CyberSecurityQuarterly ist eine Publikation der Produktfamilie Deutscher AnwaltSpiegel

CyberSecurityQuarterly ist eine Publikation der Produktfamilie Deutscher AnwaltSpiegel

Aktuelle Ausgabe

Digitale Souveränität als nationale Priorität

Artikel anhören
Artikel zusammenfassen
Teilen auf LinkedIn
Teilen per Mail
URL kopieren
Drucken

Mittelfeld, Tendenz fallend

Die digitale Revolution prägt das ausgehende 20. Jahrhundert ähnlich tiefgreifend wie die industrielle Revolution das Jahrhundert zuvor. Neue Technologien und Geschäftsmodelle treiben diesen Wandel voran, doch Deutschland droht im internationalen Vergleich zurückzufallen. Digitale Souveränität gewinnt angesichts geopolitischer Spannungen an Bedeutung, doch Deutschland bleibt abhängig. Zwar gibt es politisches Bewusstsein für das Thema, doch viele Initiativen haben bisher wenig konkrete Fortschritte gebracht. Was hält Deutschland zurück, und wie kann es zur digitalen Spitze aufschließen?

Gescheiterte Digitalisierungsvorhaben

Digitalisierung bedeutet die umfassende Anwendung digitaler Technologien. Anfangs diente sie der Effizienzsteigerung, später brachte sie disruptive Veränderungen durch Unternehmen wie Amazon oder Tesla. Erfolgreiche Digitalisierung erfordert digitale Infrastrukturen, sichere Datenlösungen und leistungsfähige Rechenzentren. Ebenso wichtig sind Fachkräfte, innovationsfreundliche Verwaltung und ausreichende finanzielle Mittel.

Seit mindestens zehn bis 15 Jahren gehört Digitalisierung zu den wichtigen Themen der Politik. Schon die Digitale Agenda 2014–2017 des Bundes sprach fast alle auch heute wichtigen Themen an, konnte aber die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen. Selbst der Breitbandausbau ist bis heute weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die Umsetzung scheiterte an starren rechtlichen Rahmenbedingungen, langen Genehmigungsverfahren, komplexen Abstimmungsprozessen.

Seit 2011 gibt es in Deutschland eine nationale Cybersicherheitsstrategie. Nach Covid-19, Ukrainekrieg und Durchbrüchen in der KI war eine Neuauflage überfällig, scheiterte aber in der Ressortabstimmung der Bundesregierung. Das Bundesinnenministerium veröffentlichte deshalb 2022 eine Agenda nur für das eigene Haus, deren Umsetzung aber größtenteils ebenfalls scheiterte. Insbesondere das zentrale Vorhaben, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zur Zentralstelle auch für die Länder auszubauen, scheiterte an deren Widerstand. Sicherheit ist Ländersache, und viele Länder bestehen darauf, ihre Kompetenzbereiche nicht nur rechtlich, sondern auch organisatorisch und technisch selbst zu regeln.

Föderalismus, fehlender Pragmatismus und mangelndes Fachwissen hatten auch einen großen Anteil am Scheitern des praktisch relevantesten Vorhabens der Verwaltungsdigitalisierung, des Onlinezugangsgesetzes (OZG) von 2017. Insgesamt 575 Verwaltungsdienstleistungen sollten bundesweit digital angeboten werden, bis 2024 waren es aber je nach Bundesland nur 29 bis 45%. Jedes Land hat seine eigene IT, eigenen Prozesse und Vorschriften. Die angestrebte Vereinheitlichung fand nicht statt. Dass es auch im Föderalismus anders geht, zeigen die USA, wo über USA.gov viele Dienstleistungen zentralisiert für alle Staaten angeboten werden. Zum mangelnden Pragmatismus kommt bei uns die deutsche Eigenart, staatlichen Strukturen und damit auch jeder Form der zentralisierten Datenhaltung zu misstrauen. Auch dieses Misstrauen könnte man durch moderne IT-Verfahren adressieren; Datenintegration bedeutet ja nicht, dass jeder auf alles zugreifen kann und die Bürger die Kontrolle über ihre Daten aufgeben müssen. So weit kam das OZG aber gar nicht.

Ein weiteres Problem ist der Hang zur Verantwortungsdiffusion: Statt Vorhaben einer starken und kompetenten Person oder Organisation zu übergeben, bildet man ein Konsortium, das alle einschließt. Auf die Art kann sich niemand beschweren, es bewegt sich aber auch kaum etwas, denn niemand hat wirklich die Verantwortung. Ein Beispiel ist Gaia X, das auf ein Projekt der Fraunhofer-Gesellschaft von 2015 zurückgeht. Eine Softwarelösung für Clouds sollte Anbietern und Nutzern von Daten unabhängig von diesen Clouds ein hohes Maß an Sicherheit und Datensouveränität bieten. Ein Unternehmen oder kleines Konsortium hätte daraus vielleicht ein erfolgreiches Produkt entwickeln können. Stattdessen gründete man 2019 ein Konsortium mit mittlerweile über 300 Mitgliedern. Statt eines Produkts entwickelt Gaia X nun mit viel Abstimmungsaufwand eher komplexe Standards, das Geschäft machen unverändert im Wesentlichen die etablierten US-Anbieter.

Ein weiterer Grund, weshalb Digitalisierungsvorhaben oft scheitern, ist die Überbetonung von Risiken gegenüber Chancen. Ein gutes Beispiel ist die elektronische Patientenakte (ePA). Andere Länder haben diese seit Jahren, bei uns soll die Pilotphase dieses Jahr enden, nach mehr als zehn Jahren Vorbereitung. Alle gesetzlich Versicherten sollen eine ePA bekommen, es sei denn sie widersprechen. Die ePA ermöglicht schnellere Notfallversorgung, mehr Transparenz für Patienten, bessere und fehlerfreiere Abstimmung zwischen Ärzten, geringere Kosten. Natürlich gibt es auch Risiken. Gesundheitsdaten sind besonders schützenswert, Sicherheit und Datenschutz sind daher besonders wichtig. Während allerdings Nachrichten zu Sicherheitsproblemen in der Öffentlichkeit stets viel Beachtung finden, geht der Nutzen der ePA fast unter. Nicht wenige halten die ePA deshalb für ein Bürokratiemonster und Datenschutzrisiko. Natürlich darf man sich wundern, wieso die ePA in Deutschland immer noch so viele Sicherheitsprobleme hat, aber man sollte das eigentliche Ziel nicht aus den Augen verlieren.

Der Fokus auf Risiken wirkt in vielen Bereichen, auch in Wirtschaft und Wissenschaft, lähmend auf die Digitalisierung. Überall sieht man zuerst die Risiken: Datenschutz in der Cloud, Strahlenbelastung bei 5G, Arbeitsplatzverlust bei KI. Zur Risikovermeidung wird oft alles von Anfang an umfassend und bis in die letzten Verästelungen reguliert, mit dem Seiteneffekt, dass alles so kompliziert wird, dass man es kaum noch ändern oder Ausnahmen zulassen kann. Zur Konfliktvermeidung gibt es umfangreiche Beteiligungs- und Genehmigungsverfahren. Zur weiteren Risikovermeidung werden Bestimmungen dann insbesondere von öffentlichen Einrichtungen extrem eng ausgelegt. Das eigentliche Ziel – Breitbandausbau, Innovation, Spitzenforschung usw. – gerät in den Hintergrund.
Ein gutes Beispiel ist der Datenschutz in der Wissenschaft: Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt ändern sich Fragestellungen. Vorhandene persönliche Daten dürfen außerhalb des ursprünglichen Zwecks aber nicht ohne weiteres genutzt werden, und die erweiterte Einwilligung der Betroffenen im Nachhinein einzuholen ist oft unmöglich.

Digitalisierung als nationale Priorität

Die Digitalisierung ist entscheidend für wirtschaftliches Wachstum und internationale Wettbewerbsfähigkeit. Wenn wir weiterhin zu den führenden Ländern gehören und in Wohlstand leben wollen, muss die neue Bundesregierung Digitalisierung als nationale Priorität verstehen. Wir müssen alles tun, um in den nächsten fünf Jahren zu den Digitalisierungsführern aufzuschließen. Dänemark, die Schweiz und Schweden haben vorgemacht, dass das geht.

Infrastrukturen fördern und bereitstellen

Digitalisierung braucht Infrastrukturen, von Breitband bis digitale Identitäten, und vieles davon wird nur mit staatlicher Förderung oder unter staatlicher Verantwortung entstehen. Entscheidend dürfte dabei die sehr rasche Einführung einer in allen Bereichen einfach nutzbaren digitalen Identität sein.

Wissensbasiertes Vorgehen

Digitalisierungswissen muss früher – wie in Dänemark ab der Grundschule – und auf allen Ebenen der Aus- und Weiterbildung vermittelt werden. Qualifizierte Fachkräfte müssen durch interessante Stellen und attraktive Arbeitsbedingungen im Land gehalten werden. In den USA und die Schweiz sind Gehälter in der IT teils doppelt so hoch, das Gründen von Start-ups ist deutlich einfacher. Der Mangel an Fachwissen macht sich überall bemerkbar. Auch staatliches Handeln ist oft geprägt von vorgefassten Meinungen und überkommenen Strukturen. Wir brauchen in Politik und Verwaltung Fachgremien mit unabhängigen, ausgewiesenen Experten. Erleichtert wird dies durch Anreize für den zeitweiligen Wechsel von Experten zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung. Anderswo sind solche Wechsel üblich, bei uns gelten sie vielen als karriereschädlich.

Überregulierung vermeiden

Wir müssen wegkommen von der Vorstellung, wir könnten neue technische Entwicklungen wie KI in allen Feinheiten regulieren, noch bevor wir sie richtig verstanden haben. Leitplanken sind wichtig, aber sie müssen sich auf das Minimum beschränken und regelmäßig aktualisiert werden.

Pragmatisches Vorgehen

Strukturen und Vorschriften müssen dem folgen, was wir erreichen wollen, nicht umgekehrt. Unsere Verwaltungsstrukturen und Genehmigungsprozesse sind für die Geschwindigkeit, mit der sich Digitalisierung im Rest der Welt abspielt, ungeeignet. Datenschutz ist wichtig, aber wir sollten offen für Ausnahmen sein, wenn die Vorteile groß und die Nachteile klein oder auf andere Weise vermeidbar sind. Die Länder sind für Verwaltung, Schulen, Hochschulen und Sicherheit zuständig. Trotzdem könnten sie offen sein für eine schnelle, wirtschafts- und bürgerfreundliche Digitalisierung mittels bundesweit einheitlicher, zentral bereitgestellter Angebote. Selbst die nicht weniger föderal organisierten USA gehen diesen Weg.

Konkrete Pläne, Verantwortung gepaart mit Kompetenz

Strategien sind wichtig, aber ebenso wichtig sind konkrete und ambitionierte Umsetzungspläne. Ohne klare Verantwortlichkeiten sind Strategien zum Scheitern verurteilt. Auf oberster Ebene braucht es deshalb ein starkes Digitalministerium mit umfassenden Kompetenzen und ohne den Zwang zur Ressortabstimmung. Für alle Vorhaben braucht es fachlich kompetente, starke Menschen, die persönlich die Verantwortung für die Umsetzung übernehmen und auch über die dafür notwendigen Kompetenzen verfügen. In Deutschland schreckt man oft davor zurück, einzelnen Personen oder Unternehmen einen individuellen Vorteil aus ihrem Engagement zuzugestehen – wir sollten hier mehr Mut zeigen und individuelle Verantwortungsübernahme auch entsprechend belohnen.

Autor

Haya Schulmann Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt am Main Professorin und Mitglied im Direktorium des Nationalen Forschungszentrums für angewandte Cybersicherheit ATHENE

Prof. Dr. Haya Schulmann

Goethe-Universität, Frankfurt am Main
Professorin und Mitglied im Direktorium des Nationalen Forschungszentrums für angewandte Cybersicherheit ATHENE


schulmann@em.uni-frankfurt.de
www.athene-center.de


 

Autor

Prof. Dr. Michael Waidner Technische Universität, Darmstadt Professor für Sicherheit in der Informationstechnologie, ­ Leiter SIT und CEO ATHENE

Prof. Dr. Michael Waidner

Technische Universität, Darmstadt
Professor für Sicherheit in der Informationstechnologie, ­ Leiter SIT und CEO ATHENE


michael.waidner@sit.fraunhofer.de
www.athene-center.de