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Am 05.05.2025 hat die neue Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD den Koalitionsvertrag mit dem Titel „Verantwortung für Deutschland“ unterzeichnet. Der Koalitionsvertrag verspricht unter anderem ambitionierte Reformen des deutschen Zivilverfahrensrechts. Inspirationsquellen für die Verfasser des Koalitionsvertrags bot der rechtspolitische Diskurs der vergangenen Jahre viele. Besonders stark orientiert sich der Koalitionsvertrag jedoch am Abschlussbericht der Reformkommission „Zivilprozess der Zukunft“, der am 31.01.2025 vorgestellt wurde. Dieser Beitrag skizziert die wichtigsten Vorhaben, zeigt die potentiellen Auswirkungen auf Unternehmen auf und bietet eine erste Einschätzung über Chancen und Risiken der geplanten Änderungen.

Digitalisierung der Justiz

Zentrales Vorhaben ist die konsequente Fortentwicklung digitaler Strukturen, um den Zivilprozess an die technologischen Realitäten des 21. Jahrhunderts anzupassen und bürgerfreundlicher zu gestalten. Nach Einführung der elektronischen Akte (verpflichtend ab spätestens 01.01.2026, § 298a Abs. 1a Satz1 ZPO) und der Ausweitung der Möglichkeit von Videoverhandlungen (§ 128a ZPO) will die Politik nun einen nächsten Schritt gehen.

Geplant ist der Ausbau digitaler Kommunikationswege durch die Implementierung einer „Bundesjustizcloud“, die einen standardisierten digitalen Dokumentenaustausch zwischen Behörden ermöglichen soll. Parallel dazu soll ein „Justizportal“ Bürgern und Unternehmen einen niedrigschwelligen Zugang zur digitalen Justiz bieten. Ergänzend zu den bereits etablierten Videoverhandlungen ist zudem die Einführung eines „Online-Verfahrens“ vorgesehen. Das „Online-Verfahren“ soll perspektivisch ein vollständig digital geführtes Gerichtsverfahren mit digitalem Eingabesystem zur Klageeinreichung, digitaler Strukturierung des Prozessstoffs und der Verfahrensführung über eine bundeseinheitliche Kommunikationsplattform ermöglichen. Die durchgängig digitale Verfahrensführung soll dabei lediglich eine Wahlmöglichkeit zu den herkömmlichen ZPO-Verfahren darstellen.

Effizienzsteigerung durch schiedsgerichtliche Elemente und straffere Verfahrensführung

Die angestrebte Effizienzsteigerung im Zivilprozess soll primär durch die Integration etablierter Strukturen aus dem Schiedsverfahrensrecht erreicht werden.

Strukturierung des Verfahrensablaufs

Im Mittelpunkt stehen Verfahrenskonferenzen, die zu Prozessbeginn anberaumt werden und bei denen Gericht und Parteien gemeinsam den Verfahrensablauf strukturieren. Ergänzend sollen Vorgaben zur Strukturierung des Parteivortrags möglich sein.

Details zur Ausgestaltung sind dem Koalitionsvertrag nicht zu entnehmen. Ein Blick in die Vorschläge der Reformkommission zeigt aber die dort diskutierten Ansätze. Gesetzliche Umfangsbeschränkungen werden überwiegend abgelehnt, da sie der Vielschichtigkeit zivilrechtlicher Streitigkeiten nicht gerecht werden und Ausnahmeregelungen zu Nebenstreitigkeiten führen würden. Eine gesetzliche Pflicht zur Trennung von Rechts- und Tatsachenvortrag könnte die Übersichtlichkeit verbessern, doch die Reformkommission verzichtet auf eine entsprechende Empfehlung. Denn Probleme sind programmiert: Wenn Tatsachen in rechtlichen Ausführungen enthalten sind, wird schwer zu entscheiden sein, ob diese als verspätet vorgebracht gelten und damit ausgeschlossen (präkludiert) werden sollten.

Die Reformkommission favorisiert stattdessen richterliche Anordnungen zur formellen Strukturierung im Einzelfall. Diese sollten sich auf Aufbau und Gliederung des Sachvortrags beschränken und frühzeitig mit einem Hinweis zur Rechtslage verknüpft werden. Mögliche Anordnungen umfassen die Trennung von Sachvortrag und rechtlicher Würdigung, die gesonderte Auflistung von Beweismitteln sowie konkrete Bezugnahmen auf den gegnerischen Vortrag. Als Sanktion wird die Unbeachtlichkeit von außerhalb der vorgegebenen Struktur erfolgendem Parteivortrag empfohlen. Diese greift den Rechtsgedanken des § 138 Abs. 3 ZPO auf und erscheint wirksamer als eine Präklusion nach dem Vorbild des § 296 ZPO.

Richtigerweise werden Verfahrenskonferenzen zentral für die erhoffte Beschleunigung und Vermeidung von ausufernden Beweisanträgen sowie „Materialschlachten“ sein und richterliche Anordnungen zur Strukturierung des Parteivortrags nur eine zweitrangige Rolle spielen. Denn letztlich dürfte ein ausufernder Parteivortrag nämlich oft auch auf Unsicherheit über die relevanten Entscheidungsaspekte zurückzuführen sein. Dem könnte das Gericht mittels entsprechender Ausführungen bereits in einem Organisationstermin vorbeugen.

Diese Neuerungen erfordern von allen Beteiligten eine frühzeitige und präzise Erfassung des Streitstoffs, nicht nur um prozessuale Fehler zu vermeiden, sondern auch um strategisch vorteilhaft agieren zu können und bereits im Organisationstermin den Erwartungshorizont des Gerichts zu erkennen. Die Balance zwischen Verfahrensökonomie und der Wahrung des verfassungsrechtlich garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG) bleibt eine zentrale Herausforderung für den Gesetzgeber. Die Empfehlung der Reformkommission ist daher zu begrüßen, die Strukturierung des Parteivortrags durch richterliche Anordnung nur im Einzelfall vorzusehen.

Ausweitung von Präklusionsfristen

Der Koalitionsvertrag sieht zudem eine Ausweitung von Präklusionsfristen vor, die den zeitlichen Rahmen für das Vorbringen von Argumenten und Beweismitteln begrenzen. Solche terminlichen Einschränkungen, vergleichbar mit den „cut-off dates“ in Schiedsverfahren, sind bereits Gegenstand von Ausgestaltungsvorschlägen der Reformkommission, wenngleich der Koalitionsvertrag die konkrete Umsetzung offenlässt.

Die erweiterten Präklusionsregelungen bieten zwar das Potential erheblicher Verfahrensverkürzungen, stellen jedoch höhere Anforderungen an die frühzeitige und vollständige Sachverhaltsaufbereitung. Für Unternehmen wird die enge Zusammenarbeit von Anwälten und den betroffenen Fachabteilungen zum kritischen Erfolgsfaktor, um nicht durch versäumte Fristen wesentliche Prozessoptionen einzubüßen. Die präventive gemeinsame Fallaufarbeitung gewinnt dadurch deutlich an Bedeutung für den Verfahrenserfolg.

Effektive Klagezustellung

Im Sinne der Effizienzsteigerung strebt der Koalitionsvertrag auch die Sicherstellung effektiverer Klagezustellungen innerhalb Europas an. Die durch die EU-Verordnung 2020/1784 (EuZVO) geschaffenen Möglichkeiten, insbesondere zur unmittelbaren Zustellung, werden bislang nicht vollständig ausgenutzt, wenngleich sie zu einer erheblichen Beschleunigung von Prozessabwicklungen führen könnten. Ferner sollte – so auch von der Reformkommission empfohlen – die Abschaffung des elektronischen Empfangsbekenntnisses (eEB) ins Auge gefasst werden, da der Zugang bereits durch automatisierte Eingangsbestätigungen nachgewiesen werden kann. Eine Zugangsfiktion nach bestimmter Frist analog zu § 173 Abs. 4 Satz 4 ZPO wäre zweckmäßig, wird im Koalitionsvertrag anders als im Bericht der Reformkommission jedoch nicht thematisiert.

Ferner sollen „Schätzungs- und Pauschalierungsbefugnisse“ zur Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung ausgebaut werden. Solche Befugnisse existieren bereits und werden von der Justiz genutzt, wie die aktuelle BGH-Rechtsprechung zu Schadensersatzansprüchen nach Art. 82 DSGVO bei Meta-Scraping-Vorfällen zeigt (BGH, Urteil vom 18.11.2024 – VI ZR 10/24). Die konkrete Ausgestaltung der vorgesehenen Erweiterungen bleibt abzuwarten.

Rolle der ersten Instanz ausbauen

Die angestrebten Reformen sehen des Weiteren eine deutliche Aufwertung der ersten Instanz vor: Die Anhebung der Zuständigkeitsstreitwertgrenzen bei Amtsgerichten und die Einschränkung des Zugangs zur zweiten Instanz stehen dabei im Mittelpunkt.

Im Koalitionsvertrag planen die Regierungsparteien die längst überfällige Erhöhung der amtsgerichtlichen Zuständigkeitsstreitwertgrenzen, die seit der Euroeinführung unverändert bei 5.000 Euro liegt. Eine Anhebung auf 8.000 Euro war bereits in der vorherigen Legislaturperiode vorgesehen (RegE, BT-Drs. 20/13251). Diese Maßnahme soll den seit Jahren sinkenden Eingangszahlen bei Amtsgerichten entgegenwirken und Landgerichte bei Massenverfahren entlasten. Problematisch könnte jedoch die verstärkte Zersplitterung der Rechtsprechung sein, da bei erstinstanzlicher amtsgerichtlicher Entscheidung mangels Erreichens der Wertgrenze eine Revision zum BGH nicht möglich ist und das Leitentscheidungsverfahren nicht greift.

Die geplante Erhöhung der „Rechtsmittelstreitwerte“ – gemeint dürfte damit der Beschwerdegegenstand für Berufungen (aktuell 600 Euro) und Nichtzulassungsbeschwerden (aktuell 20.000 Euro) sein – soll den Zugang zur zweiten Tatsacheninstanz einschränken. Genaue Werte nennt der Koalitionsvertrag allerdings keine. Trotz möglicher Verfahrensbeschleunigung ist hier Vorsicht geboten, um rechtliches Gehör und effektiven Rechtsschutz nicht zu gefährden.

Fazit: Vorteile und Risiken der Reform

Der Koalitionsvertrag sieht bedeutende Schritte zur Erneuerung des Zivilverfahrensrechts vor. Die geplante Integration von Schiedsverfahrenselementen und der Ausbau digitaler Strukturen versprechen eine deutliche Weiterentwicklung der deutschen Justiz in Sachen Effizienz und Zukunftsfähigkeit.

Für Unternehmen entstehen dadurch allerdings auch Herausforderungen. Die Anhebung der Zuständigkeitsstreitwertgrenzen für die erste Instanz und der vereinfachte Rechtszugang mit Hilfe von Digitalisierung könnten zu mehr Klagen, insbesondere in den Bereichen Verbraucherrechte, Datenschutz und ESG führen. Das Risiko divergierender Rechtsprechung und ausufernder Massenverfahren könnte sich verstärken.

Die Verfahrensmodernisierung bietet jedoch erhebliche Vorteile für Unternehmen, die ihre Prozessstrategien anpassen. Entscheidend wird eine frühzeitige, präzise Erfassung des Streitstoffs und aktive Verfahrensgestaltung sein. So lassen sich die Vorteile der Reform nutzen und potentielle Risiken minimieren. 

Autor

Susanne Lutz, LL.M. (LSE) Bird & Bird, München Rechtsanwältin, Partner

Susanne Lutz, LL.M. (LSE)

Bird & Bird, München
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