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KI in Kanzleien

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Künstliche Intelligenz (KI) verändert den Kanzleialltag in rasantem Tempo. Was heute Effizienz schafft, könnte morgen zu einer strukturellen Lücke führen, wenn weniger Associates eingestellt werden und der Mittelbau allmählich ausdünnt. Die Folgen sind absehbar: In einigen Jahren droht zwischen Junior und Partner ein Vakuum.

KI und Legal Tech verändern den Kanzleialltag

Was vor wenigen Jahren noch als Zukunftsvision galt, ist längst Realität. Tools wie Harvey, Casetext, Luminance oder CoCounsel prüfen Dokumente, führen Recherchen durch, entwerfen Schriftsätze und übernehmen ganze Due-Diligence-Prozesse.

Der technologische Wandel erreicht damit das Herz des juristischen Arbeitens schneller, als viele erwartet hatten. Die Produktivität steigt, die Fehlerquote sinkt, die Mandanten profitieren. Gleichzeitig verändert sich die Struktur der Kanzleien tiefgreifend.

Man sieht zunehmend, wie KI-Lösungen klassische Einstiegsaufgaben nahezu vollständig ersetzen. Vertragsanalysen, Dokumentenprüfung oder Standardrecherche, Tätigkeiten, mit denen früher ganze Jahrgänge von Asswociates beschäftigt waren, werden nun automatisiert. Kanzleien reagieren darauf, indem sie ihre Recruitingstrategien neu justieren.

Wer braucht noch Associates?

Nach Jahren des Wachstums erleben viele Kanzleien eine Phase gezielter Konsolidierung. In den USA und Großbritannien ist der Trend bereits sichtbar: Der Associate-Headcount sinkt, die Einstellungsrunden werden kleiner und gezielter. Laut dem „State of the US Legal Market 2024“ des Thomson Reuters Institute setzen viele Sozietäten auf Qualität statt Quantität und integrieren Legal-Tech als festen Bestandteil ihrer Wertschöpfungskette.

Auch in Deutschland zeigt sich eine deutliche Verschiebung. Die Zeit der breiten Jahrgangsaufnahmen ist vorbei. Gesucht werden erfahrene Juristen mit technologischem Verständnis, ökonomischem Denken und Kommunikationsstärke.

Aus Sicht der Personalberatung ist diese Veränderung deutlich spürbar. Das Volumen klassischer Associatesuche sinkt, während Anfragen nach spezialisierten Profilen zunehmen. Was früher viele Junioren erledigten, übernehmen heute Algorithmen schneller, günstiger und konsistenter.

Zahlen aus 2023 und 2024 zeigen nur den Anfang dieser Entwicklung. Wie rasant sie sich fortsetzt, lässt sich kaum seriös prognostizieren, denn die technischen Möglichkeiten verändern sich ebenso schnell wie die Strukturen, die Kanzleien künftig brauchen werden.

Senior Associates bis Counsels – das Rückgrat der Kanzlei

Die unmittelbaren Effizienzgewinne überdecken eine langfristige Herausforderung: den drohenden Schwund des Mittelbaus. Senior Associates, Managing Associates und Counsels bilden das funktionale Herz vieler Kanzleien. Sie führen Mandate, koordinieren Teams und sind zentrale Ansprechpartner für Mandanten.

Wenn der Nachwuchs dünner wird, entsteht eine strukturelle Lücke genau in dieser Ebene. In den USA sprechen Managing Partner bereits von einem „Generation Gap“. Die Partner werden älter, die Pipeline für Counsel- und Salary-Partner-Positionen versiegt.

Auch in Deutschland ist dieser Effekt absehbar, wenn auch leiser. Die Jahre 2022 bis 2025 könnten im Rückblick jene Phase sein, in der zu wenig juristisches Talent nachgezogen worden ist. Die klassische Karrierepyramide droht, sich zur Sanduhr zu verformen: breit an der Spitze, schmal in der Mitte, mit einer Basis, die kaum noch nachwächst.

Wie stark dieser Wandel wirkt, hängt jedoch stark vom Kanzleityp ab. Großkanzleien investieren massiv in Technologie, Prozessdigitalisierung und Mandatsmanagement. Ihr Fokus liegt auf hochautomatisierten Abläufen, internationaler Integration und der Entwicklung spezialisierter Beratungsfelder, etwa Datenschutz-, Energie- oder KI-Regulierung.

Mittelständische Kanzleien wachsen stabil, oft durch Spezialisierung und persönliche Mandatsbeziehungen. Sie sind stärker regional verankert, dafür flexibler im Umgang mit neuen Tools. Kleine Boutiquen und Sozietäten mit weniger als zehn Berufsträgern kämpfen am sichtbarsten mit Nachwuchsmangel. Zugleich liegt hier auch eine große Chance: Wer mutig in Legal-Tech investiert, etwa durch einen Legal-Engineer oder eine spezialisierte Projektjuristin, kann Kapazitätsengpässe ausgleichen und Mandate annehmen, die früher aufgrund fehlender Manpower unerreichbar waren.

Automatisierte Due Diligence, Vertragsanalyse oder Wissensmanagement ermöglichen diesen kleineren Einheiten, in Bereichen mitzuspielen, die bislang Großkanzleien vorbehalten waren. Der technologische Wandel könnte damit ausgerechnet für jene zur Chance werden, die ihn aktiv gestalten.

Ausbildung und Wissenstransfer – ein neues Lernverständnis

Der Rückgang klassischer Juniorrollen wirft die Frage auf, wie Ausbildung künftig funktionieren soll. Associates lernen traditionell „on the job“, also durch Bearbeitung echter Fälle und das Mitlaufen in Teams. Wenn Routineaufgaben zunehmend von KI übernommen werden, fehlt dieser Übungsraum.

Viele Kanzleien reagieren bereits. Sie erweitern ihre internen Academy-Programme, integrieren Schulungen zu KI, Legal-Tech, Datenanalyse und Mandatsmanagement. Ausbildung wird zunehmend multidisziplinär, sie verbindet juristisches, technisches und strategisches Denken.

Auch an den juristischen Fakultäten beginnt sich dieser Wandel abzuzeichnen. Universitäten wie Passau oder die Bucerius Law School integrieren Legal-Tech- und KI-Themen inzwischen fest in ihr Curriculum. Dieser frühe Zugang zu digitalen Werkzeugen könnte langfristig dazu beitragen, dass junge Juristen den Umgang mit KI nicht nur als Hilfsmittel, sondern als selbstverständlichen Teil ihres Berufs verstehen. Ob und wie schnell sich dieser Ansatz in der Breite durchsetzt, bleibt abzuwarten, doch er könnte zu einem entscheidenden Faktor werden, wenn es darum geht, die nächste Generation auf die Arbeit in einer zunehmend technologisierten Kanzleiwelt vorzubereiten.

Auch außerhalb der Kanzleiwelt schreitet die technologische Entwicklung voran. In manchen Rechtsabteilungen werden erste KI-gestützte Anwendungen bereits getestet, häufig pragmatischer und mit kürzeren Entscheidungswegen als in Sozietäten. Für Kanzleien bedeutet das zusätzlichen Druck, den eigenen Transformationsprozess aktiv zu gestalten.

Neue Rollen, neue Profile

Mit dem technologischen Wandel entstehen neue Rollen, die vor wenigen Jahren kaum existierten. Legal Engineers, Legal Project Manager, Knowledge Lawyers oder Legal Operations Specialists sind heute gefragte Positionen und verändern den Personalmarkt grundlegend.

Zunehmend gefragt sind Juristinnen und Juristen, die Komplexität übersetzen können, zwischen Mandant, Technologie und Kanzleistruktur. Soft Skills wie Leadership, Change-Kompetenz und Empathie werden zur Kernqualifikation, ebenso wie Kenntnisse in Datenmanagement, KI-Ethik und Reg-Tech.

Auch das Recruiting selbst wandelt sich. Es folgt immer weniger dem aktuellen Bedarf, sondern orientiert sich zunehmend an der langfristigen Kanzleistrategie. Wer heute die richtigen Köpfe einstellt, definiert die Kanzlei von morgen.

Zukunftsszenario: Wer trägt das Geschäft?

Wenn der Mittelbau wegzubrechen droht, müssen Kanzleien umdenken. Drei mögliche Entwicklungslinien zeichnen sich ab:

  • Erstens: Einige Sozietäten werden auf flachere Strukturen und hochautomatisierte Prozesse setzen. KI ersetzt dort viele klassische Hierarchien; Teams arbeiten stärker interdisziplinär mit Datenanalysten und Technologieexperten zusammen.
  • Zweitens: Andere Kanzleien öffnen sich für Kooperationen mit spezialisierten Legal-Tech-Dienstleistern. Wissen und Manpower werden projektweise hinzugezogen, ein flexibles Modell, das allerdings kulturelle Brüche mit sich bringen kann.
  • Drittens: Wieder andere verfolgen gezielt den Aufbau eigener Talente. Sie kombinieren Ausbildung, Spezialisierung und neue Rollenmodelle und stärken so den Mittelbau als bewusst geformte Struktur, nicht als Zufallsprodukt.

Je nach Marktsegment und Kanzleikultur wird sich wohl eine Mischung dieser Ansätze entwickeln. Klar ist: Der Mittelbau bleibt der strategische Schlüssel. Ohne ihn fehlt die Verbindung zwischen operativer Exzellenz und partnerschaftlicher Verantwortung.

Fazit: Der Mittelbau als Zukunftsanker

Künstliche Intelligenz löst Effizienzprobleme, aber sie schafft strukturelle Herausforderungen. Der kurzfristige Kostenvorteil kann langfristig teuer werden, wenn Kanzleien heute zu wenig in ihren Nachwuchs investieren.

Der Mittelbau, lange als selbstverständlich betrachtet, wird künftig zur strategischen Ressource. Er trägt Wissen, Kontinuität und Kultur, Eigenschaften, die sich nicht digitalisieren lassen.

Kanzleien, die den Wandel vorausschauend gestalten, werden profitieren, mit klarer Talentstrategie, technologischem Mut und einer Ausbildung, die Mensch und Maschine zusammenbringt. Wer dagegen nur spart, wird in einigen Jahren feststellen, dass der Mittelbau nicht einfach digital reproduzierbar ist.

Die Weichenstellungen dieser Jahre werden den Markt verändern. KI wird die Kanzleiwelt nachhaltig verändern – leise, aber tiefgreifend. Entscheidend wird sein, wer erkennt, dass der Mittelbau das verbindende Element zwischen Mensch, Mandat und Technologie bleibt, und diese Haltung schon heute in seine Kanzleikultur integriert. 

Autor

Isabell Stoffers Indigo Headhunters, Frankfurt am Main Partnerin

Isabell Stoffers

Indigo Headhunters, Frankfurt am Main
Partnerin


isabell.stoffers@indigo-headhunters.com
www.indigo-headhunters.com