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Schein und Sein: Compliance als Feigenblatt?

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Mit der Entscheidung vom 12.06.2025 (Az. B10-23/23) gegen die Sennheiser electronic SE & Co. KG („Sennheiser“) und die Sonova Consumer Hearing Sales Germany GmbH („Sonova“) hat das Bundeskartellamt erneut deutlich gemacht: Abstimmungen über Wiederverkaufspreise, das heißt die sogenannte Preisbindung der zweiten Hand (oder Resale Price Maintenance im Englischen), werden – als Hardcore-Beschränkung – nicht toleriert, und das Kartellrecht wird auch im Vertikalbereich streng durchgesetzt. Sennheiser hatte laut Bundeskartellamt im Rahmen des Monitorings seiner Vertragshändler, die als selektives Vertriebssystem organisiert waren, die Einhaltung von Wiederverkaufspreisen bei „Premium-Kopfhörern“ überwacht und Preisbindungsmaßnahmen getroffen. Besonders brisant: Die Mitarbeitenden von Sennheiser und später Sonova nutzten in der internen Kommunikation Aussagen aus Compliancetrainings, um das Preismonitoring zu verschleiern.

Der Fall ist exemplarisch für viele Herausforderungen, mit denen Unternehmen beim Vertrieb über Händler konfrontiert sind, und rückt eine oft unterschätzte Gefahr ins Rampenlicht: die Lücke zwischen existierenden Compliancestrukturen und deren tatsächlicher Wirksamkeit im Arbeitsalltag.

Kernthemen der Entscheidung

Nach Erkenntnissen des Bundeskartellamts hat Sennheiser (und nach der Übernahme Sonova) über viele Jahre das kartellrechtliche Verbot der vertikalen Preisbindung – also der Vorgabe von Mindestpreisen an Händler – verletzt. Preisabweichungen wurden unter Einsatz einer für Sennheiser entwickelten Crawlersoftware engmaschig überwacht und sanktioniert.

Sennheiser verfügte über Compliancestrukturen für das Kartellrecht, einschließlich Richtlinien und Schulungen. Allerdings zeigten die Ermittlungen des Bundeskartellamts, dass diese Complianceinstrumente gezielt zu Verschleierungszwecken verwendet worden sind, indem mit den Worten des Bundeskartellamts intern eine „Codesprache“ verwendet worden ist, die sich auf die Einhaltung der selektiven Vertriebskriterien bezog (laut Complianceschulung erlaubt), aber den eigentlichen Zweck hatte, über die Preisbindungsmaßnahmen zu kommunizieren (kartellrechtlich nicht erlaubt).

Konsequenzen für die Compliancearbeit

Der Fall Sennheiser/Sonova zeigt, wie wichtig ein risikoadäquates, effektives Compliancemanagement auch im Bereich des vertikalen Kartellrechts ist. Gerade aus Inhousesicht ist der Fall ein Warnsignal: Compliance darf kein Feigenblatt sein. Sie muss gelebt werden – von der Geschäftsleitung bis in die operativen Bereiche.

Unternehmen können den Fall nutzen, um einige allgemeingültige Aussagen zur Schärfung der eigenen Compliancesysteme zu formulieren. Denn über diesen konkreten Fall hinaus ist eine wichtige Erkenntnis, dass ein Compliancesystem leicht ausgehöhlt oder sogar ins Gegenteil verkehrt werden kann, wenn z.B.

  • Compliance nicht in die Unternehmenskultur übertragen wird und Mitarbeitende Vorgaben verharmlosen oder umgehen;
  • Regelverstöße ignoriert oder verschleiert werden, statt kritische Risiken aktiv zu steuern;
  • die Geschäftsleitung widersprüchliche Botschaften sendet und falsche Anreize setzt.

Die Einhaltung des vertikalen Kartellrechts und insbesondere des Verbots der Preisbindung der zweiten Hand stellt Unternehmen vor erhebliche Herausforderungen, auch im Vergleich zu klassischen horizontalen Themen, die inzwischen eine breitere und bessere Aufmerksamkeit und Sensibilisierung genießen. Der Fall Sennheiser zeigt zudem, dass das Risiko der Aufdeckung dadurch erhöht wird, dass jeder „Preisbrecher“ auf der Händlerebene – anders als der aussagewillige Teilnehmer eines horizontalen Kartells ohne eigenes Risiko – zum „Kronzeugen“ der Behörden werden kann und mitunter hochmotiviert ist.

Unbekanntes Verbot der Preisbindung der zweiten Hand

Es beginnt damit, dass in der breiten Bevölkerung (und damit auch bei einem Großteil der Mitarbeitenden eines Unternehmens) nicht bekannt sein dürfte, dass der markeninterne Intrabrandwettbewerb durch ein entsprechendes Verbot einer solchen Preisbindung geschützt werden soll – vielmehr erscheint es auf den ersten Blick ganz üblich, dass die unverbindlichen Preisempfehlungen („UVPs“) der Hersteller durchaus verbindlich sind.

Diese Unkenntnis macht es sowohl den Mitarbeitenden als auch den Complianceabteilungen erfahrungsgemäß besonders schwer, kritische Sachverhalte und Risiken überhaupt zu erkennen. Der regelmäßige, oftmals sogar notwendige Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Marktstufen – insbesondere zwischen Herstellern und Händlern – ist integraler Bestandteil des operativen Tagesgeschäfts. Gerade diese Alltäglichkeit birgt jedoch die Gefahr, dass kartellrechtlich sensible Themen unbeabsichtigt berührt werden, ohne dass den Beteiligten das damit verbundene Risiko stets bewusst ist.

Komplexität der Risikoeinschätzung im vertikalen Bereich

Diese Ausgangslage macht es zudem schwieriger, die bestehenden Risiken (und gegebenenfalls drohende oder bereits eingetretene Rechtsverstöße) frühzeitig zu identifizieren. Im Unterschied zum horizontalen Kartellrecht, bei dem sich bestimmte Risikobereiche – etwa die Teilnahme an Branchentreffen oder der Austausch sensibler Marktinformationen zwischen Wettbewerbern – relativ klar abgrenzen lassen, gestaltet sich die Risikoeinschätzung im vertikalen Bereich deutlich komplexer. Hier existiert kein begrenzter Tätigkeitsbereich, in dem kartellrechtliche Verstöße typischerweise konzentriert auftreten.

Um die Risiken im vertikalen Kartellrecht im Unternehmen gezielt zu erkennen, hat sich ein breit angelegter Analyseansatz bewährt:

  • Besonders wirkungsvoll, wenn auch aufwendig, sind strukturierte Interviews mit Mitarbeitenden verschiedener Hierarchieebenen. Sie ermöglichen ein besseres Verständnis für reale Kommunikationsformen und Entscheidungsprozesse und auch für Drucksituationen im Verhältnis zwischen Hersteller und Händler.
  • Darüber hinaus bieten stichprobenartige oder auch umfassende Auswertungen von E-Mail-Verläufen wichtige Hinweise auf potentiell kritische Verhaltensmuster oder problematische Absprachen zwischen den Marktstufen.

Rolle der Geschäftsleitung und der Complianceabteilung

Erfahrungsgemäß ist einerseits eine klare Positionierung der Geschäftsleitung gefragt. Nur wenn absolut klar ist, dass ein Verstoß gegen das Kartellrecht nicht toleriert wird, kann ein Complianceprogramm die erforderliche Wirkung entfalten. Ein solches Bekenntnis sollte dadurch untermauert werden, dass die vorstehend genannte Risikoanalyse durchgeführt wird (und nicht nur auf ein rechtskonformes Verhalten der Belegschaft vertraut wird beziehungsweise Risiken unterschätzt oder gar ignoriert werden) und es für festgestellte Verstöße Konsequenzen gibt. Der im Fall Sennheiser vom Bundeskartellamt ausdrücklich erwähnte vorsätzliche Missbrauch der Compliancevorgaben durch Mitarbeitende kann dadurch im besten Fall frühzeitig aufgedeckt und beendet, wenn vielleicht nicht in jedem Fall von vornherein verhindert werden.

Andererseits ist hier viel Überzeugungsarbeit der Complianceabteilung gefragt, zumal dann, wenn es ein offenes Geheimnis in der jeweiligen Branche ist, dass „Preispflegemaßnahmen“ von anderen Marktteilnehmern ergriffen werden. Gleichzeitig kann sich die Complianceabteilung als Berater des Business präsentieren, die zwar Grenzen aufzeigt, aber gleichzeitig auch – im Sinne eines Enableransatzes – pragmatische Lösungen entwickelt, die beispielsweise der Aufrechterhaltung der guten Beziehungen zu den Händlern dienen – unter Einhaltung kartellrechtlicher Vorgaben.

Complianceberatung und rechtliche Begleitung typischer Szenarien

Schließlich sollte die Complianceberatung die vielfältigen Herausforderungen berücksichtigen, vor denen die Vertriebs-, Marketing- und Einkaufsabteilungen der Marktteilnehmer stehen, und auf das jeweilige Thema zugeschnittene Lösungen entwickeln. Folgende Szenarien treten beim Thema Preisbindung der zweiten Hand in der Praxis regelmäßig auf und sollten rechtlich eng begleitet werden:

  • Vermeidung des Anscheins einer Preisbindung: In der täglichen Kommunikation ist streng darauf zu achten, nicht einmal den Anschein einer Vereinbarung oder Abstimmung über einen bestimmten Wiederverkaufspreis zu erwecken. Auch scheinbar harmlose oder missverständliche Aussagen können später von Behörden oder Gerichten als Beleg für unzulässige Absprachen gewertet werden, insbesondere wenn der Kontext nicht mehr nachvollzogen und belegt werden kann.
  • Unverbindliche Preisempfehlungen und Aktionspreise: Zulässig sind unverbindliche Preisempfehlungen, sofern sie tatsächlich unverbindlich bleiben. Die Empfehlung darf nicht mit Anreizen oder Sanktionen verknüpft sein. Auch gemeinsame Werbeaktionen mit Aktionspreisen sind möglich, wenn die Teilnahme freiwillig ist und die Preise als Höchstpreise ausgestaltet sind. Dabei ist sicherzustellen, dass Händler die Möglichkeit haben, niedrigere Preise anzubieten.
  • Kommunikation über Marktpositionierung: Hersteller und Händler dürfen sich über die angestrebte Marktpositionierung eines Produkts austauschen. Dies umfasst etwa die Zielgruppe, das Preisniveau und die Produktkategorie. Dabei ist jedoch strikt darauf zu achten, dass keine verbindlichen Absprachen über den Weiterverkaufspreis getroffen werden. Auch die interne Kommunikation – zum Beispiel interne Berichte über Verhandlungsergebnisse mit der Marktgegenseite – muss klarstellen, dass keine Preisbindung vereinbart worden ist, um Missverständnisse bei späteren Prüfungen zu vermeiden.
  • Margendiskussionen und Kompensationen: Händler fordern nicht selten Margengarantien, um ihre Kalkulation abzusichern. Aus kartellrechtlicher Sicht ist jedoch von solchen Garantien grundsätzlich abzuraten, da sie faktisch zu einer Preisbindung führen können. Hersteller sollten sich auf beeinflussbare Faktoren wie Produktqualität, Service oder Logistik konzentrieren. Auch bei Preiserhöhungen ist Vorsicht geboten: Vereinbarungen über margenneutrale Anpassungen können als Preisabsprachen gewertet werden.
  • Differenzierte Händlerkonditionen und Preismonitoring: Unterschiedliche Einkaufskonditionen für Händler sind grundsätzlich zulässig, dürfen jedoch nicht mit deren Preissetzung verknüpft werden. Vertriebsmitarbeitende müssen dafür sensibilisiert werden, dass günstigere Konditionen nicht als Belohnung für bestimmte Preisstrategien gewährt oder entzogen werden dürfen. Auch beim Preismonitoring ist Vorsicht geboten: Erkenntnisse über Marktpreise dürfen nicht zur Disziplinierung von Händlern genutzt werden.

Ausblick: Compliance als zentraler Wert

Die Sennheiser-Entscheidung hat branchenübergreifend für Aufmerksamkeit gesorgt, weil sie über die konkreten Einzelfragen allgemeingültige potentielle Schwachstellen vieler Compliancesysteme offenlegt. Zukünftig wird es für Unternehmen und insbesondere für Complianceabteilungen entscheidend sein, die Erkenntnisse dieses Falls als Impuls für eine ehrliche Selbstüberprüfung und Weiterentwicklung der eigenen Strukturen zu nutzen.

Der Fall Sennheiser ist ein Weckruf für alle Unternehmen, die glauben, Compliance allein durch Policies und Schulungen sichern zu können. Die wichtigsten Lehren lauten:

  • Formale Strukturen sind nur dann wirksam, wenn sie im Alltag verankert und mit einer echten, von der Führung getragenen Compliancekultur hinterlegt sind.
  • Mitarbeitende müssen nicht nur wissen, was verboten ist, sondern auch, warum bestimmte Handlungsmuster besonders kritisch sind – vor allem im dynamischen und komplexen Zusammenspiel von Herstellern und Händlern.
  • Ein Compliancesystem, das missbraucht oder zur Verschleierung genutzt werden kann, ist faktisch wirkungslos und verschärft im Zweifel die organisationale Verantwortung und das Sanktionsrisiko.
  • Unternehmen müssen proaktiv ihre internen Kommunikations- und Entscheidungswege reflektieren, sie regelmäßig auf Glaubwürdigkeit und Transparenz prüfen und neue Technologien gezielt zur Risikofrüherkennung einsetzen.

Nicht zuletzt dürfen Compliance und wirtschaftlicher Erfolg kein Widerspruch sein. Gelebte Compliance steigert die Resilienz des Unternehmens und schafft langfristiges Vertrauen bei Geschäftspartnern, Behörden und der Öffentlichkeit.

Autor

Kaan Gürer, LL.M. Linklaters LLP, Düsseldorf Rechtsanwalt, Counsel

Kaan Gürer

Linklaters LLP, Düsseldorf
Rechtsanwalt, Counsel


kaan.guerer@linklaters.com
www.linklaters.com


Autor

Dr. Johannes Dittrich Linklaters LLP, München Head of Risk Advisory Europe

Dr. Johannes Dittrich

Linklaters LLP, München
Head of Risk Advisory Europe


johannes.dittrich@linklaters.com
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