In den öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten ist die stets beizuziehende Behördenakte über das vorangegangene Verwaltungsverfahren ein zentrales Erkenntnismittel. Zwar haben Behörden zuweilen denselben angestaubten Ruf, der den Gerichten anhaftet. Tatsächlich sind auch dort weitgehend digitalisierte Geschäftsprozesse und elektronische Behördenakten die gar nicht seltene Realität.[1] Deren Übermittlung ist dennoch bislang nur fragmentarisch normiert, deren Art und Weise stellt mindestens einen bundesweiten Flickenteppich dar. Hier will nun das Bundesjustizministerium (BMJ) eingreifen und hat den Referentenentwurf einer Behördenaktenübermittlungsverordnung (BehAktÜbVO) vorgestellt.[2]
Elektronische Behördenakten als Beweismittel
Elektronische Behördenakten unterfallen zunächst den gleichen rechtlichen Anforderungen wie konventionelle Papierakten. Auch in elektronische Akten kann Akteneinsicht genommen werden, sie werden in öffentlich-rechtlichen Gerichtsverfahren beigezogen, sie unterliegen den gleichen Grundsätzen der ordnungsgemäßen Aktenführung. Im Grunde nichts Neues also. Wären da nicht einerseits das oft diffuse, manchmal aber auch greifbare, Gefühl der Unvollständigkeit elektronischer Akten und andererseits die technische Herausforderung der Darstellung elektronischer Akten.
Die (elektronische) Behördenakte dient im öffentlich-rechtlichen Prozess als Beweismittel. Aus Sicht des klagenden Bürgers zunächst problematisch ist, dass sich dieses Beweismittel in der Hand und in der Einflusssphäre der beklagten Behörde befindet. Die Behörde bestimmt den Aufbau und das Aussehen des Beweismittels. Dies kann für den Prozess entscheidend sein. Gerade bei Aufhebungs- und Erstattungsstreitigkeiten kommt es nicht selten darauf an, ob beweisbar ist, dass eine bestimmte Mitteilung gemacht oder nicht gemacht, ein Hinweis oder eine Belehrung erteilt oder nicht erteilt worden sind. Hier kommt es maßgeblich vor allem auf die Vollständigkeit der Behördenakte an.
Der Beweiswert der elektronischen Akte
Dass eine Akte vollständig zu sein hat, liegt auf der Hand. Definitionen zum notwendigen Inhalt einer Akte finden sich aber kaum. Nicht einmal in Rechtsprechung und Literatur[3] hat sich insoweit eine auch nur ansatzweise unstreitige Meinung herausgebildet. Dennoch entspinnt sich gerade bei elektronisch geführten Akten auch in der Praxis schnell ein ebenso leidenschaftlicher, wie (oft) uninformierter Streit über die Vollständigkeit – letztlich die Verlässlichkeit – der Akte als Beweismittel.
Deren Beweiswert lässt sich aber nur bemessen, wenn die Akte „im Original“ ausgewertet und beurteilt werden kann. „Original“ meint, dass Papierakten in Papierform, elektronische Akten dagegen in digitaler Form vorzulegen sind. Bei elektronischen Akten ist das „Original“ ferner die Akte bestehend aus seinen Dokumenten im ursprünglichen Dateiformat („Grundsatz der Formattreue“ im Beweisrecht).
Dennoch übermittelt die überwiegende Mehrzahl der Behörden, die bereits ihre behördlichen Vorgänge elektronisch den Gerichten vorlegen, die Akten als (Gesamt-)PDF. Das heißt die elektronische Akte wird als eine einheitliche PDF-Datei vorgelegt, die – regelmäßig chronologisch – die einzelnen Aktenbestandteile enthält. Nachteil der Gesamt-PDF ist, dass sie für sich genommen nur schwer bearbeitbar ist, weil sie eine Strukturierung aufgrund der einheitlichen Datei kaum zulässt. Für das Beweisrecht schwerer wiegt, dass durch die Umwandlung sämtlicher Dokumente inhaltliche Informationen und Metadaten verlorengehen können, qualifizierte elektronische Signatur und Siegel sogar stets gebrochen werden.
Von der Justiz bevorzugt: xJustiz-Akten
Die Alternative zu großen Gesamt-PDF-Akten bilden Behördenakten nach dem xJustiz-Standard. Bei den xJustiz-Akten werden die einzelnen Dokumente, die die Akte bilden, jeweils als einzelne Datei im ursprünglichen Dateiformat übermittelt, so dass die elektronische Akte aus einer Vielzahl voneinander unabhängigen Dateien besteht. Die Chronologie oder auch eine sonstige Beziehung dieser einzelnen Dateien zueinander (beispielsweise die Zuordnung zu einzelnen Bänden der Akte etc.) ergibt sich bei dieser Übermittlungsform nur über eine mitübersandte XML-Datei nach dem xJustiz-Standard. Dabei ist diese Datei letztlich nicht ohne eine hierfür geeignete Software auslesbar[4], weil nicht einmal die Reihenfolge der Angabe der Dateien in der XML-Datei für die Chronologie steht.
xJustiz-Akten übersenden derzeit vor allem die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter als gemeinsame Einrichtungen im SGB II – beziehungsweise SGB III – Bereich, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und mehrere Unfallversicherungsträger. Einzelne Krankenkassen und die Deutsche Rentenversicherung prüfen eine zukünftige Nutzung des xJustiz-Standards. Von der Justiz – namentlich der Bund-Länder-Kommission für die IT in der Justiz (BLK) – wird dieser Standard ausdrücklich befürwortet und empfohlen.
Der Referentenentwurf einer BehAktÜbVO
Dass der BMJ nun beabsichtigt, von seiner Verordnungsermächtigung in § 298a Abs. 4 ZPO durch Einführung einer BehAktÜbVO Gebrauch zu machen, ist nach alledem zunächst positiv. Der nun vorliegende Entwurf leidet jedoch noch unter einigen kritikwürdigen Defiziten.
§ 2 Abs. 1 und 4 RefE: Übersendung im xJustiz-Standard
Es ist zu begrüßen, dass die Übersendung elektronischer Behördenakten im xJustiz-Standard angestrebt wird.
Zu beachten ist allerdings, dass die von dem RefE angestrebten Ziele nur durch die Übersendung von Behördenakten im xJustiz-Standard bestehend aus Einzeldokumenten erreicht wird. Nach der derzeitigen Formulierung des RefE wäre auch die Übersendung einer Gesamt-PDF der E-Akte gemeinsam mit einem xJustiz-Datensatz zulässig. Bei einer solchen Übersendung bleibt aber die Einhaltung des xJustiz-Standards ohne spezifischen Mehrwert.
Hinsichtlich der in § 2 Abs. 4 RefE geregelten Beifügung einer XML-Datei im xJustiz-Format ist nach den Erfahrungen mit der Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs im Übrigen eine bloße „Soll-Vorgabe“ nicht geeignet, einen Standard einzuführen. Dies gilt für das xJustiz-Format als Datenaustauschformat umso mehr, weil die (elektronischen) Behördenakten in behördlichen Fachverfahren geführt werden, die von vielen Behörden bereits beschafft, jedenfalls aber ausgeschrieben sind, ferner es zahlreiche Softwarehersteller gibt, die im Behördenumfeld E-Akten-Lösungen anbieten. Die wenigsten bestehenden Softwarelösungen bieten jedoch bereits heute einen Export im xJustiz-Format an. Die Bereitschaft der Behörden, eine entsprechende Änderung vorzunehmen beziehungsweise diese zeitlich zu priorisieren, dürfte deshalb bei einer „Soll-Regelung“ bereits aus fiskalischen Gründen gering sein. Um den gewünschten Standard zu etablieren, ist deshalb die Normierung einer „Muss-Vorschrift“ unabdingbar.
Unbedingt klarzustellen ist, dass § 2 Abs. 4 RefE nicht so zu verstehen ist, dass es ausreichend ist, eine Gesamt-PDF gemeinsam mit einer xJustiz-Datei zu übersenden, sondern dass stets die Akte in Einzeldokumenten zu verschicken ist. Andernfalls wird kein Mehrwert durch den xJustiz-Datensatz generiert. Es wird deshalb vorgeschlagen, § 2 Abs. 4 RefE wie folgt zu formulieren:
„Die elektronische Akte ist in Form der einzelnen Dokumente, die Aktenbestandteil geworden sind, im unveränderten Dateiformat zu übermitteln. Bei der Übermittlung ist ein strukturierter maschinenlesbarer Datensatz im Dateiformat XML beizufügen, der den nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 der Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung bekanntgemachten Definitions- oder Schemadateien entspricht.“
§ 2 Abs. 3 RefE: Keine Übersendung elektronischer Zertifikate
§ 2 Abs. 3 RefE sieht vor, dass qualifizierte elektronische Signaturen in der Behördenakte – gemeint sind sicher allgemein elektronische Zertifikate – nicht mitzuübersenden sind.
Elektronische Zertifikate (nicht nur die hier geregelten Signaturen, sondern auch elektronische Siegel) dienen aber nicht nur der Wahrung verfahrensrechtlicher Formvorschriften, sondern haben erhebliche Bedeutung für das Beweisrecht. Sie werden in den §§ 371a, 371b ZPO eingesetzt, um elektronische Dateien Urkunden gleichzustellen. Die Geltung der Regelung hätte zur Folge, dass dem Prozessgegner und dem Gericht bereits die Existenz dieser elektronischen Beweismittel nicht bekannt wäre.
Gerade diesen Zustand zu vermeiden, war die Intention hinter der Etablierung des xJustiz-Standards als Datenaustauschformat, weil unter Anwendung dieses Standards die Übersendung von unveränderten Einzeldokumenten – explizit einschließlich elektronischer Signaturen und Siegel – möglich geworden ist. Dieses auch von dem Diskussionsentwurf in § 2 Abs. 4 RefE vorgesehene Bestreben würde durch § 2 Abs. 3 letztlich konterkariert.
Die im RefE vorgesehene Übermittlung von Protokollen über die Prüfung von elektronischen Zertifikaten schafft an dieser Stelle keine Abhilfe, weil die Protokolle selbst nicht vor Veränderung geschützt sind und deshalb keinen Beweiswert haben. Im Übrigen steht die Übermittlung von Protokollen nach dem RefE im Beurteilungsspielraum der Behörde.
Ohnehin ist die Übermittlung auch von Prüfprotokollen (beziehungsweise richtiger Prüf- oder Transfervermerken) unabdingbar, weil nur sie Informationen darüber enthalten, auf welchen Übermittlungswegen die jeweiligen Dokumente die Behörde im elektronischen Verwaltungsverfahren erreicht haben. Nur durch die Übersendung elektronischer Zertifikate und durch diese Protokolle wird das Gericht deshalb in die Lage versetzt, die Einhaltung der Formvorschriften der §§ 3a VwVfG, 36 SGB I prüfen zu können.
Die mit der Übermittlung von elektronischen Zertifikaten und Prüfprotokollen verbundenen technischen Anforderung (Rechenleistung der Hardware, Speicherkapazitäten und Möglichkeiten der eingesetzten E-Akten-Software zum Ausblenden technischer Dokumente) können durch den Einsatz entsprechend ertüchtigter Systeme erfüllt werden.
§ 3 Abs. 1 und 2 RefE: Dateiformat PDF?
§ 3 Abs. 1 RefE entspricht wie § 2 Abs. 3 RefE nicht dem beweisrechtlichen Grundsatz der Formattreue. Dieser sollte nicht zugunsten einer (geringen) Verwaltungsvereinfachung aufgegeben werden. Jede Formatwandlung verringert den Beweiswert des vorgelegten elektronischen Dokuments als Augenscheinsobjekt i.S.d. § 371 ZPO, erst recht bei Verwendung elektronischer Zertifikate und im Anwendungsbereich der §§ 371a, 371b ZPO.[5]
Um diese Folgen aufzufangen, ist § 3 Abs. 2 Satz 2 RefE unzureichend. Das Gericht kann regelmäßig bereits jetzt nicht wissen und prüfen, ob durch das Repräsentat inhaltstragende Informationen unterdrückt werden. Die Prüfung, ob dies „zu befürchten ist“, allein in die Hände der übersendenden Behörde zu legen, erscheint auch mit Blick auf den Anspruch des Prozessgegners auf ein faires Verfahren problematisch und allein durch Gründe der technischen Vereinfachung nicht gerechtfertigt. Schließlich kann § 3 Abs. 2 Satz 2 RefE im Einzelfall zu Verfahrensverzögerungen und unnötiger (doppelter) Speicherplatzbelegung führen, wenn zunächst das Repräsentat und (erst) auf Anforderung das Original vorgelegt werden.
Fazit
Die Schaffung normativer Vorgaben für die Behördenaktenübermittlung ist sicher zielführend. Der nun vorliegende Referentenentwurf springt insoweit aber zu kurz – an manchen Stellen sogar kürzer als die vorrangigen gesetzlichen Grundlagen, beispielsweise in § 98 VwGO oder § 104 SGG. Hier besteht deshalb noch Nachbesserungsbedarf.
Es bleibt zu hoffen, dass das BMJ diese Nachbesserungen auch im Trubel eines anstehenden Regierungswechsels vornimmt. Die BehAktÜbVO unterfällt jedenfalls nicht der Diskontinuität, weil sie die im Gesetz bereits bestehende Verordnungsermächtigung aus § 298a Abs. 4 ZPO ausfüllt. Ihr Inkrafttreten steht deshalb trotz Neuwahlen bevor.
[1] Müller, ZFSH-SGB 2019, 73, 79 ff.
[2] BMJ – Aktuelle Gesetzgebungsverfahren – Verordnung über die Standards für die Übermittlung elektronischer Akten von Behörden und juristischen Personen des öffentlichen Rechts an die Gerichte im gerichtlichen Verfahren.
[3] beckOGK/Müller, § 104 SGG Rn. 16 ff.; jurisPK-ERV/Gädeke § 104 SGG Rn. 13 ff.
[4] https://ervjustiz.de/category/xjustiz-viewer.
[5] Vgl. Müller in jurisPK-ERV, § 371 ZPO Rn. 60; Trossen, jM 2024, 78; Achatz, BayVBl 2024, 37, 42.
Autor
Prof. Dr. Henning Müller
Sozialgericht Darmstadt
Direktor
henning.mueller@sg-darmstadt.justiz.hessen.de
www.sg-darmstadt,justiz.hessen.de


