Es klingt zunächst paradox: Start-ups gelten als kreativ, mutig, manchmal anarchisch – Compliance dagegen als bürokratisch, kontrollierend und eher spaßbremsend. Das eine steht für Geschwindigkeit („move fast and break things“), das andere für Behäbigkeit und langweilige Regeln. Und doch zeigt sich zunehmend: Wer Compliance von Anfang an richtig versteht, kann dies als Wachstumsbeschleuniger nutzen – und nicht als Innovationsbremse.
Denn Compliance ist weit mehr als das Einhalten von Gesetzen oder die Angst vor Strafe oder Bußgeldern. Sie ist – richtig umgesetzt – ein strategisches Betriebssystem, das Vertrauen schafft, Risiken kalkulierbar macht und auch jungen Unternehmen hilft, nachhaltig zu wachsen. Compliance bedeutet schließlich auch, Hinweisen nachzugehen und Schwachstellen aufzudecken, um sich kontinuierlich zu verbessern. Und wer einmal erlebt hat, welche reinigende Wirkung eine interne Untersuchung nach Hinweisen auf mögliche Complianceverstöße entfalten kann, versteht, dass Transparenz nicht lähmt, sondern heilen kann.
Start-ups und die Illusion der Regelarmut
In der Frühphase eines Unternehmens herrscht oft der Glaube, Regeln seien etwas für Konzerne. Gründerinnen und Gründer sind getrieben von Ideen, Investoren, Marktchancen – nicht von Paragraphen, Policies und Guidelines.
„Wir müssen erst überleben und wachsen, dann können wir über Compliance reden“, hört man so oder so ähnlich nicht selten von Gründerinnen und Gründern.
Doch gerade in dieser Phase entstehen viele der späteren Risiken: mangelndes Wissen, unklare Zuständigkeiten, fehlende Dokumentation, ungeschriebene Absprachen und latente Interessenkonflikte. Die Grenze zwischen Pragmatismus und Rechtsverstoß ist dann schnell überschritten.
Wer früh auf eine einfache, aber klare Compliancestruktur setzt – etwa mit einem Code of Conduct, Transparenzregeln bei Interessenkonflikten, Hinweisgebersystem und klaren Verantwortlichkeiten – schafft eine Basis, die Vertrauen nach außen und innen stärkt. Investoren, Geschäftspartner und Kunden nehmen wahr: Hier wird ernsthaft geführt.
In einem Markt, in dem „Trust“ oft mehr zählt als Marktanteile, kann das ein entscheidender Wettbewerbsvorteil sein.
Und auch das Argument von Gründerinnen und Gründern, dass Compliance nur Geld koste und daher gerade in der Frühphase eines Unternehmens keine Priorität genieße, greift in der Praxis häufig zu kurz. So fasste bereits 2009 der U.S. Deputy Attorney General Paul McNulty treffend zusammen: „If you think compliance is expensive… try non-compliance!“
Echte Compliance als langfristiger Schutz vor bösen Überraschungen
Für Start-ups bedeutet echte, gelebte Compliance zugleich Spielraum und Leitplanke ihres nachhaltigen Wachstums. Gerade technologiegetriebene Start-ups, etwa in der KI-, Biotech- oder FinTech-Branche, operieren in hochregulierten Umfeldern. Wer die Spielregeln kennt, kann sie strategisch nutzen.
Dabei geht es zunehmend nicht mehr nur um Datenschutz oder Wettbewerbsrecht – sondern immer auch um „Criminal Compliance“, also die gezielte Vermeidung unternehmensbezogener Straftaten.
Dabei muss es nicht immer gleich die Dimensionen von Wirecard, Cum-Ex oder dem Dieselkomplex annehmen, damit klar wird, dass Fehlverhalten im Unternehmen nicht nur Reputations- und Finanzrisiken birgt, sondern existenzgefährdend sein kann.
Strafrechtliche Risiken sind genauso mannigfaltig wie die Betätigungsfelder für Start-ups, und nicht immer springen einem die strafrechtlichen Risiken direkt ins Auge. Wer zum Beispiel aggressiv um Geschäftskunden wirbt und dies durch Marketinginitiativen gegenüber den angestellten Entscheidungsträgern des Gegenübers tut, sollte im Hinterkopf behalten, dass Korruption auch ohne Bargeldkoffer, sondern mit vermeintlich harmlosen Incentives funktionieren kann.
Und wer gerade zur Gründungsphase das Kostenrisiko eigener Mitarbeiter scheut und stattdessen auf unzählige Freelancer setzt, muss stets im Hinterkopf haben, dass Scheinselbständigkeit bei Strafverfolgungsbehörden humorlos Veruntreuen von Arbeitsentgelten heißt und strafbar sein kann.
Erfahrungen aus der Praxis zeigen: Junge Unternehmen sind oft besonders anfällig, weil sie schnell wachsen, improvisieren müssen und klare Strukturen manchmal erst im Laufe der Zeit entwickeln. Wer in dieser Phase keine präventiven Mechanismen etabliert, riskiert nicht nur Ermittlungen, sondern auch den Verlust von Vertrauen und Investitionsbereitschaft. Und kein Unternehmen genießt weder bei Verfolgungsbehörden wie BaFin, Zoll, Steuerfahndung oder Staatsanwaltschaft noch bei potentiellen Investoren Welpenschutz.
Der vermeintliche Schrecken: die interne Untersuchung bei möglichen Complianceverstößen
Wenn der Begriff „interne Untersuchung“ fällt, zucken viele (Jung-)Unternehmer zusammen. Er klingt nach Krise, Misstrauen und juristischer Großwetterlage. Aber die Perspektive wandelt sich. Immer mehr – auch junge – Unternehmen begreifen interne Untersuchungen als Chance – nicht als Strafe.
Denn wer Missstände intern (!) frühzeitig erkennt und offenlegt, sie strukturiert aufarbeitet und daraus Konsequenzen zieht, gewinnt Glaubwürdigkeit. In einer zunehmend werteorientierten Öffentlichkeit zählt nicht die Fehlerfreiheit, sondern der Umgang mit Fehlern.
Ein jüngstes Beispiel aus der Praxis: Ein Start-up im Bereich künstliche Intelligenz erhielt einen anonymen Hinweis: Zugriffe außerhalb der eigenen Sicherheitsrolle im Datenprodukt. Kein Drama, aber ein Signal. Statt in blinden Aktionismus zu verfallen, startete das Team ein Untersuchungsplaybook wie einen Routineeingriff: Untersuchungsgegenstand (= Scope) eng und zielführend definieren, Logdaten sichern, Interviews zu Berechtigungslücken führen, Maßnahmen ableiten. Zehn Tage später waren die Zugriffsmatrizen korrigiert, das Training aktualisiert, die Investoren sauber informiert – mit Zeitachse, Maßnahmen und Verantwortlichen. Kein Makel blieb haften – im Gegenteil: Wer sich so aufklärt, wirkt souveräner als jemand, der nie etwas findet, weil er nie hinschaut.
Das Prinzip ist alt, aber hochaktuell: Selbstreinigung durch Aufklärung. Eine saubere interne Untersuchung – durchgeführt von unabhängigen Rechtsanwälten, begleitet von interner Compliancekommunikation – kann wie ein Reset wirken. Sie schärft Verantwortlichkeiten, deckt blinde Flecken auf und ermöglicht einen echten Kulturwandel. Psychologisch gesehen wirken interne Untersuchungen wie ein kollektives Innehalten. Sie bremsen kurzfristig – aber sie stabilisieren langfristig. Wer die Ursachen von Regelverstößen analysiert, erkennt oft tieferliegende strukturelle Schwächen: unklare Führung, Überlastung, fehlende Prozesse. Diese Erkenntnisse sind Gold wert. In der Folge werden Strukturen verbessert, Verantwortlichkeiten klarer definiert, Schulungen eingeführt. Unternehmen, die diesen Prozess aktiv gestalten, berichten häufig von einem nachhaltigen Vertrauenszuwachs – sowohl intern als auch bei Kunden und Investoren. Die selbstreinigende Wirkung entsteht also nicht durch Sanktion, sondern durch Aufklärung. Ein Unternehmen, das Missstände transparent aufarbeitet, gewinnt moralische Autorität – und zeigt, dass es seine Verantwortung ernst nimmt.
Vom Pflichtprogramm zum Wettbewerbsvorteil
In Deutschland haftet Compliance oft noch der Beigeschmack eines Pflichtprogramms an: Man bekennt sich zur Compliance und implementiert „auf dem Papier“ Prozesse, weil man eben muss. Nicht selten kämpfen in Unternehmen die Mitarbeitenden aus der Complianceabteilung mit dem Vorurteil ihrer Kollegen, immer nur „Geschäftsverhinderer“ zu sein. Doch wer Compliance strategisch nutzt, kann daraus ein echtes Alleinstellungsmerkmal entwickeln. Ein Start-up im Bereich nachhaltiger Lieferketten zum Beispiel nutzt Compliance nicht als juristische Bremse, sondern als Marketinginstrument. Es dokumentiert transparent seine internen Standards, prüft Lieferanten sorgfältig und kommuniziert offen, wie es mit Hinweisen auf Verstöße umgeht. Das Ergebnis: Vertrauen bei Großkunden, höhere Investitionsbereitschaft, Reputation als integres Unternehmen in einem sensiblen Markt. Compliance wird so zum integralen Bestandteil des Geschäftsmodells – ein Stück Markenidentität. In Zeiten, in denen Nachhaltigkeit und ethisches Wirtschaften für Kunden wie für Investoren messbar werden, wird Compliance zum entscheidenden Vertrauensfaktor.
Die Zukunft: Prävention als Kultur
In der modernen Unternehmensführung verschiebt sich der Fokus: von der Kontrolle zur Prävention, von der Pflicht zur Kultur. Complianceprogramme werden nicht mehr nur aufgeschrieben, sondern von oben bis unten im Unternehmen gelebt („Tone from the top“). Compliancethemen werden in Onboardingprozesse integriert, mit Gamification-Elementen in Schulungen verankert und durch regelmäßige Reflexionen überprüft.
Gerade Start-ups, die ohnehin über agile Strukturen verfügen, können hier flexibel experimentieren: etwa mit Compliance-„Sprints“, Feedbackrunden nach Fehlern oder interaktiven Workshops. So entsteht eine Fehlerkultur, die weder sanktioniert noch bagatellisiert, sondern versteht und daraus lernt.
(Criminal) Compliance wird dabei nicht zum Damoklesschwert, sondern zum lernenden System. Wenn ein Unternehmen seine Risiken identifiziert hat, etwaige Schwächen kennt, sie offenlegt und daraus lernt, wird es resilienter – juristisch, wirtschaftlich und kulturell.
Wer also als rebellisches Start-up mit Regelwerk an den Start geht, beweist nicht Anpassung, sondern Weitsicht.


