Seit Beginn des Kontaktverbots infolge der Coronapandemie scheinen sich Diskussionen in Bezug auf Gerichte primär darum zu drehen, ob der weiteren Gewährung der Justiz im Staat oder eher dem Gesundheitsschutz Vorrang einzuräumen ist, sprich, ob Verhandlungen weiterhin stattfinden können oder flächendeckend abgesagt werden müssen. Dabei gibt es bereits seit Jahren einen digitalen Mittelweg in der ZPO, über den es sich nicht nur angesichts der aktuellen Krise lohnt, vertiefter nachzudenken.
Hintergrund
Am 27.01.2020 verzeichnete Deutschland seinen ersten Fall einer Covid-19-Infektion. Das Robert Koch-Institut (RKI) stufte die Risiken der Pandemie für die deutsche Bevölkerung einen Monat später als „gering bis mäßig“, seit dem 17.03.2020 als „hoch“ und eine Woche später für Risikogruppen als sehr hoch ein. Seit dem 22.03.2020 gilt deshalb ein – inzwischen teilweise wieder gelockertes – Kontaktverbot (Informationen der Bundesregierung zum Coronavirus in Deutschland, abrufbar hier), das grundsätzlich jedoch weiterhin nur notwendige Sozialkontakte erlaubt.
Zu diesen Sozialkontakten gehören auch der Gang zur Arbeit sowie die Wahrnehmung von erforderlichen Terminen, die nur außerhalb der eigenen Wohnung stattfinden können, so etwa Gerichtsverhandlungen. Bundesweit einheitlich geregelt ist die Situation in Bezug auf Gerichtsverhandlungen indes nicht. Zwar wurde am 27.03.2020 das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht beschlossen. Das Zivilverfahrensrecht erfuhr hierdurch jedoch keine Sonderregelungen. Deshalb sind seither die Landesjustizministerien zur Eindämmung der Virusausbreitung an den Gerichten berufen. Diese gaben dabei – mit nur leichteren Abweichungen – in der Regel die Empfehlung ab, den Dienstbetrieb bei den Gerichten stark einzuschränken, nicht jedoch ganz einzustellen. Wichtige und dringende Verhandlungen und Maßnahmen – zum Beispiel Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – sollten weiterhin stattfinden. Gerichtsverhandlungen, die einen Aufschub zulassen, sollten jedoch verschoben werden (so etwa in Baden-Württemberg, siehe Pressemitteilung des Ministeriums der Justiz und für Europa Baden-Württemberg, abrufbar hier). Im Hinblick auf die Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes sollte der Publikumsverkehr nur gegenüber Personen untersagt werden, die im Verdacht einer Infizierung stehen, im Übrigen jedoch nicht (so etwa in NRW).
Ob, wann und welche Gerichtsverhandlungen tatsächlich noch stattfinden, entscheidet nach den aktuellen Vorgaben der Länder letztlich weiterhin der zuständige Richter im Rahmen seiner richterlichen Unabhängigkeit.
Phase I: Fast schon ein Stillstand der Rechtspflege?
Zunächst schien dabei das Gebot der Stunde, Verfahren zu „pausieren“ und Termine weiträumig zu verlegen. Der Bundesvorsitzende der Deutschen Justiz-Gewerkschaft Schmidt forderte sogar eine vollständige Schließung der Gerichte für mindestens zwei Wochen: Dies sei notwendig, um die Gefahr einer Infizierung mit Covid-19 für die Mitarbeitenden der Gerichte und Staatsanwaltschaften abzuwenden, erklärte er gegenüber den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. In einer Presseerklärung vom 17.03.2020 appellierte die Bundesrechtsanwaltskammer an die deutschen Gerichte, den Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen mit größtmöglicher Flexibilität zu begegnen. Dies beinhalte die Verlegung von Terminen, welche nicht eilbedürftig seien, sowie eine großzügige Fristensetzung und wohlwollende Fristverlängerungen (Presseerklärung BRAK, abrufbar hier).
Diese auch an den Gerichten spürbare Tendenz führte bereits zu Diskussionen, ob gar ein Stillstand der Rechtspflege i.S.v. § 245 ZPO eingetreten sei. Ein solcher hätte eine Unterbrechung der anhängigen Verfahren nach § 249 ZPO zur Folge. Zum Schutz der Parteien würde der Lauf jeglicher Fristen gestoppt und erst nach Beendigung der Unterbrechung wieder von neuem zu laufen beginnen; zudem wären sowohl Handlungen der Parteien als auch grundsätzlich solche des Gerichts – wie etwa Ladungen – gegenüber der jeweils betreffenden Partei wirkungslos. Die Unterbrechung beginnt kraft Gesetzes, sobald die Tätigkeit des zuständigen Gerichts tatsächlich aufhört und endet, sobald die Gerichtsorganisation wieder funktionsfähig ist und die Tätigkeit des Gerichts tatsächlich wieder beginnt. Einer förmlichen Entscheidung des Gerichts bedarf es nicht. Ein Stillstand der Rechtspflege wäre insoweit kein wünschenswerter Zustand, als dieser neben dem faktischen zeitweisen Wegfall der Justiz zudem zu enormen Rechtsunsicherheiten im Hinblick auf Fristenläufe führen würde, was zu erheblichen „Nachwehen“ eines chaotischen Bergs an zahlreichen angestauten Verfahren mit unklarem Verfahrensstand und Fristenlauf führen würde, der nur schwer zu bewältigen wäre.
Nach aktuellem Stand ist indes nicht von einem solchen Stillstand auszugehen. Ein Stillstand wäre nur bei einem allgemeinen Stillstand der gerichtlichen Tätigkeit für einen längeren und nicht absehbaren Zeitraum anzunehmen. Zu Schließungen der Gerichte infolge der Verbreitung des SARS-CoV-2 ist es bislang nicht gekommen. Zwar wurde der Sitzungsbetrieb teilweise ausgesetzt, gleichwohl wurden Rechtsgesuche – nicht nur im einstweiligen Rechtsschutz, sondern auch in Hauptsacheverfahren – weiterhin bearbeitet, wenn auch mit Verzögerungen im Vergleich zum „Normalbetrieb“. Richter und Richterinnen, Rechtspflegende und Mitarbeitende des Gerichts dürfen in der Regel weiterhin zur Arbeit kommen und können die schriftliche Bearbeitung der Akten notfalls auch aus dem Home-Office erledigen. Zudem wurden mündliche Verhandlungstermine bislang oft auf bestimmte Daten in der Zukunft verlegt und nicht nur auf unbestimmte Zeit vertagt und aufgehoben.
Auch alternative Diskussionsansätze zum Umgang mit der Pandemie, die der Vermeidung eines Stillstands der Rechtspflege dienen sollten, zielten auf eine faktische Pausierung der Justiz. Diskutiert wurde etwa eine Wiedereinführung der Gerichtsferien, die noch bis 1996 durch §§ 199–201 GVG a.F. geregelt waren. Der Eintritt der Gerichtsferien, jährlich vom 15.07. bis zum 15.09., hatte damals zur Folge, dass Verhandlungstermine nur noch in den gesetzlich bestimmten, sogenannten Feriensachen, die sich in der Regel durch ihre Dringlichkeit auszeichneten, stattgefunden haben. Weiterhin wurden prozessuale Fristen mit Ausnahme der Notfristen und Ferienfristen gehemmt. Gerichte konnten zur Erledigung der Feriensachen sogenannte Ferienspruchkörper einrichten. Dieser Weg bietet gegenüber einem faktischen Stillstand nach § 245 ZPO den Vorzug einer rechtsklaren Regelung der Fristen und Termine. Jedoch würde jedenfalls ein Problem bestehen bleiben: Würden – auf derzeit unabsehbar lange Zeit – Verhandlungstermine nur noch in gesetzlich bestimmten „Feriensachen“ (oder „Pandemiesachen“?) stattfinden und prozessuale Fristen (mit Ausnahme der Notfristen und Ferienfristen) gehemmt, wäre der Zusammenbruch der Justiz in einer Art „Covid-19-Nachwehe“ bereits jetzt absehbar.
Phase II: Wiederaufnahme des Normalbetriebs?
Die Reaktionen liefen in Anbetracht dieser Nachteile – teils von Anfang an, inzwischen in merklich zunehmendem Maße – auch in die entgegengesetzte Richtung. So betonte etwa der Deutsche Richterbund (DRB) von Anfang an die Notwendigkeit, einen Stillstand der Justiz als der tragenden Säule unseres Staats zu verhindern und appellierte an die Landesjustizverwaltungen, die Abläufe in den Gerichten in enger Absprache mit den Gerichtsleitungen und Personalvertretungen durch klare Regeln zu organisieren (Pressemitteilung DRB, 18.03.2020, abrufbar hier).
Manche Gerichte terminierten auch schon während der Krise wie üblich und beriefen sich auf die mögliche Einhaltung von Abstandsgeboten im Gerichtssaal – angesichts der erforderlichen Anreise für die Parteien und der Warnungen der Behörden sicherlich nicht unbedenklich. Mittlerweile scheint jedoch auch bei den übrigen Gerichten vorwiegend ein Drang zur Rückkehr in die Normalität vorzuherrschen. Seit Anfang Mai wird der Betrieb, so etwa beim Land- und Amtsgericht Bonn seit dem 04.05. 2020, deshalb wieder hochgefahren, die Gebäude für das rechtsuchende Publikum geöffnet.
Dabei gelten die Empfehlungen des RKI zur Vermeidung einer Covid-19-Infektion natürlich fort, werden von Gericht zu Gericht jedoch unterschiedlich umgesetzt. Am OLG Köln etwa muss die Ladung vorgezeigt werden, um Einlass zu erlangen. Fenster und Türen werden während der Verhandlung geöffnet, der Kläger/die Klägerin sitzt an einer Art „Katzentisch“, um den Abstand zur Parteivertretung zu wahren. Die Richterbank ist durch Plastikscheiben in Parzellen geteilt, damit sich die Richter und Richterinnen nicht untereinander anstecken können – so nun auch beim OLG Koblenz. Bei manchen Gerichten, etwa dem LG Mainz oder dem OLG Hamm, muss ein Fragebogen ausgefüllt werden, durch den ausgeschlossen werden soll, dass (potentiell) Infizierte das Gerichtsgebäude betreten, im Gebäude sind Desinfektionsspender aufgestellt – die Richter und Richterinnen hingegen sitzen im üblichen Abstand zueinander. An einigen, typischerweise bayerischen, Gerichten, etwa dem Amtsgericht Erding oder den Gerichtsgebäuden in Schweinfurt, herrscht eine Pflicht, Masken zu tragen, an anderen, etwa dem OLG Köln, wieder nicht – dort steht die Entscheidung, ob im Sitzungssaal Masken getragen werden sollen, im Ermessen des Gerichts.
Mit Stand vom 15.05.2020, 0:00 Uhr, meldete das RKI 173.152 laborbestätigte Infektionsfälle, darunter 7.824 Todesfälle. Nach Schätzung des RKI waren bis zu diesem Tag etwa 151.700 ehemals Infizierte wieder genesen. Eine Rückkehr zur vollkommenen „Normalität“ scheint angesichts solcher Zahlen unvernünftig – insbesondere dann, wenn sie angesichts vorhandener Alternativen gar nicht notwendig ist.
§ 128a ZPO als Alternative zur mündlichen Verhandlung
Die Zivilprozessordnung (ZPO) stellt – nicht erst seit dem Ausbruch von Covid-19 – Alternativen zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur Verfügung, die die Anwesenheit der Parteien nicht voraussetzt. Eine solche ist sowohl in § 128 Abs. 2 sowie § 128a ZPO enthalten. So kann nach § 128 Abs. 2 ZPO mit Zustimmung der Parteien das mündliche in ein schriftliches Verfahren übergeleitet werden. Nach § 128a ZPO besteht die Möglichkeit, mündliche Verhandlungen per Videokonferenz durchzuführen. Gerade Letztere könnte nun als Alternative zur mündlichen Verhandlung unter physischer Anwesenheit der Schlüssel zu einem funktionierenden Justizbetrieb in Zeiten einer Pandemie sein. Schon seit 2001 sieht § 128a ZPO vor, im Zivilprozess „Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung“ abzuhalten. Die Regelung wurde bereits 1999 im Rahmen des Pilotprojekts „Virtuelles Verwaltungsgericht“ am Verwaltungsgericht Sigmaringen und später auch an Finanzgerichten in Hessen, Baden-Württemberg und NRW getestet und schließlich durch das ZPO-RG 2001 eingeführt. Durch § 128a ZPO sollte der Prozess ökonomischer gestaltet werden, indem etwa Reisezeit und -kosten gespart werden können. Nicht nur in Zeiten von Covid-19, sondern auch in Zeiten der Klimakrise eine bedenkenswerte Alternative.
Seit dem Gesetzentwurf über Videokonferenzen in Gerichtsverfahren des Bundesrats vom 12.02.2010, in dem § 128a ZPO neu gefasst wurde, ist nicht einmal mehr das Einverständnis aller Parteien zur Videoverhandlung erforderlich. Seit 2013 kann die Videoverhandlung sogar vom Gericht angeordnet werden. Bislang wird die Möglichkeit an den meisten Gerichten jedoch gar nicht, und wenn überhaupt, dann eher sporadisch genutzt – aber warum?
Bisherige Umsetzung in der Praxis
Zahlreiche Richter und Richterinnen und Kollegen und Kolleginnen auf Anwaltsseite scheinen zunächst vor der Anwendung des § 128a ZPO zurückzuschrecken, da sie meinen, technisch nicht hinreichend ausgestattet oder versiert zu sein. Dabei zeigen zahlreiche Erfahrungsberichte, dass die technische Umsetzung einfach zu handhaben ist und keiner besonderen Technikkenntnisse bedarf.
Zwar stellt die fehlende technische Ausstattung der Gerichte, wollte man Videoverhandlungen nach § 128a ZPO flächendeckend als Lösung einführen, tatsächlich ein Problem dar. Doch wird auch die vorhandene Ausstattung teilweise nicht genutzt. Laut der „Länderliste der Standorte der Videokonferenzanlagen bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften“ verfügen zwar alle Länder über die Möglichkeit einer Verhandlung nach § 128a ZPO. Doch sind etwa in Nordrhein-Westfalen nur 21 von 201 Gerichten mit einer Videokonferenzanlage ausgestattet, und nur das OLG Hamm verfügt über eine mobile Anlage. Diese scheint jedoch nicht eingesetzt zu werden – das OLG Hamm terminiert Verfahren in üblicher Manier. In den übrigen Gerichten ist typischerweise nur ein Saal mit einer Anlage ausgestattet, was bedeutet, dass rein praktisch nur ein Bruchteil der Verhandlungen online durchgeführt werden könnte. Eine Verlagerung der mündlichen Verhandlungen vom Gerichtssaal in die digitale Welt setzt also eine konsequente technische Aufstockung der Gerichte voraus, die jedoch insbesondere in Zeiten einer Pandemie möglich erscheint. Denn Covid-19 zwingt zu schnellem Handeln – auch auf der Ebene der Legislative, was rasant beschlossene Gesetzsentwürfe und unkompliziert freigegebene Haushaltsmittel zeigen. Um nicht gleich alles auf einmal umzustellen, könnten alternativ zum Ankauf von Videokonferenzanlagen solche zunächst nur gemietet werden (so etwa in Mecklenburg-Vorpommern gehandhabt). Auf diese Weise könnte aus der Not eine Tugend gemacht werden, indem die Zeit der andauernden Kontaktsperre als Testlauf für eine Justiz der Zukunft genutzt wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein großer Teil der Judikative nicht aus sogenannten Digital Natives besteht. Um psychologischen Hürden zu begegnen, müssen Leitlinien, Handbücher und Erklärvideos den Weg weg von „Das haben wir schon immer so gemacht!“ ebnen.
Ablauf und Vorteile einer Videoverhandlung
Ist dieser Weg einmal geebnet, stellt sich der Ablauf einer Videoverhandlung als gar nicht so kompliziert dar: Insbesondere auf Seiten der Kanzleien bedarf es (entgegen einem weitverbreiteten Irrglauben) überhaupt keiner speziellen technischen Voraussetzungen wie spezieller Softwareprogramme. Ein Laptop oder Computer mit Kamera und Mikrofon reicht aus. So finden Gerichtsverhandlungen nach § 128a ZPO beispielsweise am LG Hannover regelmäßig via Skype for Business statt. Hierbei erhält man als Anwalt und Partei lediglich einen Link zugesandt, auf den man klicken muss – installiert werden muss vorab nichts. Ein kurzer Testlauf vor der Verhandlung stellt sicher, dass sich alle sehen und hören können.
Während der Verhandlung müssen sich die Richter und Richterinnen selbst im Gerichtssaal befinden. Denn die sogenannte Saalöffentlichkeit kann nur gewährleistet werden, wenn der Ton in den Gerichtssaal übertragen wird, der der Öffentlichkeit auch zugänglich ist. Ein Bild der Parteien, Prozessvertreter und -vertreterinnen und sonstigen Verfahrensbeteiligten wie Zeugen, Sachverständigen und Dolmetschern und Dolmetscherinnen muss dabei nach einhelliger Ansicht jedoch nicht zugänglich gemacht werden. Der Sitzungspolizeischutz nach § 176 ZPO erstreckt sich auch auf den zugeschalteten Ort und kann gegebenenfalls durch Unterbrechung der Verbindung ausgeübt werden.
Die Gesundheitsgefahren der im Saal Anwesenden werden durch eine solche Videoverhandlung zwar nicht vollständig beseitigt, zumindest aber erheblich reduziert, da sich weniger Personen im Gerichtssaal aufhalten. Ferner fällt eine Anreise für Prozessvertreter und -vertreterinnen und Parteien, vielleicht sogar mit öffentlichen Verkehrsmitteln, weg.
- Eine Teilnahme der Öffentlichkeit über bloße Videozuschaltung ist bisher gesetzlich nicht möglich, ließe sich jedoch – etwa über die Zurverfügungstellung begrenzter Einwahllinks auf der Seite des Gerichts – herstellen. Dies ist gerade in Zeiten eines geltenden Kontaktverbots zu erwägen, um dem Grundsatz der Öffentlichkeit effektiv zu entsprechen. Denn Personen, die einer Risikogruppe angehören, sich in Quarantäne befinden oder sich schlicht nicht trauen, das Risiko einer Infektion auf sich zu nehmen, ist die Teilnahme an Verhandlungen derzeit zumindest praktisch verwehrt.
Ferner können die Prozessmaximen der Mündlichkeit, der Öffentlichkeit und der Unmittelbarkeit auch im Rahmen des § 128a ZPO gewahrt werden. Dem mündlichen Vortrag vor Ort ist der per Video und Audio übertragene Vortrag gleichzustellen. Sollte die Technik einmal versagen, müsste die Verhandlung zwar unterbrochen werden, eine Einwahl per Telefon ist in diesen Fällen jedoch möglich, so dass die Verhandlung fortgeführt werden kann (Heetkamp, Mündliche Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung gem. § 128a ZPO – ein Erfahrungsbericht, zpoblog.de, abrufbar hier). Die Übertragung von Bild und Ton in den Sitzungssaal steht ebenfalls im Einklang mit den Voraussetzungen der Öffentlichkeitsmaxime, die eine Beteiligung der Öffentlichkeit nur am Sitzungsort verlangt, nicht aber am, nun abweichenden, Aufenthaltsort der sonstigen Verfahrensbeteiligten. Auch die Unmittelbarkeit, also der Zusammenhang zwischen der Verhandlung, der Beweisaufnahme und der Entscheidung an ein und demselben Gericht, kann gewahrt werden.
Dabei ist auch eine Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen oder Parteien im Wege der Bild- und Tonübertragung gemäß § 128a Abs. 2 ZPO möglich. Zudem kann ein Videoaugenschein im Einverständnis der Parteien durchgeführt werden. Die Qualität der technischen Ausstattung muss dabei natürlich uneingeschränkt funktionsfähig sein, um insbesondere eine freie richterliche Beweiswürdigung zu ermöglichen. Rauschende Bilder und ein stockender Ton mögen im Privatgespräch unangenehm sein, in einem Gerichtsverfahren könnten sie eine Verhandlung zum Scheitern verurteilen. Vor allem Zeugen müssen uneingeschränkt erkennbar sein, damit nichts von der Mimik und Gestik verlorengeht und Aussagen nicht abgelesen werden können. Gerade für unkomplizierte und kurze Vernehmungen, die in keinem Verhältnis zur An- und Abreisezeit stehen, dürfte sich diese Art der Vernehmung jedoch anbieten; auch für Termine ganz ohne Beweisaufnahme bietet sich § 128a ZPO an.
Die Beschleunigung des Verfahrens und Kosteneffizienz sprechen auch unabhängig vom aktuellen Kontaktverbot für die Onlineverhandlung. Ferner können im Vergleich zum schriftlichen Verfahren nur durch die Onlineverhandlung als Alternative der Grundsatz der Mündlichkeit gewahrt und eine Beweisaufnahme durchgeführt werden.
Neuer Ansatz: Online-Courts?
Denkt man die Digitalisierung des Gerichtsverfahrens konsequent weiter, führt einen dies notwendigerweise zu sogenannten Online-Courts, welche vor kurzem auch für die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit diskutiert wurden.
Im Gegensatz zu einer „bloßen“ Verhandlung nach § 128a ZPO könnten an diesen auch die Richter und Richterinnen ortsunabhängig arbeiten, und die Öffentlichkeit könnte für Bürger und Medien umfassend durch eine Zuschaltung zur Videokonferenz hergestellt werden. Dem Risiko, dass Zuschauer und Zuschauerinnen das Verfahren dann an ihren Bildschirmen abfilmen und weiterverwenden, könnte durch ein „Digital-Rights-and-Privacy-Management“ und die Schaffung einer Strafnorm begegnet werden – davon abgesehen besteht die Gefahr heimlicher Bild- und Tonaufnahmen im Gerichtssaal auch heute schon (Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit und Determinierungsgesamtrechnung, MMR 2019, 563, 565). Zudem könnte man mit guten Gründen erwägen, auch die Veröffentlichung von Verfahrensinformationen über ein Justizportal anzuschließen, um der Öffentlichkeitsmaxime vollumfänglich gerecht zu werden (Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit und Determinierungsgesamtrechnung, MMR 2019, 563–567.). In Großbritannien, Brasilien, China, Indien und Singapur etwa finden derartige Onlinegerichtsverhandlungen seit Beginn der Covid-19-Pandemie regelmäßig statt – die Obersten Gerichtshöfe bleiben geschlossen, alle Verfahrensbeteiligten schalten sich aus dem Home-Office zu, und die Verfahren werden live auf die Seite des jeweiligen Gerichts gestreamt (Susskind, Covid-19 shutdown shows virtual courts work better, Financial Times, 07.05.2020, abrufbar hier). Das brasilianische Supremo Tribunal Federal verzeichnet sogar einen Produktivitätsanstieg seit der Verlagerung in den virtuellen Raum (Siehe: Online Plenary Sessions of the Brazilian Federal Supreme Court increase Productivity, abrufbar auf der Seite des Supremo Tribunal Federal unter Highlights, siehe hier).
Auch in Deutschland wagte vor kurzem die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit einen ähnlichen Vorstoß, um in Zeiten der Covid-19-Pandemie die Arbeitsfähigkeit der Gerichte bei gleichzeitigem Gesundheitsschutz aufrechtzuerhalten. Laut einem Referentenentwurf der Bundesregierung vom 09.04.2020 sollte es
- ehrenamtlichen Richtern und Richterinnen möglich sein, der Verhandlung von einem anderen Ort aus beizuwohnen,
- abweichend von § 128a ZPO dem Gericht möglich sein, eine Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung verpflichtend anzuordnen, und
- die Möglichkeit geben, die Öffentlichkeit auszuschließen, wenn infolge einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite der erforderliche Gesundheitsschutz nicht zu gewährleisten ist (Referentenentwurf der Bundesregierung, abrufbar hier).
Eine am 24.04.2020 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) vorgelegte Formulierungshilfe für die Koalitionsfraktionen zum Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit während der Covid-19-Epidemie sowie zur Änderung weiterer Gesetze (Covid-19-ArbGG/SGG-AnpassungsG) nahm diesem Vorstoß jedoch den Wind aus den Segeln [Formulierungshilfe für die Koalitionsfraktionen für einen aus der Mitte des Deutschen Bundestages einzubringenden Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit während der Covid-19-Epidemie sowie zur Änderung weiterer Gesetze (Covid-19 ArbGG/SGG-AnpassungsG), abrufbar hier]. So ist, als Reaktion auf massive Kritik aus Lehre und Praxis, ein Ausschluss der Öffentlichkeit nicht möglich. Ferner wird es keine verpflichtende Anordnung der Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung geben können – das Gericht soll diese Form der Teilnahme vielmehr während einer epidemischen Lage gestatten. Ehrenamtliche Richter und Richterinnen sollen sich jedoch ortsunabhängig zu der Verhandlung zuschalten können.
Dieser Verlauf zeigt, dass der virtuelle Gerichtssaal in Deutschland noch in weiter Ferne liegt. Bezogen auf die Zivilgerichtsbarkeit, mag das Ausbleiben einer solchen digitalen Weiterentwicklung in Zeiten der Pandemie verkraftbar sein, da hier ohnehin das Kontaktverbot bei Verhandlungen im Wege des § 128a ZPO durch den Grundsatz der originären Einzelrichterentscheidung bereits weitestgehend eingehalten werden kann. Im Rahmen der „Digitalisierung der Justiz“ sollte der Gesetzgeber jedoch einen Weg finden, auch die Öffentlichkeit digital in den Prozess einzubinden, um der Justiz in Situationen wie der Covid-19-Pandemie mehr Handlungsspielraum zu geben, ohne dass jemand ein Gesundheitsrisiko eingehen muss. Dies dürfte aktuell den Prozessgrundsätzen sogar besser gerecht werden als eine Übertragung in den Gerichtssaal, den kaum jemand als bloße Saalöffentlichkeit aufsuchen wird. Dem Schutz von Persönlichkeitsrechten müsste dabei durch spezielle Ausgestaltung der Konferenzsoftware oder Zugriffsrechte Genüge getan werden.
Ausblick
Bei allen Vorteilen der Videoverhandlung ist natürlich zu berücksichtigen, dass sie einer Verhandlung unter Anwesenden in manchen Punkten nachsteht. So kann es, insbesondere bei einem notwendigen intensiven Austausch der Parteien, von Vorteil sein, sich nicht nur am Bildschirm zu sehen, da dieser sicherlich eine gewisse Distanz schafft. Die Bereitschaft zum Vergleichsschluss etwa könnte dadurch gemindert sein und das Verfahren so dann doch wieder in die Länge ziehen. Zumal wären eine Unterbrechung und ein „kurzer Austausch auf dem Flur“ zwar virtuell möglich, würden jedoch ihrem Zweck, einem unkomplizierten Gespräch außerhalb des Gerichtssaals, nicht mehr gerecht werden. Die körperliche Distanz könnte ferner einen „Banalisierungseffekt“ des Gerichtsverfahrens haben. Ob derartige Folgen eintreten oder sich die Verfahrensbeteiligten vielmehr schnell an die Onlineverhandlung gewöhnen, wird nur die Erfahrung zeigen können.
Im Umgang mit Covid-19 stellt § 128a ZPO jedenfalls ein hilfreiches Vehikel dar, um das aktuelle Spannungsfeld sinnvoll in den Griff zu bekommen. Verfahren können weitergeführt werden und die Justiz funktionsfähig bleiben, Prozessmaximen können eingehalten und zugleich die Ausbreitung des Virus verlangsamt werden. Wenn nebenbei die Digitalisierung der Justiz, sei es auch nur im Wege eines „Testlaufs“, vorangetrieben werden kann, sollte diese Chance genutzt werden.
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