Die fünf wichtigsten Trends im Bereich Litigation/Digitalisierung und ein Hoffnungsschimmer

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In der Rubrik Top 5 stellen wir in loser Folge Experten vor, die sehr kompakt auf die aus ihrer Sicht jeweils wichtigsten Themen zu einem in der Praxis relevanten Bereich hinweisen. In dieser Ausgabe beschäftigt sich Katja Nikolaus mit den fünf derzeit bedeutenden Trends mit Blick auf Litigation und Digitalisierung.

Meine Top-5-Themen für 2022

(1) Der Einsatz von Technologie ist kein notwendiges Übel, sondern ein USP

In der Welt der Venture Capitalists gibt es den Begriff des Slow Moving Animals. Sucht man Investoren in ein Legal Tech Startup, wird exakt dieser Begriff für das Kundensegment „Rechtsanwälte“ gewählt. Leider ist das nicht im Geringsten falsch. Technologie mag in Kanzleien zwar der richtige Wert – jedenfalls in der Außendarstellung – beigemessen werden. Hinter den Kulissen sind die Entscheidungsketten oftmals träge und langwierig, die Budgets nicht allokiert.

Dahinter steht nicht selten die Angst, dass der Einsatz von Technologie den Wert der juristischen Arbeit mindert. 2016 hat eine Boston Consulting Studie noch davor gewarnt, dass Software künftig 30 bis 50% der Aufgaben von Junior-Anwälten übernehmen könnte. Viel weiter sind wir im angstbesetzten Mindset offenbar noch nicht gekommen. Es wird zwar z.B. auf Veranstaltungen viel von Automation in der Bearbeitung gesprochen, aber der Einsatz selbst begegnet nach wie vor einer großen Abwehrhaltung. Ein wiederkehrendes Beispiel: Automatisiertes Fristenmanagement ist absolut gewünscht, aber bitte mit händischem Vermerk der Assistenz. Die wenigsten Kanzleien, die sich mit dem Einsatz von Technologie rühmen, können vertieften Nachfragen Stand halten.

Das dominierende Selbstverständnis der Branche ist eindeutig: Der Eindruck der juristischen Exzellenz darf nicht verwässert werden. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Der Einsatz von Technologie ermöglicht es, juristische und nicht-juristische Ressourcen gezielt einzusetzen und juristische Arbeit auf ein neues Level zu heben. Intelligente Datenextraktion bündelt die Information der Akte. Document-Composition-Systeme archivieren, historisieren und vor allem skalieren juristische Argumentation. Teil-automatisierte Workflows sichern in Zeiten des Fachkräftemangels gleichbleibende Qualität bei weniger Mitarbeitern.

Die Anforderungen des Marktes sind klar: Mandanten wollen hohe Servicequalität bei niedrigen Preisen. Wer nicht nach vorne denkt, bleibt hinten zurück. Der Weg wird langsam eingeschlagen. Die ersten Kanzleien bekennen sich offen dazu, dass ihre Dienstleistung auf Basis ausgefeilter Technologie erbracht wird. Peu à peu werden mehr Kanzleien dieser Art gegründet. Denn der Zug hat den Bahnhof verlassen und es ist Zeit für die Anwaltschaft zu erkennen, dass Technologie der juristischen Arbeit keinen Zacken aus der Krone schlägt, sondern ihren Wirkungsgrad vergrößert. Technologie ist kein notwendiges Übel. Sie ist ein USP und die Chance auf Wachstum.

(2) Masse als neue Complex-Herausforderung

„Frau Kollegin, Mass Litigation ist ja kein Jura.“ Ein Satz, den ich mehr als einmal zu hören bekommen habe. Geht es um die Frage, wo noch Wachstumsfelder auf dem Rechtsmarkt liegen, treten die Traditionalisten nicht selten mit brennendem Schwert zur Verteidigung der Complex Litigation auf. Fakt ist: Masse ist gekommen, um zu bleiben. Dieselgate, Datenschutz Vorfälle, Wirecard, Maskenaffäre, Corona Förderhilfen etc. haben gezeigt und künftige, etwa aus der Energiekrise resultierende Streitigkeiten werden zeigen, dass sich juristische Probleme schnell in hohe Fallzahlen skalieren. Masse ist aber nur die Summe aus Einzelfällen. Die Summierung erhöht den operativen und administrativen Aufwand. Aber auch den juristischen. Denn nicht nur muss – wie in jedem Einzelfall auch – die juristische Position sauber geklärt werden. Darüber hinaus muss bei jeder Entscheidung im Einzelfall die Strategie des Gesamtprojektes im Auge behalten werden. Mass und Complex Litigation als Gegensatzpaare zu behandeln, ist daher falsch. Tatsächlich ist Complex ein Überbegriff. Eine Ausprägung ist Masse, bei der die Komplexität aus dem Zusammenspiel von strategischem Jura und hohem operativen Aufwand besteht.

(3) Einsatz von KI – Wunsch oder Wahrheit

Lieblingsthema auf jeder juristischen Tagung, die sich mit Operations oder Tech befasst: Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI). Auf der einen Seite traut man sich kaum, elektronische Fristen zu erfassen, auf der anderen Seite besteht die Erwartung, dass eine Technologie die Frist im Schriftsatz erkennt, eigenständig berechnet und einträgt. Die Wahrheit ist: Der Einsatz von KI ist unausweichlich, aber wir stehen noch am Anfang. Document Comparison wird mittlerweile regelmäßig eingesetzt, um bei den bisweilen mehrere hundert Seiten langen Schriftsätzen schnell die Abweichungen zur Vorversion zu erkennen. Datenextraktion lernt langsam, Informationen auch im semantischen Zusammenhang zu erkennen. Davon, dass eine KI echte juristische Subsumtion übernehmen kann, sind wir aber noch weit entfernt. Allenfalls können in konkreten Fällen Algorithmen große Unterstützung leisten. In anderen Ländern ist die Digitalisierung des Rechtsstreites weit fortgeschrittener. Hier werden Rechtsstreitigkeiten von allen Beteiligten auf einer gemeinsamen technologischen Plattform geführt. Digital Courts und Online Dispute Resolution sind hier die Stichwörter der Stunde. Die 2022 durgeführte Studie „The Future of Digital Justice“ attestiert demgegenüber der deutschen Justiz, der Digitalisierung 10-15 Jahre hinter den führenden Ländern her zu hinken. Technischen Neuerungen gegenüber besteht Skepsis oder Ablehnung. Das verwundert nicht. Warum sollte es der Justiz anders gehen als dem Rechtsmarkt in Gänze?

Es ist ein Weg der kleinen Schritte, aber er ist eingeschlagen und es gibt kein Zurück. KI wird ein Teil davon sein. Aber bis der Markt bereit ist für KI, muss erst mal der Einsatz von Technologie als solches in die DNA des Rechtsmarktes übergehen.

(4) Neue rechtsanwaltliche Berufsbilder – Erweitertes Skillset

Im selben Maße, in dem die Technologisierung voranschreitet, entwickelt sich auch die Vielfalt der juristischen Berufsbilder. Es reicht nicht mehr aus, über juristisches Wissen zu verfügen. Mittlerweile gibt es fast 300 verschiedene Karrieremöglichkeiten auf dem juristischen Markt. Eine schier endlose Bandbreite an persönlichem Wachstum liegt vor der neuen Generation. Neben Legal Skills sind weitere Fähigkeiten gefragt:

Customer Success sorgt für das Wohlbefinden der Mandanten. Gibt den Mandanten Kontext zu aktuellen Entwicklungen, holt sie ab und unterbreitet konkrete Strategievorschläge. Behandelt Mandanten als echte Kunden, die es zu binden gilt.

Finance gibt dem Mandanten Transparenz dahingehend, mit welchen Einnahmen und Ausgaben gerade bei großen Projekten zu rechnen ist. Kanzleien müssen in der Lage sein, Forecasts und Prognosen zu Erfolgen und Bearbeitungsgeschwindigkeit zu treffen. Prozesskostenrechnungen und Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen sollten Standard sein. Die Anwaltschaft muss das nicht alles selber rechnen können, muss sich die Thematik aber zu eigen machen, um als Dienstleister zu bestehen.

Leadership besteht aus mehr als Gehaltserhöhungen und Zielvereinbarungen. Es geht um mehr als nur fachliche Anforderungen. Wertschätzung und Karriereperspektive haben sich als Treiber für das Gewinnen und die Bindung von Mitarbeitern etabliert. Führen auf Augenhöhe sowohl im juristischen als auch im nicht juristischen Bereich. Weg von Top down und darwinistischen Ansätzen hin zu respektvoller und offener Feedbackkultur – auch Upward.

(5) Und dennoch bin ich optimistisch

Denn bei aller Zögerlichkeit des Marktes handelt es sich um greifbare Entwicklungen. Es gibt immer mehr Gespräche mit Kanzleien, die sich verändern wollen. Die dafür brennen, neue Wege zu gehen. Die Platz schaffen wollen für ein technologiegetriebenes Segment ihrer Beratung. Es herrscht großes Interesse daran, neue Technologien zu nutzen. Sukzessiv werden neue Stellen geschaffen, Budgets eingeplant. Nahezu jede Veranstaltung diskutiert das Thema der Digitalisierung und der Modernisierung des Rechtsmarktes. Die Diskussion treibt die Entwicklung voran. Selbst das Berufsrecht – nicht selten der größte Bremsschuh – modernisiert sich.

Der deutsche Rechtsmarkt schreitet vielleicht als langsameres Tierchen der Veränderung entgegen. Ans Ziel kommen wird er – langsam aber sicher.

 

katja.nikolaus@june.de

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