Am 23.07.2025 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) ein Rechtsgutachten zu den staatlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Klimawandel veröffentlicht. Die Erwartungen waren hoch, das Ergebnis ist nicht revolutionär, bringt aber die längst virulente Debatte um Klimaschutz, Völkerrecht und Menschenrechte auf ein neues argumentatives Fundament.
Wir erläutern, was das Gutachten für die Staatengemeinschaft und für die rechtliche Praxis, sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene, bedeutet.
Hintergrund und Rechtsrahmen des Gutachtens
Das Gutachten geht auf eine gemeinsame diplomatische Initiative kleinerer Inselstaaten, allen voran Vanuatu, zurück. Einige dieser Inselstaaten sind aufgrund von Klimaextremen und damit einhergehender Küstenerosion derzeit durch den Anstieg des Meeresspiegels derart vom Verlust ihrer Landmasse bedroht, dass ihre Einwohner bereits Visumsschutz bei größeren Staaten (wie etwa Australien) suchen. Aufgrund dieser Notlage und in Zusammenarbeit mit einer Koalition aus über 130 Staaten sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren initiierte Vanuatu 2021 eine internationale Kampagne zur Befassung des IGH mit fundamentalen Fragen zum Klimaschutz. Im Frühjahr 2023 hatte daraufhin die UN-Generalversammlung den IGH mit zwei zentralen Fragen betraut. Die formelle Grundlage bildete dabei Artikel 96 der UN-Charta, wonach die Generalversammlung berechtigt ist, dem IGH völkerrechtliche Fragen zur gutachtlichen Klärung vorzulegen:
- Welche Verpflichtungen haben Staaten nach dem Völkerrecht, um den Schutz des Klimasystems und anderer Teile der Umwelt vor menschenversursachten Treibhausgasemissionen für Staaten sowie für heutige und künftige Generationen sicherzustellen?
- Welche rechtlichen Konsequenzen ergeben sich aus diesen Verpflichtungen für Staaten, die durch ihre Handlungen und Unterlassungen erhebliche Schäden am Klimasystem und anderen Teilen der Umwelt verursacht haben?
Zentrale Aussagen des Gutachtens – nicht revolutionär, aber deutlich
Der IGH leitet die Verpflichtung der Staaten zum Klimaschutz aus bestehenden völkerrechtlichen Verträgen und dem Völkergewohnheitsrecht ab. Er bestätigt, dass Staaten völkerrechtlich verpflichtet sind, gegen den Klimawandel vorzugehen, etwa aufgrund des Pariser Klimaschutzabkommens, der UN-Seerechtskonvention und allgemein anerkannter Regelungen des Umweltvölkerrechts (z.B. der sogenannten No-Harm-Rule, wonach ein Staat verpflichtet ist, die Gefahr von Umweltschäden für andere Staaten zu verhindern, zu verringern und zu kontrollieren). Als Kernelement des Gutachtens gilt somit die Feststellung, dass Klimaschutz keine politische Großzügigkeit ist, sondern völkerrechtliche Pflicht. Besondere Aufmerksamkeit verdient des Weiteren die Feststellung des IGH, dass aus menschenrechtlichen Verpflichtungen ein Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt folgt. Damit vollzieht das Gutachten einen Schulterschluss mit jüngeren internationalen Gerichtsentscheidungen, etwa der Rechtsprechung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Beratungsgutachten OC-23/17), der Umweltrechte ebenfalls in den Kontext klassischer Individualrechte stellt. In einem weiteren zentralen Punkt des Gutachtens weist der IGH darauf hin, dass es eine völkerrechtswidrige Handlung darstellen kann, wenn Staaten ihre Klimapflichten verletzen, etwa durch Förderung fossiler Energien oder fehlende Regulierung privater Emittenten.
Sofern ein Staat gegen diese Pflichten verstößt, soll sich seine Verantwortlichkeit aus dem Instrumentarium der bestehenden völkerrechtlichen Regeln und der Staatenverantwortlichkeit ergeben, der betreffende Staat also etwa zur Beendigung des völkerrechtswidrigen Verhaltens, der Stellung von Garantien, zur Nichtwiederholung sowie Wiedergutmachung (ggf. auch finanzieller Art) verpflichtet werden.
Die von Völkerrechtlern diskutierte Frage um die Feststellung der Kausalität von Pflichtverstößen und Rechtsfolgen reißt der IGH jedoch nur an und beschränkt sich auf die Aussage, dass die Frage der Kausalität im Einzelfall schwierig zu beantworten bleibt. Doch der IGH macht zumindest deutlich, dass die bloße Komplexität globaler Emissionsketten keinen Staat von seiner Verantwortung entbindet.
Praktische Relevanz: Warum das Gutachten mehr ist als Symbolik
Obwohl das Gutachten keine rechtsverbindliche Entscheidung darstellt, ist seine praktische und rechtspolitische Bedeutung enorm: Es bietet mehr Klarheit, wo Streitverfahren oder politische Diskussionen fehlen, und Orientierung für internationale wie nationale Gerichte. Für die Praxis bedeutet das: Wer Grundrechte – wie das Recht auf Leben, Gesundheit, Nahrung oder Wohnung – schützen will, muss auch den Klimaschutz mitdenken. Gleichwohl dürfte das Gutachten die Diskussion um die Ausrichtung der Staatengemeinschaft beim Klimaschutz keinesfalls verebben lassen. Das Gutachten dokumentiert ebenso die Argumentationskluft zwischen Industriestaaten und dem globalen Süden. Während z.B. die USA eine Kehrtwende der Klimapolitik hin zu fossilen Brennstoffen vollziehen, brachte die Vizepräsidentin des IGH, Julia Sebutinde, die Sorgen vieler kleinerer Inselstaaten zum Ausdruck, dass das Gutachten nicht ausreichend die konkreten Pflichten der einzelnen Staaten benennt, etwa z.B. klare CO₂-Reduktionsziele oder klar definierte staatliche Ausgleichspflichten. Die möglichen Praxisfolgen für die Adressaten dürften sich im Einzelfall wie folgt darstellen:
Staaten
Der IGH hat klargestellt, dass jeder Staat – unabhängig von seiner Größe oder Emissionsmenge – individuell verpflichtet ist, seinen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels zu leisten. Politische Ausflüchte („Wir sind zu klein, um einen Unterschied zu machen“) lässt der IGH nicht gelten. Dies könnte etwa bei zukünftigen Klimaklagen gegen Staaten mit relativ geringem Emissionsanteil bedeutsam werden, etwa im europäischen oder afrikanischen Raum. Insofern erweitert das Gutachten den bisher oft auf große Emittenten beschränkten Adressatenkreis völkerrechtlicher Klimaverantwortung.
Für strategische Klimaklagen und Rechtssetzung
Das Gutachten stärkt die Position von Klägern in laufenden und künftigen Verfahren als Auslegungshilfe – etwa vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, nationalen Verfassungsgerichten oder UN-Vertragsausschüssen. Es liefert eine konsolidierte Argumentationsbasis der einzelnen in Bezug genommenen völkerrechtlichen Rahmenbedingungen. So könnte zum Beispiel die Positionierung des IGH als völkerrechtliche Interpretationshilfe auch im Rahmen der deutschen grundrechtlichen Schutzpflichten herangezogen werden. Zuletzt hatte etwa das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 23.03.2021 (1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20, sog. „Klimabeschluss“) bereits das internationale Eintreten des deutschen Staates für den Klimaschutz anhand der Schutzpflicht von Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“) geprüft. Aktuelles Beispiel aus der Rechtssetzung ist die verfassungsrechtliche Verankerung des Ziels „Klimaneutralität bis 2045“ in Artikel 143h Abs. 1 Grundgesetz. Andere Staaten reagierten jedoch zurückhaltender auf das Gutachten. Aus dem britischen Außenministerium hieß es etwa, dass die Bekämpfung des Klimawandels Priorität habe, dies jedoch am besten durch internationale Verpflichtungen im Rahmen der bereits bestehenden Klimaverträge und ‑mechanismen der Vereinten Nationen erreicht werden könne.
Für Unternehmen
Indirekt trifft das Gutachten auch private Akteure. Staaten müssen auch Maßnahmen ergreifen, um private Emittenten zu regulieren, gleichzeitig werden ggf. politische Diskussionen um die Förderung nachhaltiger Ziele beschleunigt. Dies gilt sowohl im internationalen Kontext als auch bei der Auslegung nationaler Grundrechtsgarantien. Klimaklagen Privater, etwa die jüngst vor dem OLG Hamm gescheiterte Lliuya-Klage gegen RWE (siehe hier), die mangels „ernsthaft drohenden Flutrisikos“ abgewiesen wurde, dürften weiteren Rückenwind erhalten.




