Eine neuerliche Entscheidung des Achten Senats des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur Entgeltgleichheit wird mit großem Interesse aufgenommen [Urteil vom 23.10.2025 (8 AZR 300/24)]. Das Themenfeld ist seit Jahren von Einzelfallrechtsprechung und methodischen Diskussionen geprägt; aktuell steht die Umsetzung der EU-Entgelttransparenzrichtlinie (2023/970/EU) kurz bevor. Im Kern geht es bei dieser BAG-Entscheidung – zunächst liegt wie üblich nur die Pressemitteilung vor – zum einen lediglich um die Beweislastregeln nach Indizwirkung des § 22 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Dazu bekräftigt der Senat die unionsrechtlich vorgegebene Vermutungsmechanik: Im Equal-Pay-Prozess genügt regelmäßig der schlichte sogenannte Paarvergleich – also der Nachweis, dass eine Arbeitnehmerin bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit weniger verdient als ein männlicher Kollege – um die Vermutung einer Benachteiligung wegen des Geschlechts auszulösen. Die zusätzlichen Hürden, die das Landesarbeitsgericht (LAG) Stuttgart eingeführt hatte, wie etwa eine „überwiegende Kausalitätswahrscheinlichkeit“ für die Benachteiligung, sind mit Art. 157 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und Art. 19 der Gleichbehandlungsrichtlinie 2006/54/EG unvereinbar.
Zum anderen bestätigt das BAG abweichend vom LAG die bekannte Rechtsfolge: Misslingt dem Arbeitgeber die Widerlegung, schuldet er die konkrete Vergütung des herangezogenen Vergleichskollegen. Im vorliegenden Fall ist daher an das LAG zur Erhebung genau dieser – etwaigen – Widerlegungen zurückverwiesen worden. Was genau die betroffene Daimler-Abteilungsleiterin also erhalten wird, steht noch länger aus. Rechtlich lässt sich aber bereits jetzt für die Praxis Folgendes ableiten:
Sachverhalt und LAG Entscheidung
Der Sachverhalt spielt in der E3-Führungsebene eines großen Industrieunternehmens (im Daimler-Konzern). Die Klägerin begehrte die rückwirkende finanzielle Gleichstellung mit bestimmten männlichen Kollegen in mehreren Entgeltbestandteilen (fixe Grundvergütung, Bonus, Pensionsbaustein, aktienorientierte Vergütung). Sie stützte sich dabei unter anderem auf ein unternehmensinternes Entgelttransparenz-Dashboard, das Medianwerte nach Geschlecht auf Ebene E3 auswies. Das Gehalt eines der Klägerin offenbar konkret bekannten männlichen Kollegen lag über dem Median der männlichen Vergleichsgruppe, das der Klägerin unterhalb des Medianwerts der weiblichen Gruppe.
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden Württemberg (Urteil vom 01.10.2024 – 2 Sa 14/24) hatte die auf den Paarvergleich gerichteten Hauptanträge abgewiesen und stattdessen zu einzelnen Bausteinen Ansprüche auf die Differenz „Median Männer minus Median Frauen“ zuerkannt. Also offenbar eine Art „bereinigten“ Gender Pay Gap des Unternehmens. Dogmatisch verlangte das LAG für das Eingreifen der Beweislastumkehr nach § 22 AGG eine „überwiegende Kausalitätswahrscheinlichkeit“ der Geschlechtsbenachteiligung und verneinte eine „absolute Indizwirkung“.
Zudem sah das LAG die Indizwirkung des einen höheren Gehalts innerhalb der vorgetragenen großen Vergleichsgruppen sowohl der Männer als der Frauen durch deren Medianwert bereits (teilweise) „entkräftet“. In der Rechtsfolge bezog sich das LAG sodann auf rechnerische Mittelwerte der Gruppen (beim Gehalt auf Mediandifferenz, beim Performance Phantom Share Plan „PPSP“ auf Durchschnittswerte), nicht auf den – einen – individuellen Vergleichskollegen. Es sprach dabei also nur eine „Angleichung nach oben“, aber eben nicht „nach ganz oben“ zu. Beide neuen Ansätze korrigiert das BAG nun und verwies die Entscheidung in die Vorinstanz zurück.
Paarvergleich genügt, Median und Gruppengröße sind irrelevant
Der Senat stellt nunmehr klar, dass es im ersten Schritt für die Vermutung einer Entgeltbenachteiligung genügt, wenn die Klägerin darlegt und im Bestreitensfall beweist, dass ein (!) männlicher Kollege bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit höher vergütet wird. Die Beweislast hat sodann der Arbeitgeber, der widerlegen muss beziehungsweise kann, dass eine Entgeltbenachteiligung aufgrund des Geschlechts tatsächlich vorliegt. Das entspricht der EuGH Linie zu Art. 157 AEUV (unter anderem Brunnhofer, C 381/99; Kenny, C 427/11; Tesco, C 624/19) und der bisherigen deutschen BAG-Rechtsprechung (BAG-Urteil vom 21.01.2021 – 8 AZR 488/19; BAG-Urteil vom 16.02.2023 – 8 AZR 450/21).
Weitere nationale Zusatzerfordernisse („überwiegende Wahrscheinlichkeit“ für das Eingreifen der Indizwirkung für die Beweislastumkehr) sind unionsrechtswidrig. Das BAG betont, dass weder die Größe der männlichen Vergleichsgruppe noch die Höhe der Medianentgelte beider Geschlechtsgruppen das schlichte Eingreifen der Vermutung aus dem Paarvergleich verhindern. Weder der Median noch ein Durchschnitt oder individuelle Abweichungen („der bestbezahlte Mann und die schlechtestverdienende Frau“) entwerten die Indizwirkung des Paarvergleichs per se. Sie werden allenfalls später – im zweiten Schritt – bei der Widerlegung und der sachlichen Rechtfertigung eine Rolle spielen.
Rechtsfolge: Anpassung „zum Kollegen“, nicht nur zur Mediandifferenz
Gelingt dem Arbeitgeber die Widerlegung nicht, ist er verpflichtet, das Entgelt des herangezogenen Vergleichskollegen zu zahlen. Damit bestätigt das BAG die „Anpassung nach oben zum Paarvergleich“ als Rechtsfolge, so wie es auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) für Entgeltgleichheitsklagen bislang vorgab. Die vom LAG praktizierte Deckelung auf gruppenstatistische Differenzen (Median Männer minus Median Frauen) reicht nicht aus, wenn der Paarvergleich trägt und die Widerlegung misslingt.
Für die Praxis bedeutet das: Das finanzielle Risiko der Verfahren kann erkennbar steigen, wenn die Anspruchshöhe nicht mehr typischerweise auf den Gruppenmittelwert begrenzt ist, sondern auch die konkrete Vergütung des einen sehr gut bezahlten Vergleichskollegen erreicht. Es besteht der Anspruch nicht nur auf „Angleichung nach oben“ sondern sogar „auf Angleichung nach ganz oben“.
Dazu muss einer Klägerin jedoch auch das konkrete Gehalt eines Kollegen so bekannt sein, dass sie dies im Prozess vortragen und damit das Indiz für den Paarvergleich vorbringen kann. In der althergebrachten deutschen Kultur, in der über Gehalt nicht gesprochen wird, war dies bislang als eher unüblich bis vollkommen ausgeschlossen. Durch den anstehenden Kulturwandel, den die europaweit umzusetzende EU-Entgelttransparenzrichtlinie mit sich bringen wird, wird sich dies faktisch ändern. Nicht nur werden etwaige Schweigepflichtklauseln aus den Anstellungsverträgen verschwinden müssen, sondern womöglich wird sich – langfristig – ein offener Austausch der Belegschaft über das eigene, konkrete Gehalt ergeben.
Widerlegungslast des Arbeitgebers
Im zurückverwiesenen Verfahren wird das LAG Stuttgart zu prüfen haben, ob die Beklagte die Vermutung widerlegen kann. Dafür genügen die bislang nur pauschal vorgebrachten Hinweise auf „Leistungsschwäche“ nicht. Erforderlich sind der Vortrag und der Beweis objektiver Kriterien (zum Beispiel belastbar dokumentierte Leistungsbewertungen, nachweisliche Unterschiede in Verantwortungsumfang, Komplexität, Qualifikation, gegebenenfalls auch Dienstalter), die legitim sind sowie geeignet und erforderlich zur Erreichung neutraler Vergütungsziele und die in ihrer Anwendung konsistent und nicht indirekt geschlechtsdiskriminierend [vgl. unter anderem EuGH-Urteil vom 26.06.2001 – C-381/99 („Brunnhofer“); EuGH-Urteil vom 27.05.2004 – C-285/02 („Elsner-Lakeberg“); EuGH-Urteil vom 03.10.2006 – C-17/05 („Cadman“) und EuGH-Urteil vom 28.02.2013 – C-427/11 („Kenny“)].
Die Pressemitteilung des BAG hebt ausdrücklich hervor, dass die Prüfung „ungeachtet der Intransparenz“ des Entgeltsystems zu erfolgen hat. Diese Randbemerkung weist auf das Arbeitgeberrisiko hin, welches im Zuge der bis zum Sommer umzusetzenden EU-Entgelttransparenzrichtlinie noch viel deutlicher hervortreten wird: Intransparenz ist kein Argument gegen die Vermutung, sondern vergrößert vielmehr das Risiko, dass die konkrete Widerlegung im Einzelfall misslingt, wenn die objektiven Gründe weder hinreichend dargelegt noch empirisch nachvollziehbar sind. Arbeitgeber sollten deshalb bereits jetzt Bewertungs und Entgeltlogiken (etwa Gehaltsbänder, Kriterien, Bewertungsverfahren, Entscheidungsprozesse) vorhalten und dokumentieren, nicht nur, um ab Juni 2026 den Transparenzanforderungen der EU-Entgelttransparenzrichtlinie nachzukommen, sondern auch, um in etwaigen Gerichtsverfahren nach einer womöglich eingetretenen Beweislastumkehr das Indiz einer geschlechtsbedingten Diskriminierung mit konkretem Sachvortrag entkräften zu können.
Dashboard Daten und innerbetriebliche Transparenz
In diesem Verfahren war der Verweis der Klägerin auf das Entgelttransparenz Dashboard nicht der hinreichende Ausgangspunkt für den Paarvergleich, sondern ihre persönliche Kenntnis des Gehalts ihres besonders gut verdienenden Kollegen. Das ist eine zusätzliche Besonderheit des konkreten Falls und hat zunächst nichts mit den Auskünften nach dem Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG) oder etwaigen Transparenzinformationen zu tun.
Zukünftig werden aber solche Dashboard- oder ähnliche Datenangaben im Rahmen der Entgelttransparenz (ob Median gemäß deutschem EntgTranspG oder demnächst Durchschnitt nach der EU-EntgTransp-Richtlinie) dazu führen, dass diese den Erstvortrag eines Klägers erleichtern, wenn und soweit darin geschlechtsbezogene Unterschiede hervortreten.
Ausblick: Entgelttransparenzrichtlinie
Die Entscheidung steht in einem Umfeld wachsender Transparenzpflichten. Mit der Umsetzung der EU-Entgelttransparenzrichtlinie (2023/970/EU) bis Juni 2026 werden Auskunftsrechte und proaktive Informationspflichten (auch im Bewerbungsverfahren) weiter ausgebaut; Kriterien sind künftig „objektiv und geschlechtsneutral“ auszugestalten. Das erhöht die Anforderungen an die Konzeption von Vergütungssystemen und die Nachweisfähigkeit im Streitfall. Die hier bekräftigte Vermutungsmechanik des Paarvergleichs wird sich mit den neuen Pflichten wechselseitig verstärken – zumal die Richtlinie für Verstöße ebenfalls Beweiserleichterungen und effektive Sanktionen verlangt, es also mindestens bei der Indizwirkung und der Beweislastumkehr bleiben wird.
Fazit
Der Achte Senat des BAG setzt eine klare unionsrechtliche Linie um: Der Paarvergleich als Indiz genügt; Medianstatistik und Gruppengrößen sind für das Eingreifen der Vermutung unerheblich; die Rechtsfolge ist die konkrete Gleichstellung mit dem Vergleichskollegen, wenn die Widerlegung misslingt.
Für die Praxis in den Betrieben heißt das: Die kommende Aufgabe wird nicht nur auf eine Verteidigungstaktik im Einzelfall auszurichten sein, sondern ganz grundsätzlich eine belastbaren Funktions und Leistungsdarlegung verschiedener Jobgruppen erfordern. Wer als Arbeitgeber Vergütungsentscheidungen in weiterhin intransparenten Verfahren trifft, geht künftig ein gesteigertes Equal-Pay-Risiko ein. Umgekehrt erhalten schlechter bezahlte Arbeitnehmerinnen ein handhabbares Mittel, berechtigte Equal-Pay-Ansprüche effektiv durchzusetzen.


