Wir regen uns auf, wenn der ICE 30 Minuten zu spät kommt, wenn uns der Handwerker vier Wochen warten lässt oder wenn uns die Arztpraxis einen Termin in drei Monaten anbietet. Dabei scheinen das nur minimale Lästigkeiten zu sein im Vergleich zu dem, was einem Rechtsuchenden im gerichtlichen Verfahren abverlangt wird. Er muss oftmals mehrere Jahre warten, bis er ein rechtskräftiges Urteil in Händen hält (und kann nur hoffen, dass er dieses dann auch noch durchsetzen kann).
Dass man für ein Gerichtsverfahren außer Geld und Nerven auch viel Zeit braucht, ist keine neue Erkenntnis. Bekannt ist der Bericht Goethes über sein Praktikum beim Reichskammergericht im Jahre 1772: „Ein ungeheurer Wust von Akten lag aufgeschwollen und wuchs jährlich … Zwanzigtausend Prozesse hatten sich angehäuft, jährlich konnten sechzig abgetan werden, und das Doppelte kam hinzu“. Zwar wurde mit der Civilprozeßordnung von 1877 versucht, dem Zivilprozess durch Stärkung der Parteiherrschaft und Einführung des Mündlichkeitsgrundsatzes neuen Schwung zu geben; auch dies hatte aber keinen durchschlagenden Erfolg. Schon wenige Jahre später mehrten sich die Klagen über die Schwerfälligkeit und Dauer der Verfahren.
Ansteigen der Verfahrensdauer …
Obwohl in den folgenden Jahrzehnten immer wieder versucht wurde, diesem Übel zu Leibe zu rücken, änderte sich wenig. Im Gegenteil: In den 1960er Jahren nahm die Verfahrensdauer ein solches Maß an, dass der Gesetzgeber sich (erneut) zum Eingreifen veranlasst sah. In einem Gesetzentwurf vom Mai 1970 (BT-Drucks. VI/790) hatte die Bundesregierung festgestellt, dass der Anteil der Verfahren, die bis zum Erlass eines Urteils länger als sechs Monate anhängig sind, ständig ansteigt, bei den Amtsgerichten von 24,7% im Jahre 1957 auf 38,3% in 1968, bei den Landgerichten im selben Zeitraum von 52,3% auf 62,2%. Der Entwurf sah hierin schwere Gefahren für die Rechtsordnung. Eine Verzögerung des Rechtsschutzes könne unter Umständen seiner völligen Versagung gleichkommen; in jedem Fall sei es für den Einzelnen unzumutbar, über Vermögenswerte, die ihm von Rechts wegen zustehen, erst nach Jahren verfügen zu können. Hinzu komme, dass eine übermäßige Verfahrensdauer die Gerichte und die Rechtsanwälte unnötig belastet. Wörtlich heißt es: „Die lange Prozeßdauer macht immer wieder eine erneute Durcharbeitung der Akten erforderlich, die umso schwieriger und zeitraubender wird, je länger sich der Prozeß hinzieht. Immer neue Schriftsätze, die zu einem großen Teil schon früher Vorgebrachtes wiederholen, werden eingereicht, die Akten schwellen an [Goethe lässt grüßen], und der Richter muß in mühsamer Kleinarbeit zusammenstellen, was die Parteien insgesamt vorgetragen haben … Schließlich wächst mit der Hoffnung, einen Prozeß um Monate und Jahre verschleppen zu können, die Neigung säumiger Zahler, es auch in aussichtslosen Fällen auf einen Rechtsstreit ankommen zu lassen.“
… und erfolgloses Gegensteuern: Vereinfachungsnovelle 1976
Aus den schlagenden Argumenten dieses Entwurfs ist die sogenannte Vereinfachungsnovelle von 1976 hervorgegangen, die mit der Einführung des gerichtsseits vorzubereitenden Haupttermins tatsächlich eine spürbare Verfahrensbeschleunigung erzielen konnte. Diese Wirkung ist jedoch schnell wieder verflogen. Seit den 1990er Jahren ist bei den Landgerichten eine drastische Zunahme der Verfahrensdauer festzustellen. Während 1997 nur 3,7% der Verfahren länger als zwei Jahre dauerten, war dies 2023 in 13,2% der Fall. Die durchschnittliche Verfahrensdauer in den Fällen, die mit einem streitigen Urteil endeten, stieg von 10,4 Monaten im Jahre 1997 auf 17 Monate im Jahr 2023. Bis zum Berufungsurteil des OLG vergingen 1997 im Durchschnitt 24,2 Monate, 2023 mussten die Parteien hierauf bereits 33,5 Monate, fast drei Jahre, warten. 6% der mit Berufungsurteil beendeten Verfahren dauerten länger als fünf Jahre.
Bemerkenswert ist, dass diese Zunahme der Verfahrensdauer mit einem deutlichen Rückgang der Prozesszahlen einhergeht (von 1997 bis 2023 bei den Landgerichten um rund 29%). Die Gerichte benötigen also trotz sinkender Geschäftslast mehr Zeit, um die anhängigen Verfahren zum Abschluss zu bringen. Und von den sechs Monaten, deren Überschreitung dem Gesetzgeber anno 1970 Sorgen bereitete, sind sie weiter entfernt denn je. Offensichtlich gelingt es immer weniger, das Verfahren in einem gründlich vorbereiteten Haupttermin zum Abschluss zu bringen, wie es mit der Vereinfachungsnovelle 1976 bezweckt und ursprünglich auch erreicht war. Die vom Gesetzgeber seinerzeit beschworene Gefahr für die Rechtsordnung ist wieder virulent.
Sonderproblem: überlange Verfahren
Sie wird noch verstärkt durch ein Phänomen, welches in der Justizstatistik keinen Ausdruck findet: die Häufigkeit überlanger Gerichtsverfahren. Sie verbergen sich in der Kategorie „länger als …“ und werden nur sichtbar anhand von Entscheidungen über Entschädigungszahlungen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat, nachdem er rund hundert Mal mit Verstößen deutscher Gerichte gegen das in Artikel 6 EMRK verbriefte Recht auf eine Verhandlung in angemessener Zeit befasst war, die Bundesrepublik Deutschland nicht nur zur Zahlung von rund 14.000 Euro an den Kläger, sondern auch dazu verurteilt, spätestens binnen eines Jahres einen Rechtsbehelf oder mehrere gegen überlange Gerichtsverfahren schaffen. In der Begründung führte der Gerichtshof aus, es gebe ein „beharrliches Unterlassen Deutschlands, sicherzustellen, dass Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen innerhalb angemessener Frist entschieden werden, und Maßnahmen zu treffen, die Beschwerdeführern ermöglichen, innerstaatlich Wiedergutmachung für überlange Zivilverfahren geltend zu machen“ (Urteil vom 02.09.2010 – 46344/06, NJW 2010, 3355).
Was zunächst als Gewinn für von solchen Verfahren Betroffene aussah, erwies sich bald als Niederlage, denn das daraufhin erlassene Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren (ÜGRG) schnitt nunmehr als vorrangiger Rechtsbehelf den Weg zum EGMR ab und veranlasste den BGH, die bis dahin für krasse Fälle von Rechtsschutzverweigerung zugelassene außerordentliche Beschwerde abzuschaffen (Beschluss vom 20.11.2012 – VIII ZB 49/12, NJW 2013, 385).
Entschädigungspraxis und …
Immerhin enthüllt die Justizstatistik jetzt, in welchem Ausmaß sich Rechtsuchende so durch zu lange Prozesse benachteiligt fühlen, dass sie die Justiz auf eine Entschädigung nach dem ÜGRG (§§ 198 ff. GVG) verklagen. Bei den für die ordentliche Gerichtsbarkeit zuständigen Oberlandesgerichten wurden von 2013 bis 2023 rund 2.600 derartige Klagen erhoben. In den anderen Gerichtsbarkeiten wird die entsprechende Klagemöglichkeit ebenfalls häufig in Anspruch genommen – und dies, obwohl nur Aussicht auf eine relativ geringfügige Entschädigung besteht (die Regelentschädigung für immaterielle Nachteile beträgt 1.200 Euro pro Jahr). Die Verfahren sind allerdings sehr aufwendig, weil dort akribisch untersucht wird, welche Verfahrensverzögerungen dem Ausgangsgericht anzulasten sind und wie sie sich ausgewirkt haben; es wird praktisch der ganze missratene Prozess nochmals aufgewickelt. Statt das Übel des überlangen Verfahrens an der Wurzel zu bekämpfen, setzt man also noch ein neues Verfahren drauf.
… Gründe für überlange Prozesse
In den Jahren 2011/12 hat eine aus den Präsidenten der OLG Hamm, Nürnberg, Jena und des Kammergerichts bestehende Arbeitsgruppe durch umfangreiche Aktenauswertungen die Ursachen für überlange Zivilprozesse zu ergründen versucht. Als Hauptursachen wurden Sachverständigenbeweis, unzureichende Verfahrensförderung durch das Gericht und Richterwechsel festgestellt; es wurde auch aufgezeigt, wie ihnen entgegengewirkt werden könnte (Keders/Walter, NJW 2013, 1697 ff.).
Anders als in den 1960er Jahren hat sich die Rechtspolitik allerdings nicht besonders für die Problematik der Verfahrensdauer interessiert. Mit Sorge betrachtet man vielmehr die rückläufigen Prozesszahlen und versucht, dem mit Sonderspruchkörpern für große Wirtschaftsprozesse (Commercial Courts) und einem Onlineverfahren für geringe Streitwerte entgegenzuwirken. Erst seit kurzem werden in Reformkommissionen Vorschläge entwickelt, wie der Zivilprozess insgesamt flott gemacht und dadurch wieder attraktiv werden kann.
Konfliktlösungen außerhalb der Justiz
Bis dahin wird vermehrt nach Konfliktlösungen außerhalb der Justiz zu suchen sein. Um sich nicht dem Vorwurf eines Kunstfehlers auszusetzen, muss die Rechtsberatungspraxis bestrebt sein, Rechtsuchenden die jahrelange Hängepartie eines Zivilprozesses zu ersparen. Für Wirtschaftsstreitigkeiten gerät dabei zunehmend die Schiedsgerichtsbarkeit ins Visier. Die Schiedsorganisationen bieten beschleunigte Verfahren an, die innerhalb von sechs Monaten abzuschließen sind; die Deutsche Industrie- und Handelskammer hat einen Schiedsgerichtshof gegründet, der den Mitgliedsunternehmen ein smartes Verfahren über eine Onlineplattform anbietet (siehe hierzu auch den Beitrag von Prof. Dr. Stephan Wernicke). In Bausachen macht sich zunehmend die Projektbegleitung durch Dispute Boards oder Adjudikatoren breit, damit Konflikte bereits im Entstehen behoben oder begrenzt werden können. Auch im Alltagsbetrieb bemühen sich Rechtsanwälte verstärkt darum, Konflikte möglichst im Verhandlungswege, gegebenenfalls unterstützt durch neutrale Vermittler, zu lösen. Dass hierfür auch ohne Gerichtstermin eine Terminsgebühr verdient werden kann (Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 1 VV RVG), ist sachgerecht und hilfreich.
Man mag den damit verbundenen Bedeutungsverlust der staatlichen Justiz bedauern. Dass sie durch ihre ausufernden Verfahrenslängen zur Stärkung der autonomem Konfliktlösung beiträgt, kann man freilich auch positiv werten. Als Ultima Ratio für nicht auf diese Weise zu lösende Konflikte muss sie allerdings wieder in die Lage versetzt werden, effizienten Rechtsschutz zu gewähren. Die Schiedsgerichte zeigen, dass es möglich ist, auch komplexe Streitfälle in den sechs Monaten abzuwickeln, die mal als Messlatte für den Zivilprozess galten, Schlichter und Mediatoren schaffen dies oft in wenigen Tagen. Prozesse, die sich über Jahre hinziehen, darf es nicht geben.
Nachtrag
Während der Erstellung dieses Beitrags erhielt der Verfasser eine soeben erlassene richterliche Verfügung. Sie trägt ein Geschäftszeichen von 1997. Der Prozess, eine Bausache, ist seither nunmehr 27 Jahren in erster Instanz anhängig. Der Berichterstatter, nach inoffizieller Zählung mindestens der achte in dieser Sache, schlägt eine Verhandlung beim Güterichter vor. Kein Kommentar.


