Einleitung
Digitalisierung der Justiz, aus Sicht von Spöttern ein Oxymoron. So begann der Beitrag im vergangenen Jahr, in dem ich Beobachtungen über den Stand der Digitalisierung der Justiz nach einem Jahr Ampel-Regierung geschildert hatte. Die Frage lautete, ob es Fortschritte gebe, die Antwort war verhalten.
Blickt man jetzt, im Dezember 2023, zurück, bietet sich ein gemischtes Bild. Anfang 2023 gab es die Neuauflage des ROLAND Rechtsreports, Mitte des Jahres die Studie zum Rückgang der Eingangszahlen bei der Justiz. Die Ergebnisse aus diesen Studien sind teilweise beunruhigend. Gleichzeitig treibt das Bundesministerium der Justiz (BMJ) zwei Vorhaben voran, nämlich die Förderung von Videoverhandlungen mit bahnbrechenden Änderungsvorschlägen und schließlich im Herbst die Vorlage eines Referentenentwurfs zum Thema „Weitere Digitalisierung“. Die damit verbundenen Botschaften sind durchaus unterschiedlich.
BMJ-Studie
Mitte des Jahres ist die lange erwartete Studie über die Gründe des Rückgangs der Verfahrenszahlen in der Ziviljustiz vorgestellt worden. Die Ergebnisse waren deutlich, das Zeugnis für die Justiz nicht gut. Unter anderem hieß es dort: „Letztlich wurde in unserem Forschungsprojekt aber auch deutlich, dass viele justizielle Strukturen und Abläufe nicht dem entsprechen, was Wirtschaft und Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten an Entwicklung genommen haben.“ Nichts Neues also, denn das entspricht dem Eindruck, den viele seit Jahren von der Justiz hatten, doch da gab es eben noch keine Studie. Nun gibt es sie. Keine angenehme Lektüre, allerdings hilft es ja nichts, wenn man die Realität ausblendet. Aus der Studie ergibt sich erheblicher Handlungsdruck für die Rechtspolitik. Vielleicht ist es mir entgangen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass das BMJ oder Landesjustizministerien nach Vorlage dieser Studie ihre To-do-Listen vorgelegt hätten, um den beklagenswerten Status der Justiz – immerhin die zentrale Säule des Rechtsstaates, ohne die nichts geht – zu verbessern.
ROLAND Rechtsreport
Vor der BMJ-Studie gab es im Februar 2023 die Neuauflage des jährlichen ROLAND Rechtsreports, dieses Mal wieder mit einer eingehenden Befragung von Richterinnen und Richtern. Interessant am Vergleich des ROLAND Rechtsreports mit der Studie des BMJ ist, dass nach dem ROLAND Rechtsreport das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz nach wie vor sehr hoch ist. Dem gegenüber stehen die seit Jahren sinkenden Eingangszahlen bei der Ziviljustiz. Gründe dafür sind neben den Kosten die mangelnde Vorhersehbarkeit richterlicher Entscheidungen, verbunden mit einem zu hohen Kostenrisiko. Also großes Vertrauen einerseits, aber geringere Inanspruchnahme andererseits. Man müsste tiefer einsteigen, um zu eruieren, ob und gegebenenfalls welche Widersprüche vorliegen, zunächst ist es nur eine Beobachtung.
Ansonsten zeigte sich im ROLAND Rechtsreport heftige Unzufriedenheit von Richtern und Staatsanwälten am Zustand der Justiz. Vom Deutschen Richterbund (DRB) hieß es dazu, dass nur jeder Zehnte zufrieden sei, mehr als jeder Vierte habe einen schlechten Eindruck von der Arbeit der Ampel, 60% sähen Licht und Schatten. Neun von zehn Justizjuristen hielten es für die vordringliche Aufgabe der Bundesregierung, jetzt die im Koalitionsvertrag versprochene Neuauflage des Bund-Länder-Rechtsstaatspakts umzusetzen und die Justiz damit personell besser auszustatten (mehr dazu hier, auch mit einem Link zum ROLAND Rechtsreport). Die Botschaft hierbei lautet: Es sind nicht die Richterinnen und Richter, die auf der Bremse stehen, der Ärger geht Richtung Ampel (was unter anderem auch belegt, dass eigentlich alle finden, Justiz sei Bundessache, nicht Ländersache). Beste Freunde sind Richterschaft und Justizpolitik jedenfalls nicht.
Der „digitalaffine Kollegenkreis“
Zu unserem Thema der Digitalisierung und dem Stand der Dinge per heute zeigt sich, dass die Zahl der reformfreudigen und/oder „digitalaffinen“ Richterinnen und Richter immer größer wird. Jedenfalls ist inzwischen viel mehr von ihnen zu hören, und da es seit einigen Jahren ein deutlich höheres Interesse der Öffentlichkeit an der Justiz gibt, entsteht ein kommunikationsstärkerer Eindruck. Die interessanteste Quelle dafür ist der von Cord Brügmann herausgegebene Podcast „Rechtsgespräch“, in dem es um Innovationen im Rechtsmarkt und um den Zugang zum Recht geht (mehr dazu hier). In der 75. Folge vom 15.11.2023 war zum Beispiel Jörg Müller zu Gast, neuer Präsident des OLG Karlsruhe, der innovative Auffassungen zum Zivilprozess der Zukunft hatte, nicht nur zur Digitalisierung, sondern auch zu der Frage, ob man mit den zugrundeliegenden Verfahrensordnungen, die nicht mehr völlig taufrisch sind, tatsächlich allen denkbaren Arten von Rechtsstreiten gerecht werden kann.
Schaut man sich die Themen und Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner der anderen Podcast-Folgen an, ist man erstaunt über die hohe Zahl an Richterinnen und Richtern, die sich, was Justiz und Digitalisierung betrifft, längst nicht mehr hinter ihren Akten verbergen und auf bessere Zeiten hoffen beziehungsweise die Berufsverbände machen lassen, sondern sich organisieren, sich abstimmen und Vorschläge unterbreiten. Das sind auch nicht nur junge Richterinnen und Richter, von denen man das vielleicht erwarten würde, sondern viele Gerichtspräsidentinnen und Präsidenten oder Vorsitzende an Land- und Oberlandesgerichten.
Auf die Plattform „digitale richterschaft“ (siehe hier) – deren drei Initiatoren Dr. Christina-Maria Leeb, Prof. Dr. Simon J. Heetkamp und Dr. Christian Schlicht dem Fachbeirat dieses Online-Magazins angehören – ist schon im vergangenen Jahr an dieser Stelle hingewiesen worden. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Vernetzungsplattform, sondern um eine Fundgrube für die Themen der Digitalisierung der Justiz.
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass diese Art der Kommunikation und der Selbstorganisation den Diskurs über die Digitalisierung der Justiz stärker prägt als das, was etwa der Deutsche Richterbund tut. Ein Berufsverband tritt naturgemäß anders auf, der DRB kümmert sich mehr um Personalausstattung und Arbeitsbedingungen, während er in der Frage der Digitalisierung eher nicht zur Avantgarde gehört. In einer aktuellen Stellungnahme hieß es in der Einleitung: „Die vom Deutschen Richterbund vertretene Justizpraxis steht einer Digitalisierung und damit einhergehenden Bemühungen, Verfahrensabläufe zu verbessern und zu vereinfachen, grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Stets müssen jedoch die bezweckten Vorteile und zu erwartende nachteilige Folgen sorgsam abgewogen werden“ (siehe hier). Es ist wie bei Angela Merkel und dem Internet: Neuland. Wenn man „einer Digitalisierung […] grundsätzlich aufgeschlossen“ gegenübersteht, ist das etwas anderes, als die Digitalisierung der Justiz zu betreiben.
„Föderales Klein-Klein“
Aber warum geht es so langsam? Es gibt, wie gesagt, sehr viele Richter auch an verantwortlichen Stellen, die gerne ein höheres Tempo sehen würden, eine entschiedenere Vorgehensweise, vielleicht auch ein eigenes Budget für bestimmte Pilotverfahren. Vor kurzem forderte die Neue Richtervereinigung (NRV), ein Konkurrenzverband des Richterbundes, nicht nur mehr Geld, sondern auch „andere Strukturen“ (siehe hier). Dort ist das „föderale Klein-Klein“ für die Rückstände verantwortlich gemacht worden. Das ist bestimmt nicht falsch, doch das föderale Klein-Klein, jedenfalls der Föderalismus, hat nicht nur Verfassungsrang, sondern unterfällt der Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes. Es hilft also nicht viel, den Föderalismus zu beklagen, wohl aber das „Klein-Klein“, das wiederum föderalismusunabhängig zur deutschen Regierungs- und Verwaltungs-DNA gehört.
Natürlich: Dass jedes Land selbst entscheiden kann, wie es die Digitalisierung der Justiz angeht, ist suboptimal. Man kann solche Projekte nur so aufsetzen und durchführen, wie man eben Projekte aufsetzt – mit einer zentralen Leitung mit Entscheidungsbefugnis nach Anhörung von Betroffenen, die jedoch kein Veto haben. Das wäre auch im Föderalismus ohne Weiteres möglich. Die Länder haben sich aber noch keinen entsprechenden Ruck gegeben, trotz regelmäßiger Zusammenarbeit in der Justizministerkonferenz (JuMiKo), in der es immer um Angelegenheiten geht, die bundeseinheitlich geregelt werden müssen, wofür dann jedoch die Länder zuständig sind und wofür sie kein Geld haben. Wieder einmal zeigt sich: Justiz ist „eigentlich“ Bundessache, keine Ländersache. Eine Föderalismusreform ist allerdings nicht zu sehen.
Justizpolitik ist uninteressant
Möglicherweise ist aber auch der Föderalismus nicht die entscheidende Ursache dafür, dass die Digitalisierung nur langsam vorangeht. Eine andere These ist: Mit Digitalisierung gewinnt und verliert man keine Wahlen. Rechtspolitik ist ohnehin ein undankbares Gebiet, es ist nichts, womit Abgeordnete am Wochenende in ihren Wahlkreisen Eindruck machen können. Auch in weniger krisenbelasteten Zeiten ist das Interesse der Bevölkerung an der Digitalisierung von Verwaltung und Justiz eher gering. Am Berliner Beispiel merkt man, was man auszuhalten bereit ist – eine dysfunktionale Verwaltung auf Senats- und Bezirksebene wird achselzuckend hingenommen, wie das Wetter. Darauf reagiert Politik, indem sie sich nur um das kümmert, was lautstark gefordert wird. Das sind nicht Personalausstattung und Digitalisierung der Justiz. Also wird die Justiz nachrangig behandelt. Geld ist nie genug da, und mehr Steuern für die Justiz (oder andere systemrelevante Einrichtungen der Infrastruktur, die für das Funktionieren eines modernen Staates unverzichtbar sind) wären indiskutabel. Wie man aus diesem Dilemma herausfindet, hat noch niemand sagen können.
Video, Streaming und weitere Digitalisierung
Es ist jedoch nicht so, dass nichts passieren würde! Das Gegenteil ist der Fall. Das BMJ befasste sich seit Längerem mit der Förderung von Videoverhandlungen in Gerichtsverfahren und hat jetzt nach einer Anhörung im Rechtsausschuss bahnbrechende Vorschläge vorgelegt, nachdem ein erster Aufschlag noch sehr verhalten war und aus mehr Kosmetik als Änderungen bestand. Geplant ist zum Beispiel die Möglichkeit von Videoverhandlungen aus dem richterlichen Homeoffice. Die Öffentlichkeit soll in den Genuss von Videostreaming kommen, was nicht weniger als ein Paradigmenwechsel wäre. Der Deutsche Richterbund (DRB) hat gleich mehr Geld für die IT-Ausstattung der Justiz gefordert, und: recht hat er.
Sodann hat das BMJ einen Referentenentwurf zur weiteren Digitalisierung vorgelegt, der eine Reihe von Fragen des materiellen und des Verfahrensrechts adressiert mit dem Ziel, Medienbrüche weitgehend abzuschaffen, um dadurch den elektronischen Rechtsverkehr zu erleichtern. Von Digitalisierung ist das noch entfernt, es geht eher um die Schaffung einer digitalen Infrastruktur als Voraussetzung für die Digitalisierung.
Der Referentenentwurf kommt einigermaßen kleinteilig daher, weil in zahlreichen Gesetzen kleinere und mittlere Änderungen vorgenommen werden, doch das BMJ hat, als Premiere, eine Synopse der bestehenden Regeln mit den neuen Regeln vorgelegt, was man nur begrüßen kann, weil sich dadurch die vielen Änderungen viel besser erschließen lassen. An einigen Stellen ist der Entwurf etwas verhalten bzw. seltsam timide, aber das wird im Gesetzgebungsverfahren alles diskutiert werden. Auch die Frage, warum man den Ländern mehr als weitere 10 (in Worten: zehn) Jahre gibt, um spätestens 2035 die Einführung der E-Akte komplett umgesetzt zu haben. Diese Fristverlängerung wird damit begründet, dass es bisher nicht gelungen sei, vertrauliche Aktenbestandteile in die digitale Form zu bringen. Natürlich wissen alle bereits seit dem Jahr 2016, dass sie zum 01.01.2026 nur noch mit der E-Akte arbeiten dürfen, doch das hat nicht alle Länder motiviert, rechtzeitig tätig zu werden. Nun wird beklagt, dass die verbleibende Zeit – immerhin: mehr als zwei Jahre! – nicht ausreiche. Dafür gibt es gleich zehn Jahre Bonus. Aber: Wahlen verliert man deswegen nicht.
Epilog
Hört man das oben genannte Rechtsgespräch mit Jörg Müller, dann bekommt man einen Eindruck davon, wie die Justiz der Zukunft aussehen könnte, und das hat etwas Realistisch-Visionäres an sich (siehe hier). Das zeigen auch die anderen Rechtsgespräche mit Richterinnen und Richtern und stimmt hoffnungsfroh. Blickt man dann auf den Referentenentwurf des BMJ, ist man wieder im Alltag. Doch man kann bekanntlich nicht alles haben.
Autor
Markus Hartung
Bucerius Center on the Legal Profession an der Bucerius Law School, Hamburg
Senior Fellow,
Rechtsanwalt und Mediator, Berlin
markushartung@me.com
www.markushartung.com


