Einleitung
Das anwaltliche Berufsrecht steht seit längerer Zeit buchstäblich unter Beschuss. Es wird von vielen Berufsrechtlern in wesentlichen Teilen als verfassungswidrig und/oder nicht mehr zeitgemäß angesehen und musste darüber hinaus erleben, dass es nicht vom Gesetzgeber, sondern vom BVerfG gestaltet wurde. Zuletzt hat Wieland Horn, nach dem eine der jüngsten BVerfG-Entscheidungen benannt ist (vgl. dazu „Die Sache Horn“, hier), daran erinnert, dass in den vergangenen 28 Jahren insgesamt 22 Entscheidungen ergangen sind, die das Berufsrecht durchlöchert haben. Zwei weitere Verfahren sind derzeit anhängig (eine betrifft doppelstöckige Gesellschaften, eine weitere das anwaltliche Mehrheitserfordernis in interprofessionellen Partnerschaften, die Fortsetzung der Patentanwaltsentscheidung für Steuerberater und Wirtschaftsprüfer). Schließlich gibt es eine Verfassungsbeschwerde gegen das Drittberatungsverbot der Syndikusanwälte. Um das Maß voll zu machen: Zu einer grundlegenden und dringend erwarteten Entscheidung des BVerfG zu § 45 Abs. 1 Nr. 1 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) kam es nur deshalb nicht, weil der Beschwerdeführer gegen eine Entscheidung des BGH vom 03.01.2014 [Az. AnwSt (R) 4/14 – „Backes“] verstorben war.
Vom Gesetzgeber war nicht viel zu sehen in dieser Zeit, aber das kann man ihm vielleicht nicht vorwerfen. Denn letztlich war es die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK), die sich gegen viele Neuerungen und Weiterentwicklungen des anwaltlichen Berufsrechts gesperrt hatte und deren Widerstand stets nur durch Entscheidungen von BVerfG und sogar BGH zu überwinden war. Wenn es um die Frage der Verfassungsfestigkeit des Berufsrechts geht, steht die BRAK zuverlässig auf der anderen Seite.
Vier Referentenentwürfe
Nach langen Jahren der gesetzgeberischen Zurückhaltung hat sich unter der aktuellen Führung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) der Wind gedreht – nein: Es ist überhaupt Wind aufgekommen. Insgesamt liegen drei Referentenentwürfe und ein Regierungsentwurf vor, die sich mit dem anwaltlichen Berufsrecht befassen, teilweise zentral, teilweise eher peripher. Es handelt sich um den Referentenentwurf zur großen BRAO-Reform, sodann um einen weiteren Entwurf zur „Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt“, weiter um die Reform der Personengesellschaften und die Reform des notariellen Berufsrechts. Insgesamt mehrere Hundert Seiten Formulierungsvorschläge und Begründungen, nach deren Umsetzung im Berufsrecht nur noch wenige Steine wie vorher aufeinanderstehen werden. Dem vorangegangen waren die „Eckpunkte für eine Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaften“ des BMJV vom 27.08.2019, nach deren Veröffentlichung es noch mal über ein Jahr dauerte, bis der 349-seitige Referentenentwurf zur großen BRAO-Reform vorgelegt wurde.
Den Eckpunkten waren zwei Reformvorschläge vorausgegangen: einer von der BRAK (nun gut: exceptio probat regulam), einer vom Deutschen Anwaltverein (DAV). Der BRAK-Vorschlag beschränkte sich auf eine Reihe von Reparaturarbeiten am Gesellschaftsrecht – immerhin. Anders der vom DAV, der Prof. Dr. Martin Henssler mit der Erarbeitung eines Reformvorschlags beauftragt hatte. Das sollte keinesfalls freischwebend geschehen, vielmehr hatte der DAV „Points of Reference“ vorgegeben, entlang derer Dr. Henssler arbeiten sollte. Das tat er auch und legte im Mai 2018 einen ersten Entwurf vor, der danach innerhalb und außerhalb des DAV ausgiebig diskutiert wurde, auch und gerade mit kritischen Geistern. Dr. Henssler überarbeitete seinen Vorschlag dann, und im März 2019 machte der DAV sich den überarbeiteten Vorschlag zu eigen und gab den Anstoß zu der überfälligen Reform der §§ 59a ff. BRAO.
Worum geht es?
Von den vier Referentenentwürfen bleiben an dieser Stelle zwei unberücksichtigt:
1) Die Reform des Personengesellschaftsrechts wird hier sicherlich noch von Experten vorgestellt und bewertet werden. Für die Anwaltschaft ist sie insofern von Bedeutung, als sie den Weg in die GmbH & Co. KG öffnet. Und bei der Reform des notariellen Berufsrechts ist die BRAO in Randbereichen behandelt, alles eher technischer Natur, mehr zeitgemäße Anpassung als echte Weiterentwicklung.
2) Der Referentenentwurf mit dem unschuldigen Titel „zur Förderung verbrauchergerechter Angebote“ wiederum hat es in sich, denn er behandelt einen Kernbereich des traditionellen anwaltlichen Selbstverständnisses: die Zulässigkeit von Erfolgshonoraren und Prozessfinanzierung durch Anwälte sowie eine gewisse Gleichstellung mit Inkassounternehmern. Das wird alles sehr streitig werden. Ein der BRAK verbundener Hochschullehrer vertrat flugs die These, Erfolgshonorare verhinderten den Zugang zum Recht, ein rheinischer Kammerpräsident behauptete, er habe bei der Lektüre der Vorschläge einen „Blutsturz“ erlitten, und das zeigt ein bisschen, wie emotional diese Auseinandersetzung zu werden droht. Wir lassen sie hier mal links liegen.
Die große BRAO-Reform – wesentliche Inhalte
Diese Reform befasst sich im Wesentlichen mit der Reform des anwaltlichen Gesellschaftsrechts, oder, richtiger, mit der Schaffung eines solchen Rechts. Denn die BRAO in ihrer heutigen Form regelt (mit der Ausnahme der Rechtsanwalts-GmbH) nur Bestimmungen, betreffend den Rechtsanwalt, nicht die anwaltliche Berufsausübungsgesellschaft. Als die BRAO geschaffen wurde, war das vielleicht noch vertretbar, obwohl es schon seit ehedem anwaltliche Berufsausübungsgesellschaften gab und genauso lange ein Fremdeln von traditionellen Anwaltsvertretern mit dieser Form der Berufsausübung.
Der Referentenentwurf regelt nun vier große Komplexe:
Er schafft mit einem Kanzleiregister Transparenz hinsichtlich der in Deutschland praktizierenden Kanzleien, sodann ein gesetzliches Umfeld für Anwaltsgesellschaften (einschließlich der ausländischen Kanzleien in Deutschland) mit Berufspflichten und Verantwortlichkeiten dieser Gesellschaften, reformiert und erweitert die Regelungen zu den anwaltlichen Interessenkonflikten und versucht die Harmonisierung zwischen den Berufsrechten der Anwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Patentanwälte. Mit der Reform der Anwaltsgesellschaften ist auch eine Neuregelung der sogenannten interprofessionellen Partnerschaft verbunden, die nach dem Referentenentwurf dahingehend erweitert werden soll, dass sich Anwälte grundsätzlich mit Angehörigen aller freien Berufe verbinden können.
Einzelheiten zum Gesellschaftsrecht
Viele der Vorschläge, die das anwaltliche Gesellschaftsrecht betreffen, sind Konsequenzen aus BVerfG-Entscheidungen, die bis heute noch nicht umgesetzt sind. Das hat insgesamt zur Folge, dass das traditionelle anwaltliche Berufsbild, soweit es noch existiert, weiter verschwinden wird. Die Anwaltschaft wird offener werden und kann sich mehr auf die Bedürfnisse von Mandanten einstellen, als das bisher der Fall war. Das betrifft zum Beispiel die interprofessionelle Zusammenarbeit. Mandanten wissen längst, dass die „reine“ anwaltliche Beratung ohne integrierte Mitwirkung anderer Professionen nicht mehr ausreicht. Auf das Erfordernis der anwaltlichen Prägung der Gesellschafts- und Geschäftsführungsstruktur wird verzichtet. Damit werden die BVerfG-Entscheidungen aus den Jahren 2014 (vgl. dazu „Dieses war der erste Streich“, hier) und 2016 (Horn, siehe oben) umgesetzt. Die Zulassung doppelstöckiger Anwaltsgesellschaften und der Verzicht auf das anwaltliche Mehrheitserfordernis in interprofessionellen Gesellschaften erledigen zwei Verfassungsbeschwerden (vgl. „Unzeitgemäß“, hier). Insgesamt gilt: Anwälte können für ihre Berufsausübung alle deutschen Gesellschaftsformen wählen, auch die OHG und die KG (was bisher wegen des Erfordernisses eines Handelsgewerbes nicht möglich war). Für ausländische Gesellschaften wird eine verlässliche Grundlage geschaffen – letztlich wird das gesetzlich geregelt, was die ganz allgemeine Meinung in Literatur und Rechtsprechung (mit Ausnahme der BRAK) schon heute so sieht.
Die weiteren Regelungen sind letztlich nur konsistent: Anwaltskanzleien müssen sich grundsätzlich um eine Kammerzulassung bemühen und haben Berufspflichten, nicht nur der einzelne Anwalt, sie müssen sich versichern (das galt bislang nur für Anwalts-GmbH und PartGmbB). Mit der Aufnahme in das elektronische Kanzleiregister wird es die Möglichkeit eines beA-Kanzleipostfachs geben – bisher können Kanzleien zwar als Prozessbevollmächtigte beauftragt werden, aber die Kommunikation muss über die beA-Postfächer der individuellen Anwälte geführt werden. Reine Kapitalbeteiligungen sollen unzulässig bleiben.
Erweiterung der Interessenkonflikte bei „bedeutsamen Informationen“
Der Referentenentwurf will die Regelungen zu Interessenkollisionen erweitern und sieht ein Tätigkeitsverbot in solchen Fällen vor, in denen der Anwalt „in Ausübung seines Berufs von einer anderen Partei eine für die Rechtssache bedeutsame vertrauliche Information erhalten hat.“ Dies findet sich in § 43a Abs. 4 Nr. 2 BRAO-E. Dagegen richtet sich bisher einhelliger Protest der beteiligten Verbände und der Berufsrechtswissenschaft. Schon der Anlass für die Erweiterung ist unklar; und wie Kanzleien so etwas praktisch handhaben sollen, ist völlig unklar. Wie soll man vernünftig wissen können, wer von den Berufsträgern in einer Sozietät eine „bedeutsame vertrauliche Information“ besitzt? Das weiß, wenn überhaupt, nur der Betroffene selber, und der durfte dann dieses Wissen ohnehin nie verwenden oder offenbaren. Jetzt wäre die gesamte Sozietät gesperrt. Das geht aus Sicht der Anwaltschaft deutlich zu weit und weckt verfassungsrechtliche Zweifel. Ob das so umgesetzt wird, erscheint daher sehr fraglich.
Epilog
Mit dem Titel dieses Beitrags ist der 13. Roman von Charles Dickens überschrieben. Der Roman hat zwar mit dem sehr ereignisreichen und verworrenen Lebensweg eines Waisenjungen im viktorianischen England zu tun, aber nichts mit dem anwaltlichen Berufsrecht. Betrachten Sie es als rein assoziative Überschrift und als Leseempfehlung während des Lockdowns oder der Weihnachtstage.
Hinweis der Redaktion: Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Autors wieder. (tw)