Wieviel Fortschritt ist zu finden?

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Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ prangt in großen Lettern unter künstlerisch gestalteten rot-grün-gelben Balken auf der Titelseite des mit Spannung erwarteten Koalitionsvertrags zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP. Doch wie viel Fortschritt findet sich zum Thema e-Justice in dem 177 Seiten starken Dokument? Wir haben den Koalitionsvertrag diesbezüglich einmal genauer unter die Lupe genommen.

Digitalisierung im Fokus

Es dürfte kein Zufall sein, dass die Themen Modernisierung und Digitalisierung, welche die „Ampel-Koalition“ schon seit Beginn der Koalitionsverhandlungen in den Fokus gerückt hat, direkt an erster Stelle im Koalitionsvertrag stehen. Für die spannendsten Vorhaben im Bereich e-Justice muss man aber ein gutes Stück weiterlesen: Erst auf Seite 106 des Vertrags finden sich die folgenden Zeilen, die aber – eine konsequente Umsetzung der Vorhaben vorausgesetzt – ein beträchtliches Veränderungspotential im Bereich der Justiz mit sich bringen könnten.
Dort heißt es:

„Verhandlungen sollen online durchführbar sein, Beweisaufnahmen audio-visuell dokumentiert […] werden. Kleinforderungen sollen in bürgerfreundlichen digitalen Verfahren einfacher gerichtlich durchgesetzt werden können. […]
Vernehmungen und Hauptverhandlung müssen in Bild und Ton aufgezeichnet werden. […] Gerichtsentscheidungen sollen grundsätzlich in anonymisierter Form in einer Datenbank öffentlich und maschinenlesbar verfügbar sein.“

In nur wenigen Sätzen finden sich also vier Kernthemen in Sachen e-Justice, die im Folgenden näher beleuchtet werden sollen:

  • die Durchführung von Online-Gerichtsverhandlungen,
  • die Abkehr vom Wort- bzw. Formalprotokoll zugunsten einer Videoaufzeichnung,
  • digitale Verfahren zur Durchsetzung von Kleinforderungen sowie
  • eine öffentliche Gerichtsentscheidungsdatenbank.

Onlineverhandlungen

Die Frage der Online-Durchführung von Verhandlungen vor den Zivilgerichten ist weniger rechtlicher als tatsächlicher Art, sind die rechtlichen Möglichkeiten mit § 128a ZPO doch bereits seit fast zwei Jahrzehnten weitestgehend gegeben. Es wird allerdings voraussichtlich eine Klarstellung erfolgen, dass auch Güteverhandlungen gemäß § 278 Abs. 2 ZPO und Verfahren zur Abnahme der Vermögensauskunft gemäß § 802f ZPO in die Vorschrift einbezogen sind. Möglich wäre auch eine Änderung dahingehend, dass die Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung auf Antrag einer Partei verpflichtend angeordnet werden muss, statt im Ermessen des Gerichts zu liegen. Wie bei den Zivilgerichten gibt es auch bei den Arbeitsgerichten, Verwaltungsgerichten, Finanzgerichten und Sozialgerichten bereits heute die rechtliche Möglichkeit einer Durchführung der Verhandlung per Bild- und Tonübertragung und damit wenig Änderungsbedarf.

Aus praktischer Sicht hingegen gibt es durchaus genug zu tun, denn längst sind noch nicht alle Gerichte auch tatsächlich in der Lage, regelmäßig Onlineverhandlungen durchzuführen. Es sollte daher der Schub, den Onlineverhandlungen durch die Corona-Pandemie bekommen haben, genutzt und unter dem Stichwort „digitale Infrastruktur“ die technische Ausstattung der Gerichte sowie die generelle Verfügbarkeit von High-Speed-Internet vorangetrieben werden. Sicherlich sinnvoll wäre es auch, den derzeitigen Flickenteppich zu beenden und sich auf eine bundeseinheitliche Videokonferenztechnik zu verständigen, die aus Gesichtspunkten des Datenschutzes und der IT-Sicherheit den erforderlichen Standards genügt, oder eine solche Technik zu entwickeln. Auch die Idee, dies über ein bundesweites Justizportal zu verwirklichen, ist eine Diskussion wert.

Eine Online-Verhandlung bei Strafprozessen ist derzeit außerhalb der §§ 136 Abs. 4, 247a, 255a Abs. 2, 58a, 58b StPO zum Schutz von Zeugen nicht möglich. Gewiss könnte man hier überlegen, inwieweit weitere Teile des Strafprozesses virtuell stattfinden könnten und ob dies überhaupt sinnvoll wäre. Dass dies ein Schwerpunkt der künftigen Regierung werden wird, darf allerdings bezweifelt werden.

Videoprotokollierung

Sicher ein großer Schritt wäre das Ersetzen des derzeitigen schriftlichen Wort- bzw. Formalprotokolls im Strafprozess durch die Aufzeichnung der Hauptverhandlung in Bild und Ton, welche nicht nur in zahlreichen Ländern im europäischen und außereuropäischen Ausland lange erprobt ist, sondern auch bereits ausführlich durch eine Expertengruppe evaluiert wurde. Ob es sich dabei um eine reine Videoaufzeichnung handelt oder diese im Anschluss in Form einer Niederschrift – womöglich mit Unterstützung von Spracherkennungssoftware – verschriftlicht werden soll, lässt sich aus dem Koalitionsvertrag nicht entnehmen.

Wie dem auch sei: Eine solche Umstellung würde in einem erheblichen Maße zu einer effektiven Rechtsmittelkontrolle im Strafprozess sowie zur Wahrheitsfindung beitragen und wäre damit ein entscheidender und längst überfälliger Schritt zu mehr Gerechtigkeit. Denn derzeit wird bei Land- und Oberlandesgericht unverständlicherweise nur die Tatsache einer Vernehmung als solche, nicht jedoch der Inhalt der Vernehmung, protokolliert. Schwierigkeiten dürften allenfalls die praktische und die finanzielle Umsetzung darstellen, denn auf die über 1.000 Gerichte in Deutschland würde zunächst einmal nicht unmaßgeblicher Mehraufwand zukommen.

Auch die audio-visuelle Dokumentation der Beweisaufnahmen, insbesondere von Zeugenaussagen, in anderen Gerichtsverfahren abseits des Strafprozesses würde eine erhebliche Verbesserung des Status quo darstellen. Denn obwohl dort immerhin inhaltliche Angaben festgehalten werden, entstehen diese letztlich in Form einer Zusammenfassung durch den Filter der diktierenden Richterinnen und Richter. Eine Videoaufzeichnung würde für diese nicht nur eine Arbeitsentlastung mit sich bringen, sondern sie böte ihnen auch die Möglichkeit, sich Zeugenaussagen unverfälscht erneut anzusehen.

Digitale Verfahren für Kleinforderungen

Bei ihrem Ziel, die Durchsetzung von Kleinforderungen in bürgerfreundlichen digitalen Verfahren zu ermöglichen, muss die Koalition nicht bei null starten. So war bereits am 16. August 2021 in einer Pressemitteilung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz („BMJV“) zu lesen, dass im Projekt „Digitale Klagewege“, einer Kooperation zwischen dem BMJV und Tech4Germany, der Prototyp für ein Online-Tool zur Einreichung einer Klage entwickelt werden soll, wobei zunächst mit mietrechtlichen Ansprüchen begonnen werden soll. Das erklärte Ziel des Projekts ist es laut Pressemitteilung, ein „zeitgemäßes Angebot der Justiz“ zu schaffen, welches gleichgelagerte Verfahren „einfacher, schneller und ressourcenschonender“ bearbeiten kann.
Die Forderung nach einem solchen Verfahren kam bereits zuvor aus der Richterschaft selbst: Die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ schlägt in ihrem gleichnamigen Diskussionspapier für Massenklagen zwischen Verbrauchern und Unternehmen mit Streitwerten bis zu 5.000 Euro die Einführung eines beschleunigten Online-Verfahrens mit intelligenten Eingabe- und Abfragesystemen vor, welches vollständig im Wege elektronischer Kommunikation und an zentralen Online-Gerichten geführt werden soll. Die Ampel-Koalition muss hier also die bestehenden Ideen nur konsequent und zeitnah umsetzen, was angesichts der zunehmend überlasteten Gerichte dringend anzuraten ist.

Öffentliche Gerichtsentscheidungsdatenbank

Auch wenn viele Gerichtsentscheidungen der Zivil- und Verwaltungsgerichte bereits heute im Internet verfügbar sind, müssen sich Interessenten bislang mühsam durch verschiedene Datenbanken klicken oder auf kommerzielle Angebote zurückgreifen, was eine bundesweite Gerichtsentscheidungsdatenbank leicht beheben könnte.
Der interessantere Anwendungsbereich einer solchen Datenbank liegt allerdings im Bereich des Strafrechts, wo Urteile bisher deutlich seltener veröffentlicht werden: Soll angesichts erheblicher regionaler Strafmaßunterschiede eine Strafzumessungsdatenbank nach japanischem Vorbild aufgebaut oder perspektivisch sogar die Grundlagen für eine potentielle Unterstützung durch KI-Systeme geschaffen werden, was keinesfalls mehr als Zukunftsmusik abgetan werden sollte, ist dafür eine umfangreiche Datenbank von Urteilen in maschinenlesbarer Form notwendig.
Dass die künftige Regierung derart weitreichende Änderungen im Bereich des Strafrechts und der Justiz vornehmen wird, ist unwahrscheinlich. Nichtsdestoweniger kann mit dem Aufbau einer Datenbank der Grundstein für zukünftige ambitioniertere Projekte gelegt werden.

Fazit: Die Ampel steht auf Grün – jetzt zählt Geschwindigkeit

Die von der neuen Regierung vorgesehenen Maßnahmen im Bereich e-Justice sind richtig und wichtig. Die meisten Vorschläge sind nicht gänzlich neu, manches wurde bereits von der vorherigen Regierung in die Wege geleitet oder wurde angesichts der Corona-Pandemie unumgänglich. An einer gewissen Priorisierung und Ernsthaftigkeit schien es jedoch bisher mitunter zu fehlen. Diesbezüglich macht der Koalitionsvertrag durchaus Hoffnung, entscheidend wird allerdings die praktische Umsetzung der geplanten Vorhaben sein. Hier muss angesichts der noch immer großen Defizite die Schlagzahl deutlich erhöht werden. Sollte dies gelingen, könnte in der kommenden Legislaturperiode in Sachen e-Justice tatsächlich einiges an Fortschritt verzeichnet und ein großer Schritt Richtung digitales Zeitalter getan werden.

b.kohn@taylorwessing.com

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