Die Justiz hat mittlerweile erkannt, dass der Zugang zum Recht im digitalen Zeitalter nicht mehr über Briefkästen und Postfächer laufen kann. Spät und viel zu langsam hat sie begonnen, sich für die in anderen Bereichen längst alltägliche elektronische Datenübermittlung und -verarbeitung zu öffnen – mit der Folge, dass die technische Entwicklung mittlerweile über ihre ersten, stark von herkömmlichen Denkmustern geprägten Ansätze hinweggegangen ist. Das beA (besonderes elektronisches Postfach) wie auch seine Pendants für Notare, Steuerberater und Behörden bildet lediglich die postalische Übermittlung in elektronischer Form ab, die E-Akte stapelt PDF-Dateien wie bisher das Papier. Nichts hat sich geändert am Hin- und Herschicken von Schriftsätzen und an der richterlichen Mühsal, hieraus den entscheidungsrelevanten Sachverhalt zu rekonstruieren.
Aktuelle Vorhaben
Doch das soll sich nun ändern. An mehreren Stellen arbeitet die Rechtspolitik am digitalen Zugang zur Justiz.
So soll es künftig ein bundeseinheitliches Justizportal geben, welches nicht nur sämtliche Informationen über die Einleitung gerichtlicher Verfahren auf transparente, nutzerfreundliche Weise vermitteln, sondern auch den Zugang zu einer digitalen Rechtsantragstelle eröffnen soll. Dort sollen Rechtsuchende dann Anträge oder Erklärungen, die nicht dem Anwaltszwang unterliegen, elektronisch bei Gericht einreichen können.
Darüber hinaus sieht ein bereits beim Bundestag eingebrachter Gesetzentwurf (BT-Drucks. 21/1509) vor, dass Zahlungsklagen beim Amtsgericht nicht nur online erhoben, sondern auch ausschließlich virtuell verhandelt werden können. Hierfür kann eine Kommunikationsplattform genutzt werden, auf welcher der gesamte Prozessstoff – für alle Beteiligten ergänzbar – bearbeitbar und abrufbar gebündelt wird. Dadurch werden auch effiziente Formen eines kollaborativen, KI-gestützten richterlichen Verfahrensmanagements ermöglicht.
Was sich hier abzeichnet (und zunächst mit Experimentierklauseln und Reallaboren erprobt werden soll) ist auch für die Anwaltschaft von herausragender Bedeutung. Dass die im 19. Jahrhundert wurzelnden Strukturen der Kommunikation und der Prozessführung aufgebrochen werden, liegt auch in ihrem Interesse. Das umständliche und fehleranfällige Hin- und Herschicken von Dateien beenden und durch die unmittelbare Mitgestaltung und Mitverfolgung des Verfahrensablaufs auf einer digitalen Kommunikationsplattform ersetzen zu können, ermöglicht gleichzeitig ein effizientes Arbeiten und eine zielführende Mandatsbearbeitung. Das geplante Onlineverfahren wird unzählige Verhandlungstermine vor dem Amtsgericht ersparen, und ein gut gemachtes Informationsportal kann dazu beitragen, dass Rechtsuchende nicht vor der Unübersichtlichkeit des Justizsystems kapitulieren, sondern die richtigen Schritte einleiten.
Dabei sollte allerdings beachtet werden, dass es nicht immer der richtige Schritt ist, ohne anwaltliche Beratung eine Klage beim Amtsgericht zu erheben. Künftig soll dies (einem durchaus kritikwürdigen Gesetzentwurf zufolge) bei Streitwerten bis zu 10.000 Euro möglich sein (siehe BT-Drucks. 21/1849). Unprofessionelle Prozessführung kann jedoch zu erheblichen wirtschaftlichen Einbußen führen. „Do it yourself“ mag bei Kleinreparaturen im Haushalt ein angesagtes Motto sein; ob es richtig ist, Rechtsuchende durch ein smartes Onlinetool zum Prozessieren vom heimischen Sofa aus zu motivieren, kann man hingegen bezweifeln – nicht nur, weil ein anwaltlich geführter Prozess oft bessere Erfolgschancen bietet, sondern auch, weil der Anwalt von einer erfolglosen, kostspieligen Rechtsverfolgung abraten oder durch außergerichtliche Verhandlungen eine schnellere und bessere Lösung herbeiführen wird. Man kann nur hoffen, dass die Amtsgerichte auch im Onlineverfahren mündliche Verhandlungen anberaumen, wenn sie bemerken, dass eine Partei ihre Interessen im digitalen Format nicht angemessen vertreten kann.
Bedeutung für die Anwaltschaft
Für die Anwältinnen und Anwälte ist das geplante Onlineverfahren von begrenztem Nutzen: Sie kommunizieren jetzt schon elektronisch mit dem Gericht, auf mündliche Verhandlung und Strengbeweisverfahren kann auch im regulären Zivilprozess verzichtet werden (§ 128 Abs. 2, § 284 Abs. 1 Satz 2 Zivilprozessordnung – ZPO). Eine echte Innovation bietet nur die Kommunikationsplattform nach § 1131 ZPO-E, die mit dem Online-Klageverfahren erprobt werden soll. Doch warum beschränkt man diese Erprobung auf das amtsgerichtliche Verfahren? Und warum soll sie zehn Jahre dauern? Das ist im digitalen Zeitalter eine halbe Ewigkeit, und bis zur Einrichtung der Plattform oder gar einer (bereits angedachten) umfassenden Justiz-Cloud wird ohnehin noch einige Zeit vergehen.
Schneller wird es voraussichtlich zu dem geplanten Justizportal kommen, welches als reines Informationsangebot – anders als das Onlineklageverfahren – auch keiner Umsetzung durch Landesgesetzgeber und justizverwaltungen bedarf. Doch auch dieses Vorhaben fordert Kritik heraus, denn es ist zu stark auf die Einleitung gerichtlicher Verfahren ausgerichtet.
Nach dem Abschlussbericht einer vom Bundesministerium für Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) eingesetzten ZPO-Reformkommission soll das Justizportal zwar auch einen digitalen Konfliktlotsen bereitstellen, dieser soll jedoch ausschließlich eine Hilfestellung bei der Auswahl des passenden gerichtlichen Verfahrens anbieten. Angebote außerhalb der Justiz seien aufgrund der Neutralitätspflicht, drohender Konflikte mit der Rechtsberatung sowie möglicher Haftungsrisiken nicht einzubeziehen – eine Argumentation, der offenbar die Vorstellung zugrunde liegt, das Justizportal könne zu einer Vermittlungsbörse für dubiose Rechtsdienstleister entarten. Verkannt wird dabei die Rolle der Anwaltschaft. Ihre Aufgabe ist es laut § 1 Abs. 3 Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA), den Mandanten „konfliktvermeidend und streitschlichtend zu begleiten“, und diesen Auftrag erfüllen die Anwältinnen und Anwälte zumeist ohne Inanspruchnahme der Gerichte: verhandelnd, vermittelnd oder in Verfahren der alternativen Streitbeilegung.
Dass es möglich ist, Rechtsuchende auf diese Wege der Rechtsverwirklichung zu lenken, ohne Werbung für einzelne Anbieter zu betreiben, zeigt das Forschungsprojekt RECHT OHNE STREIT, ein nach den Prinzipien von Legal Design gestaltetes, interaktives Tool, welches Rechtsuchende motiviert und befähigt, den für sie besten Weg zu beschreiten. Dieser Konfliktlotse wird im Abschlussbericht der Reformkommission zwar erwähnt, aber als Vorbild für einen zu den gerichtlichen Verfahren führenden Wegweiser fehlinterpretiert.
Ein weiteres Indiz für eine sich abzeichnende Fehlsteuerung: Auf seiner Website bietet das BMJV die Möglichkeit, Ansprüche wegen Flugverspätungen oder ‑ausfällen zu prüfen und nach Einrichtung eines elektronischen Postfachs bei bestimmten Amtsgerichten eine Klage online einzureichen. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dafür kein Rechtsanwalt erforderlich ist, und ausführlich über den Ablauf eines Zivilprozesses informiert. Erst am Ende eines seitenlangen Disclaimers wird auf das Kostenrisiko hingewiesen und für den Fall, dass eine individuelle Rechtsberatung gewünscht wird, empfohlen, sich an einen Rechtsanwalt, eine Rechtsanwältin oder eine Verbraucherzentrale zu wenden. Nicht erwähnt wird dort die für den Reisenden kostenfreie und digital mögliche Anrufung der staatlich anerkannten Schlichtungsstelle Reise & Verkehr (siehe hier).
Fazit
Es ist gut, dass die Rechtspolitik bestrebt ist, die Möglichkeiten der digitalen Technik für eine effizientere Rechtsverfolgung zu nutzen. Was sich hierbei abzeichnet, ist allerdings zu eng, zu justizzentriert und zu langfristig gedacht.
Es sollte nicht so weit kommen, dass wir – wie beim beA und der E-Akte – nach Jahren der Entwicklung und Erprobung mit Insellösungen arbeiten müssen, die nicht mehr dem Stand der Technik entsprechen. Und besonders wichtig: Es geht um den digitalen Zugang zum Recht, nicht nur zur Justiz.


