ComplianceBusiness ist eine Publikation der Produktfamilie Deutscher AnwaltSpiegel

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Die stille Disruption

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Generative künstliche Intelligenz hat längst Einzug in den Unternehmensalltag gehalten. Ob durch ChatGPT, Microsoft Copilot oder automatisierte Workflows – viele Mitarbeitende nutzen KI-Tools bereits produktiv, oft ohne zentrale Vorgaben oder abgestimmte Verfahren. Was als Effizienzgewinn beginnt, entwickelt sich zur strukturellen Herausforderung, wenn Kontrollinstanzen keine Kenntnis vom Einsatz haben.

Dieser ungeregelte Umgang lässt sich als „Schatten-KI“ bezeichnen: Die Technologie wird genutzt, ohne dass sie in Governance-, Risiko- oder Compliancestrukturen des Unternehmens eingebettet ist. Laut aktuellen Studien geben fast 50% der befragten Kundendienstmitarbeiter an, nicht offiziell freigegebene KI-Tools zu verwenden. Dabei handelt es sich explizit um Tools, die nicht genehmigt sind. Vor allem im Mittelstand entstehen dadurch blinde Flecken. Die Compliancefunktion bleibt oft außen vor, obwohl Geschäftsgeheimnisse sowie datenschutzrechtliche, urheberrechtliche und haftungsrelevante Aspekte berührt werden.

Die eigentliche Gefahr liegt nicht in der Technologie selbst, sondern in der Unsichtbarkeit und Unkontrollierbarkeit ihrer Nutzung, ganz einfach über jeden Browser. Schatten-KI ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck einer fehlenden strategischen Rahmensetzung. Wer sie ignoriert, riskiert Regelverstöße, Reputationsverluste und operative Unsicherheit – und das oft, ohne es zu bemerken.

Überforderung mit Ansage: Warum Compliance oft außen vor bleibt

In vielen Unternehmen wird Compliance noch immer als nachgelagerte Prüfinstanz verstanden. Gerade im Kontext neuer Technologien erfolgt ihre Einbindung oft zu spät oder gar nicht. Die Folge ist ein strukturelles Defizit: Es fehlt an Orientierung, an Zuständigkeiten und an einem klaren Rollenverständnis.

Der technologische Wandel schritt in der Vergangenheit meist deutlich schneller voran als interne Kontrollsysteme. In Zeiten des jetzt zu beobachtenden, sich exponentiell beschleunigenden Wachstums ist dieses Hase-und-Igel-Rennen vom „Igel“ in der Complianceabteilung noch weniger zu gewinnen, wenn er nicht die Regeln des Rennens mitgestaltet.

Mitarbeitende nutzen KI-Tools produktiv, um ihre Aufgaben mit weniger Aufwand, schneller oder fehlerfreier zu erledigen. Die KI-Schulungen beschränken sich auf Bedienungshinweise zu Microsoft Copilot, Prompt-Engineering etc. Rechtliche Grundlagen, ethische Herausforderungen und die Grenzen der Nutzung von KI bleiben häufig außen vor.

Zugleich sind viele Complianceabteilungen im Mittelstand knapp besetzt. Es fehlt an Ressourcen, technologischem Verständnis und der institutionellen Verankerung, um mit KI-Initiativen Schritt zu halten. Der notwendige Dialog mit IT, Datenschutz, HR und Fachbereichen kommt nur punktuell zustande.

Dabei nimmt der regulatorische Druck spürbar zu. Der EU AI Act, die AI Liability Directive und mögliche Erweiterungen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) kündigen verbindliche Standards für den KI-Einsatz an. Unternehmen, die Compliance weiterhin als eine juristische Pflichtaufgabe betrachten, werden künftig nicht nur mit rechtlichen, sondern auch mit reputativen Risiken konfrontiert.

Es braucht daher ein Umdenken. Compliance sollte nicht als Störgröße wahrgenommen werden, sondern als gestaltende Funktion mit strategischem Mehrwert – insbesondere bei disruptiven Technologien.

Rollenwandel der Compliance: Vom Kontrollposten zum Möglichmacher

Künstliche Intelligenz verändert nicht nur Technologien, sondern auch die Anforderungen an unternehmensinterne Steuerungsfunktionen. Compliance muss sich in diesem Kontext neu positionieren: nicht als reaktive Kontrollinstanz, sondern als aktive Mitgestalterin sicherer Innovation. Ihre Aufgabe besteht darin, klare Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb deren verantwortungsvolle Nutzung von KI möglich wird.

Dazu gehört, dass Compliance nicht isoliert agiert, sondern als verbindende Kraft zwischen Recht, IT, Datenschutz, HR und den Fachbereichen wirkt. Es geht nicht um die Einschränkung von Handlungsfreiheit, sondern um deren absichernde Strukturierung.

Vier konkrete Ansätze bilden den Rahmen für diese neue Rolle:

  • Frühzeitige Einbindung in KI-Projekte: Nur wer von Beginn an beteiligt ist, kann wirkungsvoll gestalten. Compliance darf nicht nachgelagert, sondern muss integrativer Teil von Entwicklung und Implementierung sein.
  • Risikoorientierte Bewertung technischer Lösungen: Der Einsatz von KI erfordert eine differenzierte Beurteilung möglicher Auswirkungen auf Datenschutz, Haftung, Fairness und Transparenz. Compliance kann hier als Moderatorin zwischen technischen und rechtlichen Perspektiven fungieren.
  • Ethische Leitlinien und Entscheidungsmodelle: Technologische Möglichkeiten verlangen normative Orientierung. Das Etablieren unternehmensspezifischer Prinzipien ist Voraussetzung für Vertrauen und gesellschaftliche Akzeptanz.
  • Governance über Bereichsgrenzen hinweg: KI berührt nahezu alle Unternehmensbereiche. Deshalb braucht es bereichsübergreifende Steuerungsmodelle, die Zuständigkeiten, Prozesse und Eskalationspfade klar regeln.

Dieser neue Zuschnitt macht Compliance zur aktiven Partnerin der Innovation. Sie schafft Verlässlichkeit, wo Geschwindigkeit dominiert, und Orientierung, wo Regeln im Entstehen begriffen sind.

Vier strategische Handlungsfelder für den Mittelstand

Um künstliche Intelligenz verantwortungsvoll und regelkonform zu integrieren, benötigen Unternehmen ein strukturiertes Vorgehen. Gerade im Mittelstand fehlt es oft an etablierten Standards. Vier Handlungsfelder bieten eine belastbare Grundlage für den Aufbau einer zukunftsfähigen KI-Compliance:

1. Policy & Governance

Es gilt, unternehmensweite Richtlinien zum KI-Einsatz zu formulieren. Diese sollten zulässige Anwendungen, Zuständigkeiten und klare Eskalationswege umfassen. Auch externe Dienstleister sind in die Governance einzubeziehen. Da sich die neue Technik in bisher nicht dagewesener Geschwindigkeit entwickelt, hilft es, sich zusätzlich einige wenige, dafür aber belastbare ethische Leitlinien für die KI-Nutzung zu geben, welche auch bei der Schnelligkeit neuer Entwicklungen Orientierung geben können (mehr dazu s.u.).

2. Compliance-Awareness

Führungskräfte und Fachabteilungen benötigen mehr als Bedienungswissen. Schulungen müssen juristische, technische und ethische Aspekte verbinden – praxisnah und auf konkrete Rollen zugeschnitten.

3. Projektintegration

Compliance sollte von Beginn an Bestandteil jeder KI‑Initiative sein. Das Prinzip „Compliance by Design“ gehört fest in jede Entwicklungs- und Einführungsphase. Die Rolle in interdisziplinären Teams ist zu stärken.

4. Risikomanagement & Monitoring

KI-spezifische Risikoindikatoren helfen, Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen. Ergänzend können Monitoringtools die Nachvollziehbarkeit automatisierter Entscheidungen unterstützen.

Diese vier Felder schaffen ein robustes Fundament für Governance im digitalen Wandel und ermöglichen es, Technologieeinsatz mit Verantwortung zu verbinden.

KI für Compliance: Wenn das System selbst mitdenkt

Nicht nur der Einsatz von künstlicher Intelligenz im operativen Geschäft stellt Compliance vor neue Herausforderungen. Auch die Compliancefunktion sollte KI für eigene Aufgaben nutzen. Damit schaffen Complianceverantwortliche Kapazitäten für neue Aufgaben und profitieren selbst davon, vorausgesetzt, das Potential von KI-Lösungen wird systematisch erschlossen.

Moderne Technologien ermöglichen es, Risiken nicht nur zu verwalten, sondern vorausschauend zu erkennen. KI-gestützte Tools für Predictive Risk Analytics, Anomalieerkennung und automatisierte Dokumentation schaffen neue Möglichkeiten der Effizienzsteigerung und Qualitätssicherung. Wo früher manuelle Auswertung erforderlich war, kann nun mit hoher Präzision in Echtzeit agiert werden.

KI in der Compliance ist mehr als ein Effizienzthema. Sie ermöglicht datenbasierte Entscheidungen, unterstützt bei der Priorisierung von Risiken und schafft Transparenz in zunehmend komplexen Systemlandschaften. Der Schlüssel liegt darin, Technologie nicht nur als Werkzeug, sondern als integralen Bestandteil eines modernen Governanceverständnisses zu begreifen.

Ethische Verantwortung: Jenseits der regulatorischen Mindeststandards

Künstliche Intelligenz verändert nicht nur Prozesse, sondern wird auch die Grundlagen betrieblicher Entscheidungen durch die Unternehmensleitung revolutionieren. Wenn Systeme autonom analysieren und bewerten, genügt die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften nicht mehr. Es bedarf zusätzlicher Eckpfeiler, die sich an den jeweiligen unternehmerischen Werten orientieren.

Compliance ist mehr als formale Regelkonformität. Moderne Compliance überführt die ethischen Grundsätze und Werte des Unternehmens in für die Beschäftigten umsetzbare und praktikable Prozesse und Regelwerke. Dies betrifft sowohl interne Standards als auch die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Erwartungen.

Ethische Leitlinien geben Handlungssicherheit in komplexen Situationen. Sie stärken das Vertrauen von Mitarbeitenden, Geschäftspartnern und Öffentlichkeit. Entscheidend ist, dass diese Prinzipien nicht abstrakt bleiben, sondern operativ wirksam werden, etwa durch Führungsvorgaben, Entscheidungsmodelle und geeignete Systeme.

Compliance wird so zur Hüterin unternehmerischer Integrität. Sie macht Werte greifbar, verankert sie im Alltag und verleiht ihnen verbindliche Form. Damit leistet sie einen wesentlichen Beitrag zur strategischen Steuerung im Zeitalter lernender Systeme.

Ausblick: Compliance als Zukunftsfunktion im KI-Zeitalter

Künstliche Intelligenz stellt Unternehmen nicht nur vor technische, sondern auch vor strukturelle Herausforderungen. Wer heute keine klaren Regeln für ihren Einsatz etabliert, gefährdet morgen die eigene Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit.

Compliance kann in diesem Wandel eine richtungsgebende Rolle übernehmen. Sie bietet Orientierung in einer zunehmend komplexen und dynamischen Umgebung. Dafür muss sie als Teil der strategischen Unternehmensführung verstanden und gestärkt werden.

Der Mittelstand verfügt über besondere Voraussetzungen, um diesen Wandel aktiv zu gestalten. Seine Nähe zum operativen Geschehen und seine Fähigkeit zur pragmatischen Umsetzung ermöglichen es, technologische Innovation mit unternehmerischer Verantwortung zu verbinden.

KI ist nicht nur eine Frage der Effizienz, sondern auch eine Frage der Haltung. Compliance macht diese Haltung sichtbar, überprüfbar und verbindlich. In dieser Funktion wird sie zum festen Bestandteil zukunftsfähiger Unternehmensführung. 

Autor

Dr. Thomas Altenbach LegalTegrity GmbH, Frankfurt am Main CEO

Dr. Thomas Altenbach

LegalTegrity GmbH, Frankfurt am Main
CEO


altenbach@legaltegrity.com
www.legaltegrity.com


Autor

Christina Sontheim-Leven LegalTegrity GmbH, Frankfurt am Main Mitglied Advisory Board, zertifizierte KI-Managerin

Christina Sontheim-Leven

LegalTegrity GmbH, Frankfurt am Main
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