Unjuristische Anmerkungen zur „Smartlaw“-Entscheidung des BGH vom 09.09.2021

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Kein Gericht hat in den vergangenen Jahren im Rechtsmarkt so maßgeblich Veränderungen angestoßen wie der BGH. Es begann mit der „Lexfox“-Entscheidung des VIII. Zivilsenats im November 2019, an die sich viele Lexfox-Folgeentscheidungen anschlossen, wurde fortgesetzt mit der „Sammelklage“-Entscheidung vom Juli 2021 des II. Zivilsenats und jetzt mit der „Smartlaw“-Entscheidung des I. Zivilsenats.

Einführung

Den Fortschritt im Berufsrecht hat meistens die Rechtsprechung vorangebracht, allerdings nicht der Senat für Anwaltssachen. Über ihn war vor Jahren in einer Urteils-anmerkung zu lesen: „Im Sinne eines Fazits lässt sich feststellen, dass sich der Anwaltssenat wieder einmal als Hüter eines überkommenen Berufsrechts präsentiert hat, der seine Entscheidungen primär auf der Grundlage einer historischen Betrachtung und mit einer überholten Sichtweise des Gesetzgebers argumentierend rechtfertigt.“ (Henssler, NJW 2017, 1644, 1646). Eine ähnliche Kritik gab es in dieser Zeitung (Hartung, „Unzeitgemäß?“, Deutscher AnwaltSpiegel vom 31.05.2017). Sei es, wie es ist: Der BGH hat in den zurückliegenden zwei Jahren viel Beinfreiheit gerade für Legal-Tech-Unternehmen geschaffen. Der Senat für Anwaltssachen konnte das jedenfalls nicht verhindern: „Lexfox“ war in erster Linie eine Revision in einer Mietsache, wofür nun mal der VIII. Senat zuständig ist. Jetzt in der „Smartlaw“-Sache ging es in erster Linie um eine wettbewerbsrechtliche Angelegenheit, für die der I. Senat zuständig ist.

Zum Sachverhalt

Smartlaw wurde 2012 gegründet, ein sehr frühes Start-up noch vor der großen Legal-Tech-Welle. Im Jahr 2014 wurde Smartlaw von Wolters Kluwer übernommen. Das Angebot besteht aus einem sogenannten Vertragsgenerator, also einer Software, mit der man sich juristische Dokumente, insbesondere Verträge erstellen kann. Der Nutzer muss von der Software vorgegebene Fragen beantworten (Multiple Choice). Manchmal gibt es auch Freitext, etwa wenn es um die Namen der Vertragsparteien, den Vertragsgegenstand oder um den Kaufpreis geht. Auf Grundlage dieser Angaben stellt die Software unter Verwendung von vorgefertigten Textbausteinen einen Vertrag her. Die Verwendbarkeit für den Nutzer hängt davon ab, wie eingehend die von der Software vorgegebenen Fragen sind. Je mehr es sind, desto passgenauer ist das Ergebnis.

Technisch handelt es sich um ein sogenanntes Expertensystem, das einer vordefinierten Wenn-dann-Logik folgt und durch die Vorgabe der Fragen an den Nutzer bestimmt, welche Sachverhalte die Software behandeln oder „lösen“ kann. Solche Systeme existieren schon seit den 60er Jahren. Wenn ein konkreter Sachverhalt eines Nutzers nicht unter die vorgegebenen Kategorien fällt, kann das System auch kein Ergebnis liefern. Die Software trifft auch keine autonomen Entscheidungen, die von der Programmierung oder den Eingaben des Nutzers unabhängig wären, sondern folgt der programmierten Logik, ergänzt um den Input des Nutzers. Expertensysteme gelten als Teilbereich der künstlichen Intelligenz, haben aber nichts mit autonom entscheidenden Systemen zu tun, wie z.B. solche Softwaresysteme, die intelligentes Verhalten zeigen, indem sie ihre Umgebung analysieren und – mit einem gewissen Grad an Autonomie – Maßnahmen ergreifen, um bestimmte Ziele zu erreichen (so eine heute gängige Definition von künstlicher Intelligenz). Dennoch sind die von der Software erstellten Dokumente passgenauer als etwa ein Vertragsformular aus dem Schreibwarenladen oder aus einem Vertragsformularbuch.

Start-ups und Werbung

Ein integraler Bestandteil des Geschäftsmodells vieler Start-ups ist das „Overselling“, also die Eigenschaft, mehr zu versprechen, als man halten kann. Bezogen auf irreführende Werbung, geben sich Start-ups und alteingesessene Unternehmen nichts. Auch bei Smartlaw geschah das, indem der Vertragsgenerator beworben wurde als etwas, das einer anwaltlichen Leistung in nichts nachstehe – „Rechtsdokumente in Anwaltsqualität“ –, allerdings deutlich günstiger und schneller sei als ein Anwalt. Das ging der Hamburger Anwaltskammer zu weit, diese war anders als die örtlich zuständige Kölner Kammer der Meinung, hier handele es sich nicht nur um irreführende Werbung, sondern insgesamt um eine unerlaubte Rechtsdienstleistung. Solche Rempeleien zwischen Kammern sollten eigentlich nicht vorkommen, aber wenn das passiert, wird es gleich giftig: Der Geschäftsführer der übergangenen Kammer hielt den hanseatischen Kollegen in einem Zeitschriftenbeitrag (nicht wörtlich, aber sinngemäß) vor, diese zeige Schwächen in der Rechtsanwendung.

LG Köln, OLG Köln, BGH

Vor dem Landgericht Köln war die Hamburger Kammer erfolgreich, nicht nur wegen der sehr hart am Wind segelnden Werbung: Das Landgericht hatte keine Zweifel am Vorliegen einer verbotenen Rechtsdienstleistung. Vor dem OLG Köln ging es nur noch um die Software, nicht mehr um die Werbung. Das OLG allerdings war anderer Meinung als das Landgericht und wies die Hamburger Klage ab. Mit der am 09.09.2021 verkündeten Entscheidung hat der BGH die Revision zurückgewiesen. Die Entscheidung ist bereits mehrfach besprochen worden, positiv und negativ, das haben die Leser dieser Zeitung bereits alles zur Kenntnis genommen.

„We tend to overestimate“ …

In dieser Anmerkung geht es um etwas anderes, denn: Die Entscheidungen sowie die literarische Begleitmusik lehren uns etwas über die Hilflosigkeit hinsichtlich der Digitalisierung. Bekanntlich gilt für uns alle „Amara’s Law“, wonach wir die aktuellen Fähigkeiten und Auswirkungen von Software überschätzen, künftige Auswirkungen jedoch unterschätzen (Roy Amara, 1925–2007, war ein US-amerikanischer Futurologe). Dem technischen Fortschritt trauen wir alles zu und können uns nicht von Hollywoodprägungen lösen: Wir halten das für möglich, was wir dort sehen. Die Richtigkeit von Amaras These wird täglich belegt, insbesondere dann, wenn Juristen sich mit Technologie befassen. Das liest sich z. B. so: „Der Ansicht, beim Einsatz von Computerprogrammen fehle es (generell) an einer Individualisierung und Konkretisierung des zu beurteilenden Lebenssachverhalts, kann in dieser Allgemeinheit aufgrund des technischen Fortschritts nicht mehr gefolgt werden. Sofern über ein Software-Tool ein konkreter Rechtsfall geschildert und dabei auch personen- und einzelfallbezogene Daten an den Dienstleister übermittelt werden, die aufgrund spezieller Algorithmen ausgewertet werden und in einen konkreten Rechtsrat bzw. eine Handlungsempfehlung für den Rechtsuchenden münden, dürfte eine Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten anzunehmen sein.“

Diese Darstellung ist in vielerlei Hinsicht ungenau und trägt die Schlussfolgerung nicht – aber die kommt ja auch mit „dürfte … anzunehmen sein“ daher, dem Wellnessresort von Juristen. Was sollen „spezielle Algorithmen“ sein? Welcher Software schildert man einen „konkreten Rechtsfall“? Dennoch stützen sich viele Smartlaw-Gegner auf solche Ausführungen. Oft wird dann noch auf die Gesetzesbegründung des RDG verwiesen, wonach es unerheblich sei, mit welchen technischen Hilfsmitteln eine Rechtsdienstleistung erbracht werde. Aber auch das verfängt nicht, denn da meinte der Gesetzgeber Telefonhotlines oder Internetforen, in denen man seinen konkreten und individuellen Fall schildere und dann Antwort erhalte. Nichts davon geschieht bei einem Vertragsgenerator. Wenn man dann unter Verweis auf die Gesetzesbegründung liest, „Eine Rechtsdienstleistung kann auch durch technische Mittel und somit automatisiert erbracht werden“, erfasst einen diese tiefe Müdigkeit, die einen immer befällt, wenn man auf Zirkelschlüsse in juristischen Argumentationen stößt.

Jedenfalls ist der Mangel an Softwareverständnis nicht hilfreich für die Behandlung dieser Fragen. Im Fall „Smartlaw“ haben wir jetzt eine Bestätigung des BGH, dass Henssler und Kilian bereits im Jahr 2002, also vor fast 20 Jahren, recht hatten. Dass die Werbung hier daneben war – Schwamm drüber, die hatte der Anbieter ja gleich zurückgezogen. Aber ansonsten hat eine Software, die aufgrund einer vorgegebenen Logik ein bestimmtes Ergebnis liefert, mit einer Rechtsdienstleistung nichts zu tun, also mit der Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, die eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordert. Dass viele Anwälte der Meinung sind, dass sowohl anwaltliche Tätigkeit als auch ein Vertragsgenerator eine Rechtsdienstleistung sein sollen, offenbart ein trauriges Berufsverständnis. Denn der Vertragsgenerator tut eben nicht das, was einen guten Anwalt auszeichnet: Ein Anwalt erfasst die individuellen Bedürfnisse und Gegebenheiten eines Mandanten, geht einer Sache auf den Grund und entwirft dann ein dazu passendes Ergebnis. Der Vertragsgenerator liefert aufgrund eines allgemeinen Falls ein Ergebnis, welches nur für die vorgegebenen Sachverhaltsvarianten „passt“, aber nicht unbedingt für das, was den Nutzer möglicherweise tatsächlich bewegt. Ob er damit also tatsächlich etwas anfangen kann (verstanden als: sein Ziel erreichen), ist unklar und eher zufällig. Nutzer wissen das auch und erwarten von dieser Software auch gar nichts anderes.

Backmischungen und Maßanzüge

In einem LinkedIn-Beitrag wurde das Verhältnis von Anwälten und Vertragsgeneratoren mit Konditoren und Backmischungen verglichen. Das verfehlt den Punkt nur knapp, denn bei aller Beschränktheit liefert der Vertragsgenerator nicht nur die Backzutaten, also die passenden Textbausteine zum Eigenbau, sondern gleich auch den Vertragskuchen. Passender ist der Vergleich von maßgeschneidertem und Anzug von der Stange: Auch der „wie angegossen“ sitzende Anzug von der Stange ist kein Maßanzug. So ist es mit Vertragsgeneratoren und Anwälten auch: Ein automatisch erstellter Vertrag kann für einen Nutzer völlig ausreichend sein, ist dann aber immer noch keine anwaltliche Leistung. Und ein Anwalt, der einem Mandanten Textbausteine verkauft, erbringt keine anwaltliche Leistung, sondern sollte sich was schämen.

Nun: Kann sein, dass Software sich einmal dahingehend entwickelt, dass man im „natürlichen Gespräch“ mit einer Software seinen Wunsch schildert, die Software Rückfragen stellt, recherchiert, dem Nutzer Alternativen empfiehlt und erläutert, dieser sich dann entscheidet und die Software schließlich etwas erstellt. Ein Anwaltsroboter also. Zukunftsmusik. Wenn es den geben sollte, sprechen wir weiter. Das wäre frühestens in sieben Jahren der Fall, in einzelnen Rechtsgebieten vielleicht früher.

Anm. d. Red.: Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Verfassers wieder.

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