Einführung
Wenn man in diesen Tagen etwas schreiben will, fällt einem kein guter Einstieg ein, jedenfalls keiner, den man nicht schon mehrfach gelesen hat. Die Pandemie ist so weit jenseits dessen, was wir uns wirklich haben vorstellen können, dass wir nur in Superlativen denken, reden und schreiben können. Damit fühlen sich aber nur Publizisten wohl, Bedenkenträger auch, Meinungsvertreter sowieso. Trägt jemand wirtschaftliche Verantwortung, ist ihm damit nicht geholfen, denn er oder sie fragt sich, wie es weitergeht und was zu tun ist, um stabil und gesund durch die Krise zu kommen. Für die Anwaltschaft, ob in Kanzleien oder in Rechtsabteilungen, stellen sich diese Fragen natürlich auch. Liest man Stellungnahmen der Anwaltsverbände, dann schwankt die Anwaltschaft zwischen Systemrelevanz und Prekariat; dieser Befund lässt einen etwas ratlos zurück.
Nachfolgend einige Gedanken zu den möglichen Folgen der Krise für wirtschaftsberatende Kanzleien. Erwarten Sie hier noch keine gültigen Antworten! Glaskugeln habe ich auch nicht. Bestenfalls können wir anfangen, uns auszutauschen, das hier ist der Aufschlag, Stellungnahmen sind willkommen. Denn eins steht fest, und das ist eigentlich nicht die schlechteste Erkenntnis: Das hier stehen wir nur gemeinsam durch.
Glaskugeln
Glaskugeln gibt es auch woanders leider nicht, wohl aber gibt es zahlreiche interessante Beiträge zum gegenwärtigen Thema. Für ein Buch kam die Krise wie gerufen, als Marketingturbo: Richard Susskinds neuestes Werk „Online Courts and the Future of Justice“. Es ist das richtige Buch zur rechten Zeit, denn gerade bei der Justiz zeigt sich, wie zwei Jahrhunderte aufeinanderstoßen, die analoge Vergangenheit von der digitalen Zukunft abgelöst wird, aber nicht freiwillig oder in einem geordneten Prozess. Die deutsche Justiz gilt seit Jahren als schwerfällig und reformbedürftig (oder in der Terminologie von Richterverbänden und Justizpolitikern: „bewährt“), aber alle Änderungsprozesse dauern unendlich lange. Schon so etwas Simples wie die Einführung einer E-Akte scheint die Justiz zu überfordern, und da Justiz Ländersache ist, ist der Gedanke an ein einheitliches System Ausdruck von Träumerei. Es gibt drei Pilotsysteme mit unterschiedlichen Entwicklungsständen; und ob es wirklich bis zum Jahr 2026 gelingt, die Justiz für den elektronischen Rechtsverkehr fit zu machen, gilt längst nicht als gesichert (obwohl es dabei nur um den Austausch von Dokumenten und die damit verbundenen Organisationsumstellungen geht!). Die Krise zeigt bei der Justiz exemplarisch, wie wenig wir verstanden haben, was Digitalisierung bedeutet. Niemand, auch nicht die Anwaltschaft oder der Verfasser dieses Beitrags, hat Veranlassung, mit dem Finger auf die Justiz zu zeigen. Wir haben nur starke Veranlassung, uns dessen bewusst zu werden, was wir gerade lernen können.
Politik beginnt …
… mit der Betrachtung der Realität. Dieses Zitat, das Kurt Schumacher zugeschrieben wird, gilt auch für strategische Überlegungen. Wenn Kanzleien sich also fragen, ob und wie es weitergeht, sollte es mit einem Blick auf das, was sich gerade vor uns abspielt, beginnen. Danach stellen sich Fragen, was das kurz-, mittel- und langfristig bedeuten könnte und schließlich, ob sich dadurch etwas an den strategischen Zielen ändern müsste. Sinngemäß gilt das auch für Rechtsabteilungen.
Betrachtet man die derzeitige Situation und versucht, sie auf den Begriff zu bringen, dann fällt das schon nicht leicht. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Pandemie ungeahnten Ausmaßes, ohne Vorbild. So etwas kannten wir tatsächlich nur aus Hollywood. Über das Virus wissen wir kaum etwas, weder über seine genaue Herkunft noch darüber, warum es so gefährlich ist. Menschen sterben, aber warum? Die Kombination aus unsichtbarer Bedrohung und fehlenden Gegenmitteln wirkt besonders unheimlich und führt dazu, dass Staaten weltweit zu drastischen Maßnahmen greifen, die Bevölkerung einsperren und ganze Volkswirtschaften stilllegen, um die weitere Verbreitung des Virus zu verhindern und das Gesundheitssystem vor einem befürchteten Zusammenbruch zu bewahren. So heftige Grundrechtseingriffe hat es noch nie gegeben. Der Kritik an fehlender Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit der staatlichen Einschränkungen wird entgegengehalten, dass Entscheidungen auf unklarer Faktenbasis getroffen werden müssten und falsche Entscheidungen tödlich wirken könnten. Ohne die Pandemie gegen die Klimakrise ausspielen zu wollen: Der durch die Erderwärmung ansteigende Pegel der Weltmeere, der zur Überflutung bewohnter Länder, zu Millionen von Opfern und Migrationsbewegungen unvorstellbaren Ausmaßes führen könnte, hat die Politik längst nicht zu solch drastischen Maßnahmen motiviert wie das Virus. Greta war gestern.
Die unmittelbare Folge ist der Stillstand des öffentlichen Lebens, das „Herunterfahren“ der Volkswirtschaft bis auf wenige Bereiche, die der unmittelbaren Versorgung dienen. Um diese Folgen zu lindern, müssen alle Staaten ihre Ausgaben hochfahren und Hilfsprogramme ebenfalls unvorstellbaren Ausmaßes starten: Zuschüsse, Sonderkredite, Garantien, Kurzarbeitergeld, staatliche Beteiligungen, Helikoptergeld, und alles nicht nur auf nationaler Ebene. Was nicht im dreistelligen Milliardenbereich liegt, gilt nicht. Das bedeutet eine erhebliche Belastung der Zukunft, und dass diese Neuverschuldungen nur durch reines Wachstum der Wirtschaft und ohne zusätzliche Steuern und Vermögensabgaben wieder ausgeglichen werden können, glaubt niemand. Selbst wenn diese Krise tatsächlich demnächst vorbei wäre, dürften die Volkswirtschaften der Welt noch lange mit den Folgen dieser Rettungsmaßnahmen zu tun haben.
Bald vorbei?
Wenn Dinge unvorstellbar sind und wie ein Film oder ein böser Traum wirken, wünscht sich jeder, dass sie in absehbarer Zeit vorbei wären. So ist es auch hier: Wir freuen uns schon auf die Zeit „nach Corona“. Alle Diskussionen über die Lockerung der Freiheitsbeschränkungen sind davon gekennzeichnet, und je lauter die Forderungen werden, desto eindringlicher werden die Warnungen vor weiteren Infektionswellen. Immerhin gehen beide Seiten davon aus, dass man den derzeitigen Zustand überwinden könne, unklar ist nur, wann. Der Begriff der „Diskussionsorgien“ ist nicht so gut angekommen, und es wäre auch nicht richtig, die Gespräche über Einschränkungen vs. Lockerungen verhindern zu wollen. Aber wenn Diskussionen über Lockerungen vor dem Hintergrund der Annahme geschehen, dass sich das Unwetter bereits verzogen habe und man den Schirm zuhause lassen könne, dann ist das vielleicht eine Verkennung der Umstände. Wir kommen zurück auf das Schumacher’sche Zitat und fragen uns, was die Wirklichkeit ist – können wir schon bald von „nach Corona“ sprechen? Ist das realistisch? Solange die Pandemie noch nicht im Griff ist, sei es durch Herdenimmunität oder die Verfügbarkeit von Impfstoffen, kann und darf niemand das Risiko eingehen, so zu tun, als sei alles wieder normal.
Eine Erkenntnis scheint also zu sein: Es ist nicht vorbei, die Aussichten auf Besserung sind unklar, und es wirkt sehr ungewiss, ob es ein Zurück zu der Zeit davor gibt.
Analoge Welt vs. digitale Welt
Die Beschränkungen haben in wirklich turbomäßiger Geschwindigkeit dazu geführt, dass Dinge, mit deren Eintreten wir erst in vielen Jahren gerechnet haben, heute stattfinden, einfach deshalb, weil es nicht anders geht. Das Leben geht weiter, auch wenn wir weiten Abstand voneinander einhalten müssen und nicht reisen dürfen. Schulunterricht online, Arztsprechstunden per Video, überhaupt Besprechungen und ganze Konferenzen per Video, Diskussionen über Reformbedürfnisse in der Justiz, Home-Office, Konzerte online usw. – auch wenn der abrupte Wechsel nicht freiwillig war, scheinen viele den neuen Wegen der Kommunikation viel abgewinnen zu können. Inlandsflüge und das Leben in Flughafen-Lounges oder Besprechungsräumen scheint niemand zu vermissen. Allerdings ist es immer noch wesentlicher Teil unserer DNA, dass wir analog leben, Smartphones hin oder her. Unser Leben besteht überall aus persönlichem Austausch, im Beruf und im privaten Alltag, in Parlamenten, beim Arzt oder beim Anwalt, vor Gericht sowieso. Aber auch wenn wir uns im Moment nichts so sehr wünschen wie das persönliche Zusammentreffen mit Familie und Freunden, so realisieren wir gleichzeitig, dass es viele Bereiche gibt, in denen eine Videokonferenz völlig reicht. Wir erkennen den Wert von Plattformen, auf denen wir uns austauschen können, wo wir Wissen teilen und gemeinsam an Dokumenten arbeiten, ohne den analogen Weg der Kommunikation – per Brief, egal ob E-Mail oder gelbe Post – nutzen zu müssen. Der digitale Austausch, der bislang immer nur die schlechtere Alternative zum persönlichen Gespräch war, erweist sich als etwas, das eine gleichwertige Alternative zum persönlichen Gespräch sein kann und sogar Vorteile bietet, etwa weil es ressourcenschonender ist und die Möglichkeit bietet, in Austausch mit Menschen zu kommen, die an einem persönlichen Gespräch nicht hätten teilnehmen können.
Aber es sind natürlich nicht allein Videokonferenzsysteme, sondern es ist der gesamte Prozess der digitalen Transformation einschließlich der Neuorganisation von Arbeitsabläufen. Das ist natürlich insbesondere bei uns etwas Staunenswertes – denn Deutschland ist bekanntlich ein Drittweltland, was die Digitalisierung angeht. Es ist schon peinlich, das schreiben zu müssen. E-Government? E-Justice? E-Health? E-Learning? Große Unternehmen mit digitalen Geschäftsmodellen? Alles Fehlanzeige. Der Dax hat in den vergangenen fünf Jahren knapp 10% verloren, der Technologiesektor der USA hingegen, widergespiegelt im Nasdaq 100, ist um 85% gestiegen. Natürlich sind die Menschen in ihrem Privatleben deutlich digitaler und etwas unbekümmerter mit Blick auf ihre Daten unterwegs, aber das ist ja Privatleben. Datenschutz ist etwas für Datenschutzbeauftragte. Das offizielle Leben ist analog, gerade wenn es ernst wird, § 623 BGB.
Wird die Krise der Digitalisierung einen heftigen Schub versetzen? Werden Projekte, die es ja längst gibt, jetzt mit hoher Priorität in Angriff genommen? Werden wir akzeptieren, dass die Zukunft, eigentlich schon die Gegenwart, digital ist und wir uns von der analogen Vergangenheit verabschieden müssen? Gibt es eine Art Fukushima-Effekt für den Prozess der Digitalisierung? Oder bewahrheitet sich das gallige Zitat von Arnulf Baring, Deutschland sei dabei, ein Altersheim in einem Industriemuseum zu werden?
Eine weitere Erkenntnis ist also, dass die analoge Vergangenheit mit der digitalen Zukunft früher als gedacht in einen heftigen Konflikt gerät. Wirkt wie ein Generationenkonflikt. Aber ob das in Deutschland auch jetzt zu zukunftsgestaltender oder zu vergangenheitsbewahrender Politik führt, ist noch offen. Bekanntlich ist Deutschland gut, wenn es um Kohlekompromisse geht. Man kann schon besorgt sein, dass, wenn so viele Schulden zur Rettung der Gegenwart gemacht werden müssen, vielleicht nicht mehr genug für Zukunftsinvestitionen da ist.
Folgen für den Rechtsmarkt
Nach den vorstehenden Überlegungen sollte man nicht den Eindruck bekommen, dass die Aussichten gloomy seien. Im Gegenteil: Die Krise führt nicht nur zu einer Neuordnung der Wirtschaft, sondern auch zu einem sehr starken Anstieg an rechtlich geprägten Herausforderungen für Unternehmen, über die klassischen Krisenrechtsgebiete hinaus. Mittel- und langfristig wird die Nachfrage nach Rechtsdienstleistungen stark ansteigen. Davon werden allerdings nicht alle Kanzleien profitieren, und sie werden nicht die Einzigen sein, die davon profitieren wollen.
Kurzfristig: Hausaufgaben erledigen
Kurzfristig braucht es Durchhaltevermögen und Liquiditätsreserven. Eine Umfrage der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) ergab, dass die traditionelle Anwaltschaft mit einem überwiegenden Teil von Privatmandanten sich von der Krise merklich getroffen fühlt. Allerdings äußerten 23% der Umfrageteilnehmer, sie seien gar nicht betroffen, und 37% erwarteten, dass sie innerhalb eines halben Jahres die krisenbedingten Einbußen überwunden haben würden (die Umfrage findet sich auf der Homepage der BRAK, siehe hier; nach dem Set-up der Umfrage lassen sich über wirtschaftsberatende Kanzleien keine signifikanten Aussagen treffen).
Im Moment sind Berichte vorherrschend über Sparmaßnahmen in Kanzleien, verschobene Partnerernennungen, Kündigungen, Diskussionen über Gehaltskürzungen, aufgeschobene Projekte, Absagen von Partnerversammlungen, Kürzung von Partnerentnahmen. Das sollte man nicht zu ernst nehmen. Außerdem gilt auch hier: „Never let a serious crisis go to waste“ – solche Zeiten sind ideal dafür, längst überfällige Hausaufgaben zu erledigen. Das gilt ja nicht nur für Kanzleien, siehe oben.
Kleinere Allgemeinkanzleien stehen unter starkem Druck, mehr noch als sonst. In dieser Krise rächen sich aufgeschobene oder stets für irrelevant erachtete Innovationsvorhaben, die mit Digitalisierung und Arbeitsorganisation zu tun haben: Während Magic-Circle-Kanzleien ohne weiteres in der Lage sind, die Belegschaft global ins Home-Office zu schicken, ohne dass die Arbeitsfähigkeit nennenswert leidet, wissen viele Anwälte nicht, was sie mit ihrem Notebook zu Hause sollen, wenn sie überhaupt ein Notebook haben. Die gesamte Anwaltschaft hat wiederum mit Liquiditätseinbrüchen zu kämpfen. Denn: Mandanten, gewerblich oder privat, fahren ihre Ausgaben zurück, ändern Prioritäten, „sparen“ (es scheint auch eine erhebliche Zahl von jungen Unternehmensjuristen zu geben, die in der Probezeit entlassen wurden). Das ist angesichts des Lockdowns alles auch kein Wunder, und es wird sich auch nicht gleich entspannen, wenn die Wirtschaft „wieder hochgefahren wird“.
Mittelfristig
Aber mittel- und langfristig stehen die wirtschaftsberatenden Kanzleien der Top 75 vor den gleichen Herausforderungen, wie sie Bruno Mascello im Januar im Deutschen AnwaltSpiegel beschrieben hat (siehe hier). Die strategischen Ziele sowie die Notwendigkeit der Optimierung der Leistungserbringung verändern sich durch die Krise nicht. Es geht alles nur viel schneller. Allerdings werden Arbeitsprozesse stärker in den Blick geraten, denn in dieser Krise performen die Kanzleien gut, die organisierte und transparente Arbeitsprozesse eingeführt haben, den Unterschied zwischen Home-Office und Remote-Working kennen und ihre Teamstrukturen so gestaltet haben, dass ein fester Arbeitsplatz in einem Gebäude mit ortsgebundenen Kommunikationsstrukturen für eine effektive und effiziente Leistungserbringung nicht erforderlich ist (vgl. dazu den Beitrag von Daniel Biene (siehe hier). Wenn der jetzige Stresstest gut ausgeht, wird man sich in vielen Kanzleien noch einmal fragen, ob die klassische, vergleichsweise ineffektive und viel zu teure Bürogestaltung nicht längst Vergangenheit ist – zumal es den Bedürfnissen der nächsten Generation entspricht, Arbeit zu entgrenzen und flexibler zu gestalten. Andere Dienstleister machen es längst vor.
Konjunktur für Legal-Operations
Man muss aber davon ausgehen, dass trotz eines erheblichen Booms der Nachfrage nach rechtlichen Dienstleistungen die Preisempfindlichkeit der Unternehmen deutlich ansteigen wird – Nachfrageboom bedeutet nicht zwingend Boom der Nachfrage nach Anwaltskanzleien. Die Krise befördert und beschleunigt die Bedeutung von Legal-Operations in Unternehmen, also die Neu- oder Umgestaltung der unternehmensinternen Funktion Recht und Risikomanagement. Bisherige Strategien, die Rechtsabteilungen zu vergrößern, erweisen sich als nicht nachhaltig, wenn es andere Wege gibt, um kosteneffizientes Rechts- und Risikomanagement zu gewährleisten; und wenn es außerdem Dienstleister gibt, die bereit sind, Teil der Wertschöpfungskette zu werden, beschleunigt das den Prozess ebenfalls (zur Bedeutung von Legal-Operations vgl. die Studie der Bucerius Law School und von BCG hier).
Die Krise erhöht das Tempo, die Konkurrenz durch die heute schon digitalen Rechtsdienstleister wird deutlich schärfer werden. Zu denen gehören insbesondere die Big 4 und solche Unternehmen, die als Alternative-Legal-Service-Provider zusammengefasst werden. Denn diese Dienstleister sind viel weiter mit der Diversifizierung ihres Leistungsangebots und haben ungleich viel mehr in Technologie und die damit verbundenen Arbeitsabläufe investiert. Anwälte fühlen sich schon aus berufsrechtlichen Gründen an solchen Investitionen gehindert. Uneinholbar ist der Vorsprung jedoch nicht. Aber man muss gut trainiert sein.