Eine Studie der Boston Consulting Group (BCG) attestiert Deutschland in Sachen Digitalisierung großen Nachholbedarf (siehe hier). „Die Digitalisierung der Justiz hinkt hinter den führenden Ländern hinterher, während die Überlastung der Gerichte, der Kostendruck und die bevorstehende Pensionierungswelle den Druck zur Modernisierung und Digitalisierung der Gerichte erhöhen“, sagt Dr. Christian Veith, Senior Advisor bei BCG und Co-Autor der Studie.
Immerhin: 47% der Kanzleien und 53% der Insolvenzverwalter haben bereits den Großteil ihrer Prozesse digitalisiert. In den Justizbehörden sieht es dagegen anders aus. Weil sie zur Führung einer elektronischen Akte (E-Akte) und damit zur aktiven Teilnahme am elektronischen Rechtsverkehr (ERV) erst ab dem 01.01.2026 verpflichtet sind, gehen die Behörden die Digitalisierung langsamer an. Die Folge: eine enorme Diskrepanz im Digitalisierungsreifegrad, die sich immer mehr als Showstopper einer fruchtbaren Zusammenarbeit von Kanzleien und Behörden herausstellt.
Innovationsbremse Föderalismus
Als herausfordernd erweist sich in diesem Kontext aber nicht nur der Unterschied im Reifegrad der Digitalisierung, sondern vor allem die Tatsache, dass im föderalistisch organisierten Deutschland die Justiz der Länderhoheit unterliegt. Das bedeutet, der Bundesgesetzgeber kann nur die Rahmenbedingungen der Justizdigitalisierung definieren – entscheiden und umsetzen müssen die Digitalisierung schlussendlich die einzelnen Bundesländer. Diese sind zwar gewillt, die Fristen für die Einführung des ERV einzuhalten – allerdings sind die Wege dorthin durchaus sehr unterschiedlich. Die Folge: ein digitaler Flickenteppich. Das führt nicht nur dazu, dass Rechtsanwälte und Kanzleien überarbeitet und gestresst sind, weil die Anforderungen seitens der Gerichte von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich sind. Vielmehr ist die Justiz auch viel zu viel mit sich selbst beschäftigt und auf die eigenen Anforderungen fokussiert, als dass sie in der Lage wäre, von den seitens der Kanzleien bereits gesammelten Erfahrungen zu profitieren.
Aber unabhängig davon, dass der Föderalismus und die mangelnde Offenheit den Digitalisierungsfortschritt ausbremsen, werden auch andere Chancen vertan. Ein gutes Beispiel dafür, dass Überlegungen von Seiten der Justiz vielfach nicht zu Ende gedacht werden, ist der Umgang mit den Anforderungen an Namenskonventionen von Dateien und Dokumenten. Anstatt die Plausibilität vorhandener Strukturdatensätze zu nutzen, wurde durch die verschiedenen Justizbehörden festgelegt, welche Namen Dateien und Dokumente haben müssen, wenn sie von den Kanzleien bei Gericht eingereicht werden, beispielsweise die Insolvenztabelle oder auch die Berufungsbegründung. Und diese Vorgaben sind dann wieder bundesland- beziehungsweise gerichtsspezifisch. Das hat zur Folge, dass ein Rechtsanwalt oder Insolvenzverwalter, der in mehreren Bundesländern tätig ist, letztlich für jedes Gericht einzeln prüfen muss, ob die Dateien korrekt bezeichnet sind. Das erhöht nicht nur den Frust, sondern auch den Aufwand innerhalb der Kanzleien – in Zeiten akuten Mitarbeitermangels ebenfalls ein nicht zu vernachlässigender Faktor.
Gemeinsam stark
Doch es gibt noch Hoffnung im Umgang mit den Namenskonventionen. Da sich die Bundesländer nach wie vor nicht auf einen einheitlichen Standard der Dateibezeichnungen einigen können, springt die Softwareindustrie mit kreativen Lösungsvorschlägen ein. Um die digitale Kommunikation zwischen Anwaltschaft und Justiz zu erleichtern, bieten vereinzelte Kanzleimanagementlösungen, beispielsweise von STP, die Möglichkeit, für jedes Gericht voreinzustellen, welche Datei- und Dokumentbezeichnungen beim Versand von elektronischen Nachrichten an das Gericht Verwendung finden sollen. Dies erspart etwa einem Insolvenzverwalter vor dem digitalen Versand von Unterlagen die Prüfung der individuellen gerichtlichen Anforderungen und damit wertvolle Zeit.
Zu Erleichterung tragen zudem das für die Justiz eingeführte Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) und das Pendant, das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK), bei. Beide sind eingeführt worden, um eine rechtssichere, digitale Kommunikation zu ermöglichen. Damit sind zwar die Voraussetzungen geschaffen, aber das allein reicht nicht aus. Mehr als 50% der Rechtsanwälte arbeiten mit einer Kanzleisoftware und erwarten hier eine integrierte Kommunikation mit dem beA-System. Deshalb ist kurz nach dem Start des beA-Webportals der Anwaltskammer eine Kanzleisoftware-Schnittstelle (KSW-Schnittstelle) geschaffen worden. Problematisch dabei: In der Vergangenheit hat sich die Kammer in erster Linie um die Weiterentwicklung des BRAK-eigenen beA-Webportals gekümmert – weniger um die KSW-Schnittstelle. So sind auch bisher nicht alle Neuerungen und Komfortfunktionen des beA-Webportals in die KSW-Schnittstelle übernommen worden, was zu Spannungen zwischen den Herstellern von Kanzleisoftware und der BRAK geführt hat. Kein Wunder, ist die Kommunikation über eine Schnittstelle zu beA für die überwiegende Mehrzahl der Kanzleien doch ein zwingendes Erfordernis in ihrer täglichen Arbeit.
Dieser Umstand beschäftigt auch den Software-Industrieverband elektronischer Rechtsverkehr (SIV-ERV), in dem die meisten Hersteller von Kanzleisoftware organisiert sind. Er sieht sich als Sprachrohr der Hersteller und ihrer Kunden und forciert deshalb die Kommunikation gegenüber der Justiz sowie der BRAK. Inzwischen hat man auch auf Seiten der Kammer erkannt, dass man von einer Zusammenarbeit profitieren könnte. Regelmäßig tauschen sich beide Seiten aus, so dass die Kammer aus den Erfahrungen der Softwareindustrie lernen und die richtigen Impulse für die eigenen Digitalisierungsprojekte ableiten kann.
„Vernünftige Digitalisierung“
Dieser Austausch zwischen Herstellern und Justiz betrifft ganz konkret die KSW-Schnittstelle, denn die Behörden haben die Expertise der Softwarehersteller erkannt und binden sie verstärkt in die Weiterentwicklung der Schnittstelle ein. Das ebnet den Weg bei der Einführung des ERV in den Justizbehörden nicht nur, sondern beschleunigt ihn zudem. Positiver Nebeneffekt: Die Spannungen zwischen den Softwareherstellern, ihren Kunden und der Justiz lassen nach.
Das alles erlaubt einen optimistischen Ausblick auf die Zukunft der elektronischen Kommunikation. Wünschenswert wäre, dass dieses neue Selbstverständnis auf andere Bereiche ausgeweitet würde. Dabei könnte es helfen, dass Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann den Ländern für die kommenden Jahre 200 Millionen Euro für Projekte zur Digitalisierung ihrer Justizbehörden in Aussicht gestellt hat (FAZ vom 26.10.2023, siehe hier). Um dieses Geld möglichst zielführend einzusetzen, wäre es ratsam, auf die Erfahrungen der Anwaltschaft sowie des SIV-ERV zurückzugreifen.
Sicherlich gibt es zahlreiche Ansätze dazu, mit welchen Projekten, Strukturen und Technologien sich der Digitalisierungsgrad der deutschen Justiz effektiv vorantreiben lässt. Dann müssten die Justizbehörden nicht wieder bei null anfangen, sondern könnten Fehler vermeiden und das deutsche Rechtswesen gemeinsam mit allen Beteiligten erfolgreich in ein Zeitalter der „vernünftigen Digitalisierung“ führen. Das würde der Zusammenarbeit von Behörden und Anwaltschaft den langersehnten und längst überfälligen positiven Schub verleihen.


