Die Anforderungen an Unternehmen und ihre Compliancefunktionen verändern sich fundamental. Während auf politischer Seite ein Trend zu Deregulierung zu beobachten ist – etwa durch die EU-Omnibus-Verordnung (siehe hier) oder die geforderte Abschaffung des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG, siehe hier) –, steigen gleichzeitig die Erwartungen von Investoren, Kunden, Mitarbeitenden und der Zivilgesellschaft. Sie fordern von Unternehmen ethisches Handeln, Transparenz und glaubwürdige Verantwortung für Umwelt, Menschenrechte und Datenschutz, die weit über gesetzliche Mindeststandards hinausgehen.
Compliance im Wandel zwischen Komplexität und Erwartungsdruck
Daneben müssen Unternehmen in einer zunehmend volatilen Weltlage navigieren. Geopolitische Unsicherheiten, neue Sanktionsregime und fragmentierte regulatorische Vorgaben erschweren unternehmerisches Handeln. Nationale und europäische Gesetzgebungen ändern sich in immer kürzeren Zyklen und laufen teils auseinander, statt harmonisiert zu werden. Die Folge: Unternehmen bewegen sich in einem Spannungsfeld aus politischer Deregulierung, wachsender internationaler Komplexität und steigenden gesellschaftlichen Erwartungen.
Die Compliancefunktion steht damit nicht mehr nur für Gesetzeskonformität im engeren Sinne. Sie muss als strategische Einheit agieren, die Risiken antizipiert, Orientierung in unsicheren Zeiten bietet und eine wertebasierte Unternehmenskultur fördert. Damit rückt Compliance immer näher an das operative und strategische Zentrum des Unternehmens. Sie wird zur Schaltstelle für verantwortungsvolle Unternehmensführung und zu einem entscheidenden Faktor für Resilienz, Vertrauen und Zukunftsfähigkeit. Vor diesem Hintergrund stellt sich für viele Unternehmen die Frage: Wie lässt sich Compliance so weiterentwickeln, dass sie dieser Rolle gerecht wird?
ESG und Datenschutz: „One Governance“ statt Silos
Die Antwort beginnt mit einem Blick auf neue Handlungsfelder: Mit den steigenden Herausforderungen für Compliance haben sich in den letzten Jahren insbesondere Nachhaltigkeit und Datenschutz zu eigenständigen und zugleich eng verflochtenen Aufgabenfeldern entwickelt. Gesetzliche Vorgaben wie die EU-Taxonomie, die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) oder die Datenschutz-Grundverordnung und der EU AI Act stellen neue Anforderungen an Berichtspflichten und erfordern mehr Transparenz und Sorgfalt bei Governance und Datenverarbeitung.
Die Entwicklung eröffnet auch Chancen. Wo ESG-Kriterien (Environmental, Social und Governance) und Data-Privacy enger mit klassischen Compliancefunktionen zusammenwachsen, steigt das Potential für effizientere und konsistentere Unternehmensführung. Laut der Deloitte-Studie „The Future of Compliance 2024“ nimmt die Zahl der eigenständigen ESG-Einheiten in Organisationen zwar zu, gleichzeitig hat die Compliancefunktion in mehr als der Hälfte der Unternehmen mindestens eine Mitverantwortung für ESG-Regulatorik. Damit ist ESG klar als Querschnittsthema zu verorten. Und auch die PwC-Studie „Compliance Transformation 2030+“ zeigt, dass Compliancefunktionen zunehmend Verantwortung für ESG und Datenschutz übernehmen, mit neuen Rollenprofilen und wachsender strategischer Relevanz.
Ob KI-Einsatz in der Lieferkette, der Umgang mit personenbezogenen Daten, Cybersecurityrisiken oder die transparente Kommunikation von Nachhaltigkeitszielen: Viele Fragestellungen, die bisher in verschiedenen Abteilungen bearbeitet wurden, lassen sich heute nicht mehr getrennt voneinander lösen. Deshalb profitieren Unternehmen, die ESG und Datenschutz aktiv in ihre Compliancestrukturen integrieren, von mehr Klarheit und Handlungsfähigkeit. Voraussetzung dafür ist, dass sie überkommenes Silodenken ablegen und einen integrierten Governanceansatz entwickeln.
Smart, schnell, strategisch: Technologie setzt neue Maßstäbe
Neue Herausforderungen erfordern neue Lösungen. In Zeiten wachsender Komplexität, die eine Neuordnung einer modernen Compliancefunktion mit sich bringt, hilft der gezielte Einsatz von digitalen Technologien dabei, Prozesse zu vereinfachen und Entscheidungsgrundlagen zu verbessern. Von automatisierten Risikoanalysen, KI-gestütztem Monitoring bis hin zu digitalen Hinweisgebersystemen schaffen digitale Tools mehr Effizienz, Transparenz und Reaktionsgeschwindigkeit. Zwar bringt ihr Einsatz auch Fragen mit sich, die nicht ausgeklammert werden dürfen, etwa nach Haftung oder nach der Nachvollziehbarkeit algorithmischer Entscheidungen. Gerade deshalb ist es jedoch wichtig, sich frühzeitig mit dem Einsatz von digitalen Compliancelösungen zu befassen.
Denn klar ist: Technologie ist kein Selbstzweck. Ihr volles Potential entfaltet sie nur, wenn sie bewusst und verantwortungsvoll in bestehende Governance- und Compliancestrukturen integriert wird. Dafür sollte sie nicht isoliert als IT-Lösung betrachtet werden, sondern als strategisches Instrument zur Stärkung von Transparenz und Steuerungsfähigkeit.
Unternehmen, die digitale Tools gezielt einsetzen und eng mit ihrer Compliancestrategie verzahnen, schaffen die Voraussetzung für wirksames Training und Sensibilisierung der Mitarbeitenden, für die effiziente Bearbeitung und Nachverfolgung von Hinweisen sowie für das frühzeitige Aufdecken und Beheben von Missständen. Damit schaffen sie eine Infrastruktur, mit der sie Geschäftsrisiken schneller identifizieren und darauf reagieren können. Und sie sind insgesamt besser auf neue Entwicklungen vorbereitet – etwa bei der Nutzung von KI oder beim Umgang mit dynamischen regulatorischen Anforderungen – und stärken so aktiv ihre Resilienz und Innovationskraft.
Ethische Führung und Compliancekultur als starkes Fundament
Digitale Lösungen schaffen die Grundlage für effiziente und vorausschauende Compliancearbeit. Doch ohne klare Werte und gelebte Vorbilder bleibt auch das beste System wirkungslos. Technologie kann ihre Wirkung erst dann vollständig entfalten, wenn sie auf eine lebendige Kultur der Integrität im Unternehmen trifft. Compliance beginnt im Alltag mit klaren Werten, konsequenter Führung und glaubwürdiger Vorbildfunktion. Wenn die Unternehmensleitung ethisches Verhalten nicht nur einfordert, sondern auch deutlich selbst verkörpert, prägt sie damit das Verhalten in der gesamten Organisation. Der „Tone from the Top“ ist ein entscheidender Faktor.
Eine solche Kultur entsteht nicht allein durch Richtlinien und deren Umsetzung. Sie braucht Haltung, ein klares Bekenntnis zu Rechtskonformität, aber auch zu gesellschaftlicher Verantwortung und Nachhaltigkeit, sowie Räume, in denen diese Werte vermittelt und reflektiert werden können. Schulungen, ethikorientierte Leadershipprogramme oder interne Dialogformate sind dafür ebenso relevant wie konkrete Anreizsysteme, die integritätsorientiertes Handeln stärken.
Zugleich ist es wichtig, Compliance und ethische Führung strukturell zu verankern, etwa durch klare Zuständigkeiten im Vorstand, die beschriebene Verbindung mit ESG- und Datenschutzverantwortlichkeit oder regelmäßige Berichterstattung an den Aufsichtsrat. So wird aus abstrakter Verantwortung echte Steuerung und aus Compliance ein sichtbarer Ausdruck unternehmerischer Haltung. Je klarer diese kommuniziert und vorgelebt wird, desto stärker wirkt sie nach innen und außen. Das stärkt die Reputation und Glaubwürdigkeit des Unternehmens. Und nicht zuletzt steigt auch die Widerstandskraft gegenüber Risiken, von Reputationsschäden bis hin zu regulatorischen Strafen und Sanktionen.
Der strategische Anspruch an Compliance: Haltung als Zukunftskompass
Schon lange besteht Compliance nicht mehr darin, Gesetzestexte abzuhaken und Risiken zu verwalten. Wer darüber nicht hinausdenkt, unterschätzt ihr strategisches Potential. In einer Welt, die sich schneller verändert, als die Gesetzgeber reagieren können, sind Unternehmen gut beraten, nicht nur in regulatorischen Kategorien vorauszudenken, sondern in Prinzipien. Sie müssen Verantwortung nicht nur übernehmen, wo es gesetzlich gefordert wird, sondern dort, wo sie sinnvoll ist. Compliance, die Ethik, ESG und Datenschutz integriert denkt, wird dafür zur Navigationshilfe. Das gilt besonders in unsicheren Märkten, wo sie so einen Vertrauensanker für Stakeholder und interne Orientierung für Führung und Mitarbeitende darstellt.
Das bedeutet auch: Der Maßstab verschiebt sich. Wer integrativ, wertebasiert und technologiegestützt handelt, kann als Gestalter agieren – nicht bloß als Getriebener. Und wer frühzeitig Strukturen schafft, die Agilität mit Integrität verbinden, wird sich in der nächsten Welle regulatorischer oder gesellschaftlicher Umbrüche nicht nur behaupten, sondern daran wachsen. Der Anspruch an Compliance war nie höher, aber auch nie klarer: Es geht nicht nur um Gesetzeskonformität, sondern um Haltung, die Orientierung schafft.


