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Modernisierung der Produkthaftung

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Seit fast 40 Jahren gilt europaweit eine verschuldensunabhängige Haftung für fehlerhafte Produkte. Mit der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie 2024/2853 (ProdHaftRL) steht ein grundlegender Wandel bevor: Wesentliche Begrifflichkeiten werden erweitert, weitere Akteure werden in den Haftungskreis einbezogen und vor allem wird es grundlegende Änderungen im Beweisrecht geben. Die wirtschaftlichen und rechtlichen Änderungen seit Annahme des derzeitigen Haftungsregimes, die der europäische Gesetzgeber damit adressiert, sind bekannt: Software und vernetzte Produkte sind omnipräsent, Wertschöpfungsketten werden globaler und die Kreislaufwirtschaft fordert neue Umgangsformen mit bereits in Verkehr gebrachten Erzeugnissen. Zudem hat der Gesetzgeber vermeintliche Beweisschwierigkeiten in bestimmten komplexen Fällen festgestellt.

Zur Umsetzung der ProdHaftRL hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) bereits einen ersten Entwurf (Ref-E) vorgelegt. Beim Abgleich des Ref-E und der umzusetzenden ProdHaftRL zeigt sich, dass der deutsche Gesetzgeber eine andere Struktur wählen wird. Vor allem aber wird ein Optimierungsbedarf im Hinblick auf die spezifische Ausgestaltung der den Mitgliedstaaten überlassenen Themen deutlich. Darauf soll nachfolgend punktuell bei der Skizzierung der Neuerungen eingegangen werden.

Ein neuer Produktbegriff und erweiterter Schutzumfang

Software, software- oder KI-basierte Produkte, vernetzte Produkte, neue Technologien. Im Alltag sind sie nicht mehr wegzudenken, und doch war bislang umstritten, ob und, wenn ja, inwieweit Software als Produkt gilt und damit dem Produkthaftungsrecht unterfällt. Auch wird der Verlust von Daten im derzeitigen Produkthaftungsregime nicht geschützt. Das ändert sich nun. Eine wesentliche Neuerung ist die Erweiterung des Produktbegriffs und des Schutzumfangs.

So werden neben klassischen beweglichen Sachen und Elektrizität künftig auch Software (mit Ausnahme von freier und „Open Source“-Software) und KI-Systeme sowie digitale Konstruktionsunterlagen, wie zum Beispiel Vorlagen für 3-D-Drucker, als eigenständige Produkte erfasst. Ausdrücklich in die Produkthaftung aufgenommen werden auch Komponenten und verbundene Dienste.

Wesentlich veränderte Produkte gelten künftig als neue Produkte; der für diese Veränderung Verantwortliche haftet als Hersteller. Damit sollen Aktivitäten zur Verlängerung des Lebenszyklus von Produkten adressiert werden (Stichwort Upcycling).

Angepasst wird aber nicht nur der Begriff des den Schaden auslösenden Produkts, sondern auch die vom Produkthaftungsrecht geschützten Rechtsgüter. Zusätzlich zu Körper- und Sachschäden können künftig auch die Vernichtung oder Beschädigung nicht beruflich genutzter Daten ersatzfähig sein.

Fehlerbegriff, Beurteilungszeitpunkt und Updates

Auch das Herzstück des Produkthaftungsrechts, der Produktfehler, wird künftig weiter gefasst, um damit insbesondere die Herausforderungen von Software und KI und den Gleichlauf von Produktsicherheits- und haftungsrecht zu adressieren.

Bislang gilt ein Produkt als fehlerhaft, wenn es nicht den berechtigten Sicherheitserwartungen entspricht. Künftig ist ein Produktfehler auch dann anzunehmen, wenn das Produkt nicht die Sicherheit bietet, die nach Unionsrecht oder nationalem Recht vorgeschrieben ist, wobei der Ref-E neben dem Unionsrecht allein an das deutsche Recht anknüpft. Beurteilungsmaßstab bleibt dabei der Stand von Wissenschaft und Technik, wobei der bisherige Haftungsausschluss für Entwicklungsrisiken nach dem Ref-E erhalten bleibt.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bewertung der Fehlerhaftigkeit bleibt grundsätzlich jener des Inverkehrbringens oder der Inbetriebnahme. Neu ist aber, dass sich der maßgebliche Zeitpunkt erheblich verschiebt, wenn der Hersteller nach dem Inverkehrbringen die Kontrolle über ein Produkt behält, etwa durch die Möglichkeit des Aufspielens von Updates. In diesem Fall ist der Stand der Wissenschaft und Technik so lange seitens des Herstellers einzuhalten und sicherzustellen, bis das Produkt die Kontrolle des Herstellers verlässt. Damit werden auch Updates, Upgrades oder deren Unterlassung haftungsrelevant. Die Praxis wird hier vor allem mit der Frage kämpfen müssen, in welchem Umfang Hersteller für die Sicherheitslage ihrer Produkte kontinuierlich verantwortlich bleiben und inwieweit es eine haftungsrelevante Updatepflicht gibt. Anders als im Richtlinientext ist der für die Beurteilung der Fehlerhaftigkeit maßgebliche Zeitpunkt in einer gesonderten Norm (§ 8) geregelt, was aus Gründen der Übersichtlichkeit und Bedeutung begrüßenswert ist.

Für die inhaltliche Beurteilung des Fehlerbegriffs sind seit jeher alle Umstände zu berücksichtigen, wobei der Gesetzgeber nun eine ganze Reihe von neuen Aspekten ausdrücklich vorsieht. Neu ist etwa die Berücksichtigung von Selbstlernfähigkeiten von Produkten, der Wechselwirkung mit anderen Produkten sowie von sicherheitsrelevanten Cybersicherheitsanforderungen (siehe hierzu auch den Beitrag in CyberSecurityQuarterly, Ausgabe 03/2025). Auch sind Korrekturmaßnahmen wie Rückrufe bei der Bewertung der Fehlerhaftigkeit zu berücksichtigen, wobei in Erwägungsgrund 34 klargestellt wird, dass solche Maßnahmen keine Vermutung der Fehlerhaftigkeit begründen.

Ausweitung der Haftung auf weitere Akteure

Verschuldensunabhängig haften werden zukünftig auch Wirtschaftsakteure, die bislang keinerlei Berührungspunkte damit hatten. Neben dem klassischen Hersteller, dem Importeur und (subsidiär) dem Lieferanten können künftig auch Bevollmächtigte, der jeweilige Fulfilment-Dienstleister (der mindestens zwei von vier Leistungen wie Lagerung, Verpackung, Adressierung oder Versand erbringt) und, subsidiär, Anbieter von Onlineplattformen verschuldensunabhängig für Produktfehler haften.

Der Ref-E spricht statt von dem „Bevollmächtigten“ von einem „Beauftragten“. Inhaltlich ist damit indes dieselbe Person gemeint, laut Begründung soll mit dem abweichenden Begriff allein einer möglichen Verwechslung mit einem Bevollmächtigten gemäß §§ 164 ff. BGB vorgebeugt werden.

Offenlegungspflichten und Beweiserleichterungen

Ein echter Umbruch zeigt sich im Prozessrecht: Erstmals werden gesetzliche Vermutungen und Offenlegungspflichten eingeführt, die an angloamerikanische Discovery-Instrumente erinnern.

Auf Antrag kann das Gericht die Parteien zur Vorlage relevanter Beweismittel verpflichten – bei Unternehmen etwa Unterlagen zur Produktentwicklung, technische Spezifikationen, Prüfprotokolle oder Erkenntnisse aus der Produktbeobachtung. Selbst Geschäftsgeheimnisse können der Offenlegungspflicht unterfallen. Die Schwellenanforderungen für Anträge sind gering. Grundsätzlich genügt es, die Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch unter Vorlage von Beweismitteln plausibel darzulegen. Zwar ist die Pflicht auf das erforderliche und verhältnismäßige Maß zu beschränken und können für Geschäftsgeheimnisse Maßnahmen ergriffen werden, um die Vertraulichkeit zu wahren; doch gerade hier lässt der Ref-E wichtige Maßstäbe vermissen, indem er sich auf die Übernahme des Richtlinientextes beschränkt. Dabei hatte der europäische Gesetzgeber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bestimmte Fragen, zum Beispiel wie konkret ein Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln sein muss oder wie die Nichteinhaltung der Verpflichtung zur Offenlegung von Beweismitteln sanktioniert werden soll, nicht zu den in der Richtlinie geregelten Angelegenheiten gehören (Erwägungsgrund 43). Es läge also am nationalen Gesetzgeber, für solche Fragen Klarheit zu schaffen. Das gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass deutsche Parteien und Gerichte regelmäßig keinerlei Erfahrung mit Discovery-Verfahren haben.

Als Druckmechanismus für die beklagte Partei wird die Offenlegungspflicht mit den neuen gesetzlichen Vermutungen verknüpft: Legt der Beklagte entgegen einer Anordnung relevante Beweismittel nicht offen, wird die Fehlerhaftigkeit des Produkts vermutet. Weder die ProdHaftRL noch der Ref-E sehen hingegen ausdrückliche Folgen für den Fall vor, dass der Geschädigte seiner Offenlegungspflicht nicht nachkommt.

Auch wenn die Beweislast als solche nach wie vor beim Geschädigten verbleibt, wird es noch eine Reihe von weiteren gesetzlichen Vermutungen zur Fehlerhaftigkeit und haftungsbegründenden Kausalität, also im Ergebnis zu Lasten der Industrie, geben. Teils knüpfen sie an sehr unbestimmte Begriffe an, die der Ref-E bedauerlicherweise ohne weitere Klarstellungen aus der ProdHaftRL übernommen hat, wie eine „offensichtliche Funktionsstörung“, eine „übermäßige Schwierigkeit“ oder bestimmte Wahrscheinlichkeiten. Hier dürfte das Diskussionspotential im Prozess programmiert sein.

Auch das Produktsicherheitsrecht wird bei den gesetzlichen Vermutungen eine zentrale Rolle einnehmen: Werden Verstöße gegen verbindliche Anforderungen an die Produktsicherheit aus europäischem oder nationalem Recht festgestellt, die vor dem Risiko der eingetretenen Verletzung schützen sollen, so löst auch dies die Vermutung der Fehlerhaftigkeit aus.

Fazit

Die neue Produkthaftungsrichtlinie markiert einen tiefgreifenden Richtungswechsel im Produkthaftungsrecht. Sie reagiert auf legitime Herausforderungen der modernen Produktwelt, verschiebt aber das Gewicht zwischen Schutz der Verbraucher und Risiken für die Wirtschaft deutlich zugunsten der Geschädigten und zu Lasten der Industrie. Der ohnehin verschuldensunabhängig haftende Wirtschaftsakteur wird künftig vor allem mit enormen Änderungen des Beweisrechts zu kämpfen haben. Dokumentationsmanagement und Geschäftsgeheimnisschutz werden zu zentralen Haftungsfeldern.

Für die Rechts- und Unternehmenspraxis bedeutet dies intensive Vorbereitungs- und Anpassungsaufwände: Von der internen Organisation über Versicherungs- und Vertragsgestaltung bis zur technischen Produktpflege sollten Maßnahmen getroffen werden, um die neuen Haftungsrisiken zu beherrschen. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte werden bei der Beratung ihrer Mandantinnen und Mandanten gefragt sein, strategische Dokumentationskonzepte und prozessuale Verteidigungsstrategien zu entwickeln. 

Autor

Dr. Astrid Seehafer, M.Sc. Luther Rechtsanwaltsgesellschaft, Berlin Rechtsanwältin, Partnerin

Dr. Astrid Seehafer, M.Sc.

Luther Rechtsanwaltsgesellschaft, Berlin
Rechtsanwältin, Partnerin


astrid.seehafer@luther-lawfirm.com
www.luther-lawfirm.com


Autor

Jens-Uwe Heuer-James Luther Rechtsanwaltsgesellschaft, Hannover Rechtsanwalt, Partner

Jens-Uwe Heuer-James

Luther Rechtsanwaltsgesellschaft, Hannover
Rechtsanwalt, Partner


jens.heuer-james@luther-lawfirm.com
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