gab es dazu eine Diskussion, in deren Verlauf den Verfassern vorgeworfen wurde, „den Boden des Grundgesetzes verlassen“ zu haben, denn hier werde in die Unabhängigkeit der Richter eingegriffen.
Kurze Zeit darauf wurde ein Referentenentwurf aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales bekannt, der vorsah, während der Dauer der Pandemie in der Arbeitsgerichtsbarkeit mündliche Verhandlungen weitgehend zu beschränken und den Grundsatz der Öffentlichkeit teilweise auszusetzen. Insbesondere deshalb wurde der Entwurf heftig kritisiert. Verabschiedet wurde dann eine weniger einschneidende, aber schon noch innovative Regelung, die es immerhin zu Pandemiezeiten erlaubt, dass ehrenamtliche Richter per Video an Verhandlungen teilnehmen können, und besagt, dass Gerichte verstärkt von § 128a ZPO Gebrauch machen sollen. Inzwischen ist das als Teil des Sozialschutzpakets II beschlossen worden und tritt demnächst in Kraft. Unlängst äußerte sich der kanadische Chief Justice of the Ontario Superior Court zu den Herausforderungen der kanadischen Justiz unter Corona: „We have been forced and the Ministry has been forced to accelerate its plans to move to electronic hearings and also to electronic filings and we cannot go back… it is time for Ontario to push forward … we cannot go backwards.” Am 18.05.2020 fand eine Konferenz der Justizminister statt, per Video. Berichtet wurde von Einigkeit der Teilnehmer darüber, dass „dem Thema der Digitalisierung bei der Bewältigung der Pandemie eine große Bedeutung zukomme“. Konkrete Maßnahmen wurden indes nicht beschlossen, sondern auf eine dreitägige Konferenz im November vertagt. Eine Beschlussvorlage von sechs Bundesländern, die unter anderem gefordert hatte, die Justiz „zügig und flächendeckend“ mit den Voraussetzungen für Videokonferenzen auszustatten, wurde indes „auf Betreiben der unionsgeführten Länder“ nicht abschließend behandelt. Aus mehreren deutschen Gerichten wird berichtet, wie trotz allem versucht wird, mündliche Verhandlungen per Video durchzuführen. Anwälte berichten, dass sie dazu angehalten wurden, auch im Büro eine Robe zu tragen. In den USA gibt es erste Rufe nach einer „‚Zoom‘-Etiquette“ für Gerichtsverhandlungen, denn man habe „viele Anwälte in Freizeithemden und Blusen gesehen, ohne Rücksicht auf schlechte Körperpflege, in Schlafzimmern mit dem Ehebett im Hintergrund usw. Ein männlicher Anwalt erschien ohne Hemd, und eine weibliche Anwältin erschien noch im Bett, noch unter der Bettdecke.“ Aus Singapur wurde berichtet, dass ein des Rauschgifthandels angeklagter Mann zum Tode verurteilt wurde. Das Urteil wurde per „Zoom“ verkündet. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig, der Verteidiger wird sein Rechtsmittel dem Vernehmen nach aber nicht auf die Verkündung des Todesurteils per „Zoom“ stützen, denn der Richter sei laut und deutlich zu verstehen gewesen.
Corona und die Rechtspflege
Das Virus und die Pandemie haben uns alle kalt erwischt, auch die Justiz. Ausgangsbeschränkungen und besondere Sicherheitsvorkehrungen inklusive Abstandsgeboten führten teilweise zu einem Quasistillstand. Während viele Menschen „ins Home-Office“ gingen, ist das im Bereich der Rechtspflege aus vielen Gründen nicht möglich. Zwar gibt es bereits seit einigen Jahren die (kaum genutzte) Möglichkeit, dass Verfahrensbeteiligte per Video an Verhandlungen teilnehmen (§ 128a ZPO), allerdings hat das nichts mit Home-Office oder Ähnlichem zu tun. Das Gericht sitzt weiterhin im Sitzungssaal, außerdem muss die Öffentlichkeit gewährleistet werden, und der gesamte Ablauf, bis eine Akte mal auf einem Richtertisch liegt und eine Verhandlung anberaumt ist, ist sehr ressourcen-, insbesondere personalintensiv. Geschäftsstellen und Aktentransport lassen sich nicht aus dem Home-Office erledigen. Nach wie vor müssen Berge von Papier und Akten durch die Gerichtsgebäude bewegt werden (E-Akten gibt es noch längst nicht flächendeckend bei der Justiz). Ein zeitreisender Justizbediensteter aus dem Jahr 1920, der heute in einem beliebigen deutschen Gericht ankommen würde, fühlte sich vermutlich wie zu Hause. Selbst wenn die große Mehrheit der Richterschaft angesichts der Pandemie beschließen würde, alle Verhandlungen nur noch per Video durchzuführen, ginge das mangels technischer Ausstattung gar nicht, denn unlängst wurde berichtet, dass nur knapp 17% der deutschen Gerichte überhaupt mit Videokonferenzanlagen ausgestattet sind. Die Justiz ist seit Jahren chronisch unterfinanziert und wird von der Politik schlecht behandelt. Dass das auch für die Polizei, Feuerwehr, Krankenhäuser, Pflegestationen und andere Einrichtungen gilt, die sich in der Pandemie als tatsächlich systemrelevant erwiesen haben, macht die Sache nicht besser.
Die Videodebatte
Was machen wir mit unserer Justiz? So, wie es heute ist, geht es nicht weiter. Oder muss sie nur für Pandemiesituationen anders aufgestellt werden? So hat man es für den Bereich der Arbeitsgerichtsbarkeit vorgesehen – aber nicht für die Zivilgerichtsbarkeit, da bleibt alles beim Alten. Wäre damit geholfen, dass künftig Verhandlungen per Video stattfinden müssten, wenn ein Verfahrensbeteiligter es beantragte? Einen entsprechenden Beschlussantrag hatte vor kurzem die Bundestagsfraktion der FDP gestellt. Während der Debatte im Bundestag wurde kritisiert, dies beeinträchtige die richterliche Unabhängigkeit, andere meinten, gerade Güteverhandlungen könnten überhaupt nur erfolgreich durchgeführt werden, wenn man sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersitze, Derartiges gehe keinesfalls per Video. Liegt überhaupt in Videokonferenzen die Lösung? Immerhin ersparen sich die Verfahrensbeteiligten aufwendige Anreisen und vermeiden den Kontakt in Gerichtsgebäuden und die damit verbundene Ansteckungsgefahr, außerdem gibt es verschiedene Arten von Terminen, wichtige und weniger wichtige. Aber ermöglicht diese Art des Kontakts eine wirkliche Konfliktlösung und das wichtige Empfinden, dort geschehe Recht? Setzt das nicht das Zusammenkommen von Menschen voraus? Oder ist das nur altes Denken vor dem Hintergrund der analogen Vergangenheit? Die Sache ist komplex. Rufe nach Verhandlungen per Video sind irreführend, wenn damit gemeint sein soll, dass allein dadurch die Justiz modernisiert wird. Die Frage muss eher lauten, ob und wie die Rechtspflege (verstanden als Gerichte und ihre Ausstattung, Gerichts- und Verfahrensordnungen) reformiert werden muss, damit sie einerseits für dieses und die kommenden Jahrhunderte richtig aufgestellt ist, ohne andererseits das zu verlieren, was sie für uns in ihrer Altertümlichkeit eben auch ist: ein uns seit vielen Jahrhunderten vertrautes Verfahren der Konfliktbehandlung, das dadurch gekennzeichnet ist, dass Menschen an einem Ort zusammenkommen und öffentlich sowie unter Beachtung vorgegebener Regeln einen Konflikt zwischen streitenden Parteien lösen. Wir sind zutiefst analoge und soziale Wesen, die den digitalen Austausch noch nicht richtig einordnen und weder werten noch wertschätzen können. Beziehungsbeendigung per SMS befremdet uns. Im direkten Austausch sind wir auch bei Meinungsverschiedenheiten eher bereit, uns zivilisiert zu verhalten und aufeinander zuzugehen, und selbst wenn wir heftig streiten und ohne Einigung auseinandergehen, dann ist das alles nicht zu vergleichen mit dem entgrenzten und teilweise hasserfüllten Kommunikationsverhalten, das wir in den Social Media beobachten müssen.
Gerichtslinde: Thing statt „Zoom“
Diese Art der Meinungsbildung und Konfliktlösung bzw. Rechtsprechung geht zurück auf Gebräuche germanischer Stämme und wurde bereits von Tacitus in seiner Germania (De origine et situ Germanorum) im Jahr 98 n.Chr. beschrieben. Diese Volksversammlungen, Thing genannt, waren der zentrale Ort der Meinungsbildung und Rechtsprechung. Thingplätze lagen zentral und mussten gut erkennbar und leicht zu finden sein, außerdem fand ein Thing immer unter freiem Himmel, häufig unter einer Linde statt, daher kommt der Begriff der Gerichtslinde (oder des Gerichtsbaums). Vermutlich würde das einigen Virologen heute gut gefallen. Es bestand Anwesenheitspflicht, außerdem galt der Thingfriede – während des Things mussten im Bereich der Thingstätte alle Waffen abgelegt werden. Liest man historische Schilderungen von Gerichtsverhandlungen unter der Gerichtslinde, kommen einem viele Dinge vertraut vor. Das alles ist gut 2.000 Jahre alt, die Begriffe sind vergessen, manche werden Thing spontan als englisches Wort identifizieren. Tatsächlich geht „thing“ etymologisch auf das Thing zurück, und die Parlamente der skandinavischen Länder heißen Alpingi, Storting, Logting oder Kandsting, Gerichte heißen tingsrätt oder tingrett. Ist die These, dass diese Art der Entscheidungsfindung und Konfliktlösung integraler Bestandteil unserer DNA ist, zu kühn? Auch wenn man das als zutiefst analog und altmodisch bezeichnen möchte, gerade angesichts der Digitalisierung, stellt sich die Frage, ob es sich nicht eben auch um eine Errungenschaft der Zivilisation handelt, die wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen sollten. So ist etwa das Prinzip der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen nicht nur eine einfachgesetzliche Marotte des § 169 GVG, die vom Gesetzgeber ohne weiteres gekippt werden könnte. Vielmehr ist der Öffentlichkeitsgrundsatz internationalrechtlich sowie verfassungsrechtlich verankert und gilt als Folge von Demokratieprinzip und Rechtsstaatsgedanken. Uns bedeutet der Grundsatz der Öffentlichkeit nicht deshalb so viel, weil er verfassungsrechtlich und internationalrechtlich verankert ist, sondern umgekehrt: Weil uns diese Prinzipien seit gut 2.000 Jahren wichtig sind, sind sie verfassungsrechtlich verankert.
Alles auf ewig festgeschrieben?
Oder ist das auch altes Denken, ist nicht gerade das Social Distancing ein integraler Bestandteil der Digitalisierung, Teil der DNA der Zukunft, auch außerhalb von Pandemien? Müssen wir uns nicht technischer Möglichkeiten bedienen, um eine ganz andere Öffentlichkeit zuzulassen, wie es in anderen Ländern ja auch bereits geschieht? Das, was wir unter Öffentlichkeit verstehen, nämlich die Präsenzöffentlichkeit, erinnert schon noch sehr an die Gerichtslinde. So etwas wie „Court-TV“ stößt in Deutschland auf erhebliche Bedenken. Begründete Bedenken? Bekanntlich bestehen auch Bedenken, Gerichtsverhandlungen komplett, wortgetreu und allgemein nachvollziehbar zu protokollieren (was technisch ohne weiteres möglich und in anderen Ländern längst gute Übung ist). Richter schätzen das nicht. Vielleicht sind auch nicht alle Bedenken sachlich begründet.
Insgesamt führt uns die Coronapandemie besonders drastisch vor Augen, wie sehr die analoge Vergangenheit und Gegenwart mit der digitalen Zukunft zusammenprallen. Bei der Rechtsprechung muss aber für uns die Frage lauten, wie die zivilisatorischen Errungenschaften der letzten 2.000 Jahre in die Neuzeit und die Zukunft überführt werden können, ohne dass wir uns selber den Ast absägen, auf dem unsere Zivilisation sitzt. Die Rufe nach „mehr Video“ sind für heute wichtig, aber allein nicht zukunftsweisend, genauso wenig wie der behäbige Verweis auf ein System, welches doch „bewährt“ sei – die Justiz mag sich bewährt haben, kommt aber zunehmend an ihre Grenzen, und das Ignorieren dieser Tatsache führt zu schweren Verwerfungen. Gerade hat das Amtsgericht Frankfurt am Main gewarnt, man sei außerstande, 20.000 Zahlungsklagen gegen die Luftfahrtindustrie zu handeln, daher werde an die Fluggesellschaften appelliert, doch ihren Zahlungspflichten nachzukommen. Man mag sich Ähnliches gar nicht für die Strafjustiz vorstellen. Vielleicht nur ein drastischer Einzelfall, der einen zunächst auch nur sprachlos macht, aber die seit Jahren zurückgehenden Eingangszahlen der Zivilgerichtsbarkeit sowie der Anstieg von parallelen und nichtstaatlichen Konfliktlösungssystemen bei eBay, Amazon oder PayPal sind ein deutlicher Beleg dafür, dass die Justiz in bestimmten Bereichen längst an ihre Grenzen gekommen ist. Die Pandemie erinnert uns lediglich daran.
To-do-Liste
Immerhin wird klar, dass „mehr Video“ jedenfalls kurzfristig Linderung verspricht, aber mittel- und langfristig nicht ausreicht. Die Justiz muss technisch in die Neuzeit geholt werden. Ohne eine vernünftige und digitale Ausstattung, ohne flächendeckend vorhandene E-Akte, ohne zeitgemäß ausgestattete Arbeitsplätze der Justizbediensteten mit der Möglichkeit, auch außerhalb des Gerichts zu arbeiten, kann die Justiz einpacken. Bisher ist nicht viel zu sehen, Ausnahmen bestätigen die Regel. Dass sich die Länder nicht mal auf ein einheitliches E-Akten-System einigen können, ist einfach nur peinlich. Vielleicht sind die Länder mit der Justiz auch überfordert, mit der Digitalisierung ohnehin. Die letzte JuMiKo sieht wie ein Beleg dafür aus – keine Einigung, nur ein kleinster gemeinsamer Nenner auf dem Niveau einer Binse und der Ruf nach Geld vom Bund. Die „technische Ertüchtigung“ der Gerichte in Deutschland ist aber nur die eine Sache. Teuer, aber machbar. Wichtiger – Stichwort Gerichtslinde und Digitalisierung – ist die Frage, wie wir künftig Konflikte lösen wollen. Nur noch elektronisch und per Video? Oder immer im persönlichen Kontakt? Wo ist der richtige Mittelweg? Wie will die Justiz ohne entsprechende Technik mit immer umfangreicheren Schriftsätzen umgehen, oder mit Tausenden überwiegend gleichartigen Eingaben, ohne mit Hilfe von Software Muster und Abweichungen erkennen zu können? Warum wird die Justiz nicht in die Lage versetzt, Vorgaben für den schriftlichen Parteivortrag zu machen – Stichwort „strukturierter Parteivortrag“? Ist, um nur ein Beispiel zu nennen, der englische Weg, Small Claims Courts zu schaffen, in denen Streitigkeiten mit geringeren Streitwerten in schnelleren und strukturierten Verfahren beigelegt werden, eine Lösung? Warum kann für die Anmeldung gleichartiger und standardisierter Verbraucheransprüche einschließlich erster Prüfung der Erfolgsaussichten innovative Software eingesetzt werden, aber vor Gericht muss so getan werden, als sei jeder Fall ein Einzelfall? Die obengenannten 20.000 Fälle lassen sich ja nicht einmal mit der Musterfeststellungsklage lösen. Wenn ein Gericht nicht nur ein Gebäude ist, sondern ein Service: Wie muss eine Verbrauchergerichtsbarkeit aussehen, damit sie solche Verfahren effektiv und kosteneffizient behandeln kann, um die Verfestigung von privaten Streitschlichtungsverfahren, die sich staatlichen Regeln entziehen, zu verhindern? Das neue Buch von Richard Susskind „Online Courts and the Future of Justice” hat dazu viele gute Ideen, natürlich keine Patentrezepte, aber Diskussionsmaterial. Deutlich wird: Justizgebäude stehen häufig unter Denkmalschutz. Für die Justiz sollte das aber nicht gelten. Das sind nicht nur Fragen der technischen Machbarkeit, sondern auch des politischen Willens, der über die Reform der Verfahrensordnungen umgesetzt wird. Die Arbeits- und die Sozialgerichtsbarkeit haben bereits begonnen, und man kann sie nur ermutigen, weiterzudenken: Denn auf die Arbeitsgerichte kommt eine riesige Welle an neuen Klagen zu, die man mit dem Instrumentarium von heute nicht bewältigen wird. Für die Sozialgerichtsbarkeit gilt Ähnliches. Angesichts der vielen möglichen Gestaltungsformen ist vielleicht eine Enquetekommission erforderlich, die außerhalb politischer Loyalitäten nur über die Sache diskutieren kann. Nicht alles müsste neu erfunden werden, im Gegenteil: Viele der europäischen Mitgliedsstaaten haben ihre Justiz bereits modernisiert und Erfahrungen damit gemacht. Davon könnten und sollten wir lernen.