„Ungeheuerliche Neuigkeiten“ versprach Mitveranstalter und Moderator Prof. Dr. Thomas Wegerich mit Bezug auf einen Buchtitel des verstorbenen F.A.Z.-Herausgebers Frank Schirrmacher in seiner Begrüßung am Nachmittag des 28.10.2025. Gemeinsam mit dem Kooperationspartner Wolters Kluwer hatte der Deutsche AnwaltSpiegel zu einem Roundtable in den F.A.Z.-Tower eingeladen, um das gegenwärtig wohl meistverhandelte „Hot Topic“ der Rechtsbranche zu diskutieren. Denn die Digitalisierung hat die juristische Arbeit grundlegend verändert – und künstliche Intelligenz (KI) rückt ins Zentrum dieser Transformation. Für Kanzleien und Rechtsabteilungen hat sich ein enormes Innovationspotential eröffnet: effizientere Workflows, intelligente Datenanalysen und neue Formen der Mandantenkommunikation. Doch wie viel KI verträgt die Rechtsbranche? Und wie gelingt der Balanceakt zwischen technologischem Fortschritt, ethischen Standards und juristischer Integrität?
Diese und andere Fragen diskutierte das mit Lena Mailin Haffner, LL.M., Innovation Manager bei Norton Rose Fulbright, Ava A. Moussavi, LL.M. (London), Head of Legal Operations & Tech bei GvW Graf von Westphalen, Matthias J. Meckert, Head of Legal Continental Europe bei PGIM Real Estate Germany, Dr. Bernhard Waltl, Co-CEO Liquid Legal Institute und Head of Legal Operations and Innovation bei der BMW Group, sowie Hanny Vonderstein, Lead Technology Product Manager, und Ralph Vonderstein, Geschäftsführer bei Wolters Kluwer Legal Software Deutschland, hochkarätig besetzte Panel.
Technologie und Mensch: KI als Leadership-Thema
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde hatten die Kanzlei- und Unternehmensvertreter Gelegenheit, ihre Position jeweils in einem zehnminütigen Pitch vorzustellen: Lena Haffner präsentierte „NRF’s GenAI Journey“ als gemeinsame strategische Reise von Kanzlei und Klienten, bei der es nicht nur darauf ankomme, KI-Tools erfolgreich zu implementieren. Die eigentliche Strategie bestehe vielmehr darin zu erkennen, was verändert werden soll, wie dies mit den formulierten Zielen in Einklang gebracht wird und wie die Menschen dafür zu begeistern sind. Somit erfasst die Transformation sämtliche Aspekte von der Unternehmens- und Führungskultur über die Produkt- und Preisgestaltung bis hin zur internen und externen Kollaboration. Die Auswahl einzelner Tools diene dem Ziel, sowohl die Business- als auch die Legal-Productivity zu steigern und dem spezifischen Profil der Workflows anzupassen. Neben einem konsistenten und verantwortungsvollen Einsatz liege die größte Herausforderung im Widerstand gegenüber der Veränderung.
Einen pragmatischen und chancenorientierten Ansatz, der die Risiken jedoch nicht ignoriert, vertrat auch Ava Moussavi und legte den Fokus darauf, Partner und Mitarbeiter im Umgang mit generativer KI und Prompting vertraut zu machen. Das „Human-in-the-Loop“-Prinzip führe dabei einerseits dazu, dass jeglicher Output anwaltlich geprüft werden müsse, andererseits eröffne sich ein erhebliches Potential dadurch, sich dank der Technologie mehr auf die juristischen Kernaufgaben fokussieren zu können. Für Juniors wie Partner mache das die Arbeit wieder spannender, weil man sich auf komplexere und strategische Fragestellungen konzentrieren könne. Insgesamt ging es Moussavi darum, die Sozietät nach anglo-amerikanischem Vorbild mehr in Richtung Corporate zu entwickeln, um auch mit alternativen und attraktiven Preismodellen am Markt bestehen zu können.
Bei aller Euphorie über die ungeahnten Möglichkeiten, die aktuelle Legal-Tech- und AI-Tools insbesondere im Bereich der Dokumenterstellung und Automatisierung von wiederkehrenden Prozessen erlauben, wies Matthias Meckert zu Recht auf die zum Teil erratische Performance der derzeit verfügbaren Sprachmodelle hin. So wie menschliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ihre guten und schlechten Tage hätten, bewege sich der Output künstlicher Intelligenz zwischen überbordender Kreativität und schlichter Leistungsverweigerung. Es komme deshalb darauf an, die passenden Werkzeuge im angemessenen Umfang aufgabengerecht einzusetzen, um das viel beschworene Potential auch jeweils für die eigenen Ansprüche nutzbar zu machen.
Auch Bernhard Waltl knüpfte an diesen Gedanken an, indem er betonte, dass wir keinen „Tool-Zoo“ brauchen, indem beinahe täglich neue Attraktionen bestaunt werden können. Vielmehr gehe es um ein passgenaues Knowledge-Management, bei dem Transparenz und Erklärbarkeit die Kernanforderungen seien. Er argumentierte, dass KI-Systeme nicht als mysteriöse „Black Boxes“ betrachtet werden dürfen, sondern ihre Funktionsweise verständlich sein müsse, um Vertrauen zu schaffen. Eine erfolgreiche digitale Transformation in Rechtsabteilungen erfordere mehr als nur Technologie, sondern integriere Menschen und Prozesse bei der Optimierung von Arbeitsabläufen und dem Aufbau eines digitalen Mindsets.
Effizienz und vertrauenswürdige Ergebnisse
Als Antwort auf die Veränderungen im Rechtsmarkt und die Anforderungen von Kanzleien und Rechtsabteilungen insbesondere aus dem Mittelstand – denen die Ressourcen und Kapazitäten internationaler Sozietäten und Konzerne nicht zur Verfügung stehen – hat Wolters Kluwer seit 1978 seine Anwendungssoftware AnNoText entwickelt und um neue KI-Funktionalitäten erweitert. Von der Mandatsanfrage über die digitale Aktenbearbeitung und Vertragserstellung bis hin zur Archivierung sollen Mitarbeiter entlastet und Freiräume für Beratung und Fallanalysen geschaffen werden. „Mandanten erwarten schnelle Reaktionen, und alternative Abrechnungsmodelle fordern neue Effizienzstandards“, formulierte Ralph Vonderstein die Zielsetzung.
Ob Aktenzusammenfassung auf Knopfdruck, automatisierte Prüfung von Miet- und Arbeitsverträgen oder das Formulieren anspruchsvoller juristischer Texte, die auf dem gesammelten Wissensschatz basieren – die integrierten KI-Module wollen typische Use-Cases im Beratungsalltag abdecken und gleichzeitig in bestehende Workflows einbinden. Die Einhaltung berufsrechtlicher Verschwiegenheits- und Datenschutzpflichten würden dabei ebenso berücksichtigt wie der sichere Zugriff auf kuratierten Content anstatt auf beliebige Daten aus dem Web. Dabei gingen die „Halluzinationen gegen null“, wie Hanny Vonderstein versprach, bevor sie das Produkt den Teilnehmern und Panelisten in einer Livedemonstration vorstellte. Durch die Einbindung einer vorkonfigurierten Promptbibliothek, spezialisierte Agenten – etwa zur Format- und Zitatprüfung – sowie einen Knowledge-Graph, der mit 900 Millionen Tokens juristischer Texte trainiert wurde, könne auf strukturiertes Wissen zurückgegriffen werden, um die erforderlichen Qualitätsstandards zu erfüllen.
Komplexe Herausforderungen und neue Kompetenzen
Der Einsatz von KI im juristischen Bereich ist kein bloßes Technologieprojekt mehr, sondern ein tiefgreifender Transformationsprozess, der sowohl strukturelle als auch kulturelle Anpassungen erfordert. Die anschließende Diskussion, die auch Fragen und Kommentare aus dem Plenum berücksichtigte, drehte sich deshalb vornehmlich um die vielfältigen Herausforderungen, vor denen nicht nur Kanzleien und Rechtsabteilungen stehen.
Datenschutz und Datenhoheit spielen eine wichtige Rolle – sowohl was den Umgang mit sensiblen Daten als auch was die Sicherung urheberrechtlich geschützter Inhalte vor unberechtigtem Zugriff betrifft. Aufgrund ihrer Risikoaversion und sorgfältigen Arbeitsweise zeigen Juristen oft einen erheblichen Widerstand gegenüber Veränderungen. Dieser reicht von völliger Ablehnung neuer Technologien bis hin zu passivem Widerstand durch unzureichende Nutzung neuer Tools oder das Festhalten an vertrauten manuellen Prozessen. Diese Haltung könne dazu führen, dass selbst hochmoderne Systeme ihre Vorteile nicht entfalten, weil die Teammitglieder nicht bereit seien, die Technologie vollständig anzunehmen. Die Lösung bestehe in einer Förderung der Adaptionsfähigkeit durch ein vorgelebtes „Growth-Mindset“ und ein durchdachtes Change-Management.
Auf die Frage, was Berufsanfänger denn heute lernen sollten, waren die Antworten des Panels erfrischend analog. „Zehnfinger-Schreiben, Hotelpraktikum und Gebrauchtwagenverkauf“, so lautete etwa die nicht ganz ernst gemeinte Empfehlung von Meckert, über deren tiefere Wahrheit sich aber alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer einig waren: Ohne die Beherrschung grundlegender Kommunikations- und Kulturtechniken, ein ausgeprägtes Servicebewusstsein mit Einfühlungsvermögen sowie eine hohe Frustrationstoleranz und Vertriebsaffinität lassen sich die Veränderungen der Geschäftsmodelle und des Rollenverständnisses in der Rechtsberatung kaum erfolgreich bewältigen.


