e-Justice ist eine Publikation der Produktfamilie Deutscher AnwaltSpiegel

e-Justice ist eine Publikation der Produktfamilie Deutscher AnwaltSpiegel

Aktuelle Ausgabe

Die VR-Revolution im Justizwesen

Artikel anhören
Artikel zusammenfassen
Teilen auf LinkedIn
Teilen per Mail
URL kopieren
Drucken

Virtual-Reality-Anwendungen (VR) drängen immer stärker in den Alltag der Menschen. Dabei werden sowohl Hardware als auch Software immer leistungsfähiger. Die neueste Generation der VR-Brillen kann immer bessere Bilder erzeugen und ist teils auch für Augmented-Reality-Anwendungen (AR) einsetzbar. Welche Fortschritte die VR-unterstützende Technologie gemacht hat, zeigt etwa ein Interview des Informatikers, Podcasters und Youtubers Michael Fridman mit Meta-Chef Zuckerberg. In dem auf YouTube auffindbaren ­Video führt Fridman mit Zuckerberg das „erste Interview im Metaverse“. Während die beiden in Realität mehrere Hundert Kilometer voneinander entfernt sitzen, sprechen im Interview zwei Avatare miteinander, die dank foto­realistischer Aufnahmen durch Kodak kaum von echten Menschen zu unterscheiden sind (siehe hier).

Anwendungen in der juristischen Ausbildung

VR-Anwendungen werden in der Privatwirtschaft an verschiedener Stelle genutzt, um Mitarbeiter schneller und effizienter zu schulen. Zum Beispiel versetzen Maschinenbauer ihre Lehrlinge in virtuelle Welten, um dort die erforderlichen Handgriffe für bestimmte Reparaturen zu zeigen und die Lehrlinge – ohne Vorliegen entsprechender, realer Arbeitsgegenstände – einfach mal „machen zu lassen“. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Während sich die für das Training benötigte Zeit um 75% verringern ließ, erhöhte sich die Genauigkeit des Verständnisses bei den Teilnehmern um 33%.

Aber auch wenn nicht geschraubt, sondern nur gesprochen wird, haben VR-Anwendungen – insbesondere auch im Vergleich zu Videocalls – entscheidende Vorteile. Denn entsprechende Studien zeigen, dass die in Videokonferenzen unter dem Begriff „Zoom Fatigue“ bekannt gewordene Müdigkeit in VR-Besprechung nicht so schnell auftritt. Auch fühlen sich die Teilnehmer präsent und können aufmerksamer und fokussierter zusammenarbeiten.

Anwendungen in der Justiz

Anfang 2023 sorgte eine kolumbianische Richterin für ­Furore, als sie kurzerhand eine über zweistündige Gerichtsverhandlung im Metaverse, genauer in Metas VR-App Horizon Workrooms, stattfinden ließ (siehe dazu einen Bericht hier). Sie begründete dies damit, dass diese Art der Gerichtsverhandlung schneller, effizienter und – für weit entfernt wohnende Parteien – auch leichter zugänglich sein könne. Für Deutschland ist ein solches Vorgehen (noch) undenkbar. So zeigt die aktuelle Reform von § 128a Zivilprozessordnung (ZPO), wie kleinteilig die Debatte ist und wie schwer manchen die Vorstellung fällt, dass Richter nicht körperlich im Gerichtssaal anwesend sind. Rechtlich könnte man sich allenfalls im Rahmen von § 495a-ZPO-Verfahren eine gerichtliche Verhandlung im Metaverse vorstellen.

Ein weiterer Bereich der Justizdigitalisierung betrifft die Rechtsantragsstellen, die durch verschiedene Maßnahmen in die digitale Gegenwart geholt werden sollen. So wird erwogen, die Rechtsantragsstellen mit einem Chatbot zu unterstützen. Dieser könnte auf der Homepage des jeweiligen Gerichts platziert werden und den recht­suchenden Bürger in seinem Anliegen unterstützen. Dabei geht es nicht nur um profane Dinge wie Öffnungszeiten und Terminvereinbarungen. Vielmehr soll ein entsprechender Chatbot das bürgerliche Begehr zutreffend identifizieren und sodann darüber aufklären, welche Unterlagen der Antragsteller mitzubringen hat. Zudem sieht der neue § 129a Abs. 2 ZPO vor, dass der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle Anträge und Erklärungen auch per Bild- und Tonübertragung aufnehmen kann. Erweitert man diese Ansätze konsequent um eine VR-Komponente, liegt die Schaffung einer VR-Antragsstelle im Metaverse nahe.

Ein weiteres Einsatzszenario für VR-Technologie liegt in der juristischen Ausbildung beziehungsweise dem Transfer von juristischem Wissen in die Zivilgesellschaft. So ist an der Technischen Hochschule (TH) Köln von ­einem Studierendenteam unter Begleitung des Verfassers ein virtueller Gerichtssaal erarbeitet worden, in dem sich Nutzer und Nutzerinnen frei bewegen können. Dabei sind an vielen Stellen Informationspunkte hinterlegt. Die Nutzer können nun selbstbestimmt die dort hinterlegten Informationen aufnehmen und ihr Wissen abschließend an einer virtuellen Teststation verproben. Denkbar wäre es, diesen virtuellen Gerichtssaal in Rechtskunde-AGs an Schulen oder in der Erwachsenenbildung – etwa an Volkshochschulen – einzusetzen. Auch Rechtsanwälte könnten einen solchen virtuellen Gerichtssaal nutzen, um Mandanten auf einen anstehenden Gerichtstermin vorzubereiten. Ein Einsatz in der rechtswissenschaftlichen Lehre ist etwa in Grundlagenveranstaltungen denkbar. Auch könnten Moot Courts, also simulierte Gerichtsverhandlungen, in dem virtuellen Gerichtssaal durchgeführt werden.

Der Verfasser nutzt den vorliegenden virtuellen Gerichtssaal nun in einem weiteren Projekt, in dem ein Avatar in den virtuellen Gerichtssaal als Zeuge platziert wird. Dieser virtuelle Zeuge soll sodann mit einem großen Sprachmodell gekoppelt und mit einem fiktiven Sachverhalt „gefüttert“ werden. Ziel dieses Projekts ist wiederum der Einsatz in Lehre und juristischer Ausbildung. So könnten angehende (Probe-)Richter in diesem VR-Szenario eine Zeugenvernehmung üben. Gleiches gilt für Rechts­anwälte. In der Lehre könnten den Studierenden zum einen Grundzüge des Zivilprozesses, insbesondere der Beweisaufnahme, erläutert und ihnen zum anderen die Möglichkeit gegeben werden, selbst einen Eindruck davon zu bekommen, welche Herausforderungen eine Zeugenvernehmung mit sich bringt.

In einer isländischen Studie wurde ein VR-Gerichtssaal genutzt, um herauszufinden, welche Auswirkungen die Aussage vor Gericht auf Opfer sexueller Gewalt hatte. Nachdem die Opfer in einem echten Gerichtsverfahren ausgesagt hatten, sind sie durch den virtuellen Gerichtssaal erneut dieser Belastungssituation ausgesetzt und ihre Reaktionen ausgewertet worden.

Denkbar wäre es, Opfer sexueller Gewalt durch virtuelle Gerichtssäle auf ihre anstehende Zeugenaussage vorzubereiten oder aber sie im Nachgang unter psychologischer Begleitung erneut der Gerichtssituation auszusetzen, um die bleibenden psychologischen Belastungen zu mini­mieren.

Wagt man einen Seitenblick auf Augmented-Reality-­Anwendungen, stößt man auf das Start-up „Transcribe­­Glass“. Die mit entsprechender Software unterstützte AR-Brille kann – sofern die sie tragenden Nutzer eine ­andere Person anschauen – in Echtzeit das von der anderen Person gesprochene Wort als Untertitel einblenden. Dies könnte es Gehörlosen ermöglichen, an Gerichtsverhandlungen selbstbestimmt teilzunehmen.

Anwendungen in der außergerichtlichen Streitbeilegung

Auch in außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahren ist die Anwendung von VR-Elementen denkbar. Dabei ­müsste – selbst bei der Anwendung von den oben für Fridman und Zuckerberg dargestellten, fotorealistischen Avataren für das Streitbeilegungsverfahren – bedacht ­werden, dass diese lediglich den „Normalzustand“ der Person darstellen. Zwar werden Mimik und Augenbewegungen recht detailgetreu nachvollzogen, doch können körperliche Reaktionen wie ein Schweißausbruch, ein Erröten oder Bleichwerden nicht dargestellt werden. Dies betrifft einen wichtigen Teil der nonverbalen Kommunikation, die zwischen den Beteiligten von außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahren von hoher Bedeutung ist.

VR-Anwendungen der Zukunft

Das – soweit bekannt – erste Mal, dass ein Richter in einem deutschen Gerichtssaal eine VR-Brille trug, war im Rahmen des Strafverfahrens wegen der sogenannten Polizistenmorde von Kusel vor dem Landgericht Kaiserslautern. Der Vorsitzende Richter nahm dabei per VR-Brille den Tatort in Augenschein, der zuvor per Laserscanner virtualisiert worden war. Bislang war das Erstellen entsprechender virtueller Darstellungen per Laserscanner zeit- und kostenintensiv. Durch neuerliche Verbesserungen der Technologie des sogenannten Gaussian Splattings könnte sich dies ändern. Das Gaussian Splatting ermöglicht, dass schon aus einem kurzen Handyvideo ein 3D-Modell erstellt wird. Die entsprechenden Neuerungen im Gaussian Splatting sind im Sommer 2023 auf der Konferenz SIGGRAPH, der bedeutendsten Computergrafikmesse in den USA, vorgestellt worden, und gewannen dort den Best ­Paper Award. Sollten sich die Verheißungen erfüllen, könnte dies dazu führen, dass alsbald in vielen Situationen und ohne den Einsatz von besonderer Hardware Darstellungen des Tatorts beziehungsweise der streitrelevanten Örtlichkeit praktisch von jedermann erzeugt werden ­können. Dies eröffnet zum Beispiel auch für Zivilverfahren – etwa mit Blick auf baurechtliche Streitigkeiten oder Verkehrsunfälle – neue Möglichkeiten.

Fazit: Alles wird sich ändern

Nach diesem „Rundumschlag“ zu Einsatzmöglichkeiten von Virtual Reality im Justizwesen ist eines klar: Alles wird sich ändern. Die technologischen Fortschritte der vergangenen Jahre sind atemberaubend, und VR-Technologie wird das Justizwesen und den Gerichtssaal in ­Zukunft stark prägen.

 

Autor

Prof. Dr. Simon J. Heetkamp, LL.M. Fakultät für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, Institut für Versicherungswesen, Technische Hochschule Köln simon.heetkamp@th-koeln.de www.th-koeln.de

Prof. Dr. Simon J. Heetkamp, LL.M.
Fakultät für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften,
Institut für Versicherungswesen, Technische Hochschule Köln

simon.heetkamp@th-koeln.de
www.th-koeln.de