Das Jahr 2024 markiert einen wichtigen Meilenstein zur Modernisierung der schiedsgerichtlichen Streitbeilegung in der Volksrepublik China (im Folgenden: VR China). So haben wir in Ausgabe 1/2024 dieses Online-Magazins bereits von den reformierten Schiedsregeln der CIETAC, der größten Schiedsinstitution der VR China, berichtet (siehe hier).
Aber auch die 1988 gegründete Shanghai International Economic and Trade Arbitration Commission [SHIAC, auch: Shanghai International Arbitration Center, früher: China International Economic and Trade Arbitration Commission (CIETAC) Shanghai Commission], die erste und eine der größten chinesischen Schiedsinstitutionen, die sich speziell mit internationalen Schiedsverfahren befasst, hat mit Wirkung zum 01.01.2024 neue Schiedsregeln eingeführt. Diese Reformen umfassen zahlreiche Regelwerke der SHIAC: die SHIAC-Schiedsgerichtsordnung (2024), die SHIAC-Schiedsgerichtsordnung für den Luftverkehr, die SHIAC-Schiedsgerichtsordnung für Daten, den SHIAC-Leitfaden für Online-Schiedsverfahren und den SHIAC Leitfaden zur Unterstützung von Ad-hoc-Schiedsverfahren. Nur die 2014 erlassenen China (Shanghai) Pilot Free Trade Zone Arbitration Rules (FTZ-Schiedsordnung), die in der Pilot-Freihandelszone Shanghai als Experimentierzone für eine Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Reformen genutzt werden und bereits bei Erlass weitgehend internationalen Standards entsprachen, blieben in der Fassung 2015 bestehen und dienten vielfach als Vorbild für die jetzigen Reformen.
Sowohl die diesjährige Änderung der CIETAC- als auch der SHIAC-Schiedsordnung ersetzen jeweils Vorgängerschiedsordnungen aus dem Jahr 2015. Sie stehen im Zusammenhang mit dem im Juli 2021 veröffentlichten Entwurf zur Änderung des chinesischen Schiedsgesetzes (1994) des Justizministeriums der VR China und greifen der derzeit noch ausstehenden Reform des chinesischen Schiedsgesetzes bereits teilweise vor.
Ebenso wie die reformierte CIETAC-Schiedsordnung konzentriert sich auch die neue SHIAC-Schiedsordnung thematisch auf die Erweiterung der Kompetenzen des Schiedsgerichts, auf Regelungen zu Digitalisierung, Beweismitteln, Konsolidierung von Schiedsverfahren und Unterstützung bei Ad-hoc-Schiedsgerichtsverfahren.
Insgesamt wurden die bestehenden 66 Artikel der SHIAC-Schiedsordnung (2015) auf 92 erweitert. Die neuen Regeln gelten vorbehaltlich abweichender Vereinbarungen grundsätzlich für alle SHIAC-Schiedsverfahren, die seit dem 01.01.2024 eingereicht werden (Art. 92).
Im Folgenden sollen einige der wichtigsten Änderungen der SHIAC-Schiedsgerichtsordnung kurz vorgestellt werden.
Konstituierung des Schiedsgerichts (Art. 30 ff.)
Wie schon bei der Neuregelung der CIETAC-Schiedsregeln weist auch die neue SHIAC-Schiedsordnung (2024) bereits Neuerungen bei der Konstituierung des Schiedsgerichts auf: Art. 30 Abs. 3 weist ausdrücklich darauf hin, dass eine Parteivereinbarung hinsichtlich der Zusammensetzung des Schiedsgerichts vorrangig ist, solange diese nicht gegen zwingende gesetzliche Vorschriften verstößt. Auch das Verfahren zur Konstituierung des Schiedsgerichts bei drei Schiedsrichtern ist in Art. 32 umfassender geregelt worden und erlaubt nun den Parteien zu vereinbaren, dass der vorsitzende Schiedsrichter von den beiden Mitschiedsrichtern gemeinsam ernannt wird.
Kompetenz-Kompetenz (Art. 6)
Ähnlich wie in den reformierten CIETAC-Schiedsregeln übernehmen auch die neuen SHIAC-Schiedsregeln den in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit üblichen, im chinesischen Schiedsgesetz aber bisher nicht anerkannten Grundsatz der Kompetenz-Kompetenz: Wird das Schiedsgericht einmal angerufen, ermächtigt die SHIAC das Schiedsgericht, selbständig über seine Zuständigkeit zu entscheiden. Die zunächst von der SHIAC auf der Grundlage von Anscheinsbeweisen getroffene Zuständigkeitsentscheidung hindert das Schiedsgericht dabei nicht daran, eine neue Entscheidung auf der Grundlage von Tatsachen oder Beweisen zu treffen, die im Laufe der Verhandlung festgestellt worden sind. In den Schiedsregeln von 2015 konnte diese Befugnis nur wahlweise von der SHIAC auf das Schiedsgericht übertragen werden.
Einstweilige Maßnahmen und Eilschiedsrichter (Art. 25, 26)
Die reformierten SHIAC-Regeln führen ferner in Art. 25 und 26 erstmals ein Eilschiedsrichterverfahren ein. Die hierzu in der FTZ-Schiedsordnung enthaltene Regelung diente dabei als Vorbild und ist mit Blick auf die nötige Schnelligkeit des Verfahrens weiter optimiert worden. Die Parteien haben damit nunmehr vor Konstituierung des Schiedsgerichts die Möglichkeit, einen Antrag auf Bestellung eines Eilschiedsrichters zu stellen, der vorläufige Maßnahmen erlässt. Auch die neue Schiedsgerichtsordnung der CIETAC von 2024 enthält Änderungen zu einstweiligen Maßnahmen. Danach können einstweilige Maßnahmen nun sogar vor Einleitung eines Schiedsverfahrens beantragt werden; bei der SHIAC ist dies laut Art. 25 Abs. 1weiterhin erst mit Einleitung des Schiedsverfahrens möglich.
Kombination Mediations- und Schiedsverfahren (Art. 54 ff.)
Nach dem Vorbild der FTZ-Schiedsordnung ermöglicht nun auch die reformierte SHIAC-Schiedsordnung den Parteien ein sogenanntes Med-Arb-Verfahren. Die Parteien können hierbei vor Konstituierung des Schiedsverfahrens eine in der Schiedsordnung ebenfalls geregelte Mediation durchführen. Der Mediator darf sodann nicht als Schiedsrichter im Schiedsverfahren tätig werden. Diese Praxis einer Kombination aus Mediations- und Schiedsverfahren ist im Festlandchina im Gegensatz zu anderen Jurisdiktionen relativ üblich. Die reformierten CIETAC-Schiedsregeln hingegen enthalten keine mehrstufige Verfahrensklausel in Form der Med-Arb-Klausel, sondern treffen lediglich Regelungen in Bezug auf die Nichteinhaltung einer zuvor vereinbarten Verhandlung oder Mediation.
Einbeziehung Dritter in das Schiedsverfahren (Art. 41)
Praktisch besonders relevant sind die Neuerungen hinsichtlich der Mehrparteienschiedsverfahren. Art. 41 regelt die Möglichkeiten der Einbeziehung Dritter in das Schiedsverfahren. Die Regelung differenziert dabei zwischen dem Beitritt Dritter vor der Zusammensetzung des Schiedsgerichts und dem Beitritt nach Zusammensetzung des Schiedsgerichts. Wenn der Beitritt nach Zusammensetzung des Schiedsgerichts beantragt wird und sich die neuen Parteien über die Zusammensetzung eines neuen Schiedsgerichts nicht einigen können, kann das Schiedsgericht der Einbeziehung des Dritten nachträglich widersprechen. Nach den neuen Regelungen besteht zudem gemäß Art. 41 Abs. 1 vor Zusammensetzung des Schiedsgerichts ein alleiniges Antragsrecht einer Partei zur Einbeziehung Dritter in das Schiedsverfahren. Dies war nach den alten Regeln nur durch beide Parteien gemeinsam möglich. Nach Beginn des Verfahrens können die Parteien einen solchen Antrag gemäß Art. 41 Abs. 5 auch weiterhin nur gemeinsam und mit Zustimmung des Dritten stellen.
Mehrvertragsklausel (Art. 15)
Eine weitere bedeutsame Neuerung enthält Art. 15 der SHIAC-Schiedsordnung. Dieser regelt erstmals das Mehrvertragsverfahren, das für die Parteien zu einer Kosten- und Zeitersparnis bei der Durchsetzung von Forderungen aus mehreren streitigen Verträgen führen kann.
Die Regelung eröffnet den Parteien in drei alternativen Konstellationen die Möglichkeit der Bündelung verschiedener Ansprüche in einem einzigen schiedsgerichtlichen Verfahren: (a) wenn sich die Verträge aus demselben Rechtsgeschäft oder einer Reihe von Rechtsgeschäften ergeben, (b) wenn die Verträge in einem Hauptvertrags-/Nebenvertragsverhältnis stehen oder der Gegenstand des Schiedsverfahrens gleichartig ist beziehungsweise in einem Zusammenhang steht oder (c) bei Vorliegen anderer durch Gesetz oder Parteivereinbarung bestimmter Umstände.
Beweisführung (Art. 46)
Die Regeln zur Beweisführung insgesamt unterfallen Art. 6. Im dortigen Abs. 5 wird festgelegt, dass die vorgelegten Beweise und die mit den vorgelegten Beweisen zusammenhängende Fragen den auf den Fall anwendbaren Beweisregeln entsprechen müssen. Anwendbar sind entweder die Beweisregeln, auf die sich die Parteien geeinigt haben oder die Beweisregeln, die vom Schiedsgericht festgelegt werden, die von den innerchinesischen abweichen können, um dem grenzüberschreitenden Charakter und dem Parteiwillen in Schiedsverfahren mit Auslandsbezug gerecht zu werden. In Art. 41 Abs. 4 der CIETAC-Schiedsordnung von 2024 kann das Schiedsgericht ohne Einverständnis der Parteien jedenfalls die CIETAC-Beweisrichtlinien für anwendbar erklären.
Vermeidung von Interessenkonflikten (Art. 21)
Ähnlich wie in Art. 22 der CIETAC-Schiedsregeln (2024) ist in Art. 21 der SHIAC Schiedsordnung eine Regelung zur Vermeidung von Interessenkonflikten bei Vertreterwechsel getroffen worden. Denn Änderungen in der Parteivertretung können zu Interessenkonflikten zwischen dem neu bestellten Parteivertreter und einem oder mehreren Schiedsrichtern führen und so die Integrität des Verfahrens gefährden. Um dies zu vermeiden, müssen die Parteien gemäß Art. 21 Abs. 3 einen schriftlichen Antrag beim Schiedsgericht auf Änderung der Vertretung stellen. Das Schiedsgericht entscheidet darüber nach eigenem Ermessen.
Klagerücknahme nach Abschluss des Schiedsverfahren (Art. 52)
Beantragt eine Partei nach Schluss der mündlichen Verhandlung die Rücknahme ihrer Schiedsklage, um einen negativen Schiedsspruch zu vermeiden, so kann das Schiedsgericht nunmehr gemäß Art. 52 Abs. 3 der gegnerischen Partei gestatten, eine (Wider-)klage auf Kostentragung der bereits entstandenen Schiedskosten einzureichen, und das Schiedsverfahren fortsetzen, wenn die Gegenpartei für die Fortsetzung und Beendigung durch Schiedsspruch vernünftige Gründe vorgetragen hat oder solche vorliegen. Einem Schiedsspruch kann der Schiedskläger daher durch eine solch späte Klagerücknahme nicht mehr entgehen.
Digitalisierung und „Green Arbitration“ (Art. 9, 10, 20, 39 und 85)
Wie die CIETAC greift auch die SHIAC den weltweiten Trend der Digitalisierung von Schiedsverfahren auf und sieht zahlreiche neue Vorschriften zur elektronischen Verfahrensführung vor. Dieser Trend ist weltweit nicht nur vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie, sondern auch aus Erwägungen des Klimaschutzes zu verstehen. Letztere werden in den neuen SHIAC-Schiedsregeln sogar explizit unter dem Schlagwort „Green Arbitration“ als Prinzip in Art. 9 aufgenommen. Art. 10 sieht die Möglichkeit der Durchführung von Online-Schiedsverfahren vor. Hiernach kann entweder das gesamte Schiedsverfahren oder ein Teil davon online über die SHIAC-E-Plattform oder andere Internet- oder private Netze durchgeführt werden. Die Durchführung des digitalen Schiedsverfahrens kann entweder auf Antrag der Parteien oder durch Beschluss des Gerichts eingeleitet werden. Darüber hinaus konkretisiert die Regelung datenschutzrechtliche Aspekte. Passend zum Online-Schiedsverfahren kann gemäß Art. 9 und Art. 20 auch die Einreichung sowie Zustellung von Schriftsätzen nunmehr in elektronischer Form erfolgen. Konsequenterweise besteht zudem nach Art. 39 Abs. 2 Satz 2 die Möglichkeit, Parteianhörungen digital durchzuführen.
Transparenz (Art. 35, 48, 11)
Darüber hinaus zielen zahlreiche Regeln der reformierten SHIAC-Schiedsordnung auf eine erhöhte Transparenz: Schiedsrichter unterliegen gemäß Art. 35 vor ihrer Bestellung und während des Schiedsverfahrens umfassenden Offenbarungspflichten gegenüber der SHIAC. Dadurch soll die Unparteilichkeit und Objektivität des Schiedsgerichts gesichert werden. Durch die Verweisungsvorschrift des Art. 48 Abs. 4 sind auch Sachverständige zur Offenlegung von Umständen verpflichtet, die ihre Unparteilichkeit in Frage stellen.
Darüber hinaus kann das Schiedsgericht nach Art. 11 Abs. 4 bei Wahrung des Grundsatzes der Vertraulichkeit mit schriftlicher Zustimmung der Parteien nunmehr ausdrücklich anonymisierte Schiedssprüche veröffentlichen. Eine solche Möglichkeit wird derzeit auch im Rahmen der Modernisierung des deutschen Schiedsverfahrensrechts diskutiert. Insgesamt soll durch die vermehrte Veröffentlichung von Schiedssprüchen das Vertrauen in Schiedsverfahren erhöht werden.
Ad-hoc-Schiedsverfahren
Schließlich enthalten nicht nur die neuen CIETAC-Schiedsregeln, sondern auch die neue SHIAC-Schiedsregeln von 2024 eine Neuerung, die einer anstehenden, wichtigen Gesetzesänderung bereits vorgreifen: Denn nach dem geltenden chinesischen Schiedsgesetz sind Ad-hoc-Schiedsverfahren derzeit unzulässig. Eine Öffnung hin zu Ad-hoc-Schiedsverfahren ist Gegenstand der oben erwähnten, anstehenden Reform des chinesischen Schiedsgesetzes, die sich noch im Entwurfsstadium befindet. Nach Art. 2 Abs. 6 der neuen SHIAC-Regelungen wird (ähnlich wie in den neuen CIEATAC Regelungen) die SHIAC bereits jetzt befugt, Schiedsrichter für Ad-hoc-Schiedsverfahren zu bestimmen, Verwaltungsdienste anzubieten oder Aufgaben durchzuführen, die eine Schiedsinstitution unter anderen Schiedsregeln durchführt. Hierzu ist die „Guidance for the Service for Ad Hoc Arbitration” veröffentlicht worden.
Fazit
Die Schiedspraxis in China ist im Wandel begriffen. Die jüngsten Reformen der CIETAC und der SHIAC-Schiedsregeln passen die chinesische Schiedspraxis weiter an internationale Verfahrensstandards an. Die neue SHIAC-Schiedsgerichtsordnung (2024) stärkt die Kompetenz der Schiedsgerichte, trägt aber auch den Parteibedürfnissen Rechnung.
Diese Aktualisierung und Internationalisierung spiegelt die Nachfrage eines schnell wachsenden chinesischen Schiedsgerichtsmarktes wider. Die Anzahl der registrierten SHIAC- Fälle nimmt ständig zu bei einem jährlichen Wachstum von über 14%. Der SHIAC gehören 1.463 Schiedsrichter aus 80 Ländern und Regionen an, darunter 1.081 Schiedsrichter aus Festlandchina und 382 Schiedsrichter aus dem Ausland, der Sonderverwaltungszone Hongkong, der Sonderverwaltungszone Macao und der Region Taiwan. Der Gesamtstreitwert der SHIAC-Fälle steht an der Spitze der Schiedsinstitutionen in China. Die Modernisierung der SHIAC-Schiedsregeln ist daher für die schiedsgerichtliche Streitbeilegung in China von besonderer Bedeutung.
Vor allem für internationale Akteure sind die Neuregelungen von besonderer Bedeutung. Die VR China ist und bleibt nach wie vor wichtiges Zentrum für den internationalen Handelsmarkt. Um Streitigkeiten vor Ort zu lösen, besteht ein Interesse an Regelungen, die an neue Herausforderungen und Parteiinteressen angepasst sind. Hierzu kann die Reform der SHIAC-Schiedsordnung sicherlich einen Beitrag leisten.
Autor
Katharina Klenk-Wernitzki, Dipl. Reg.-Wiss. (China)
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbh, Berlin/Köln
Rechtsanwältin, Complex Disputes, Counsel
Autor
Dr. Madeleine Martinek, LL.M., LL.M. oec. (Nanjing)
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbh, Köln
Rechtsanwältin, Corporate/M&A, Associate
madeleine.martinek@luther-lawfirm.com
www.luther-lawfirm.com



