Videokonferenzen sind nicht nur im Geschäfts- und Privatleben weithin üblich geworden, auch die Justiz hat sich – eher nolens als volens infolge der Coronapandemie – dieser Verhandlungsform geöffnet. Mit einer Neufassung des § 128a ZPO wollte der Gesetzgeber sie sogar noch fördern: Die mündliche Verhandlung sollte quasi zur Regel, die Ablehnung einer solchen zur begründungspflichtigen Ausnahme werden. Diese Zielsetzung wurde im Wechselbad des Gesetzgebungsverfahrens zwar total verwässert, aber die vollvirtuelle Gerichtsverhandlung bleibt trotzdem im Visier der Rechtspolitik: Nach § 16 des Einführungsgesetzes zur ZPO soll durch Bundes- oder Landesverordnung die Erprobung von mündlichen Verhandlungen ermöglicht werden, an denen alle Verfahrensbeteiligten und alle Mitglieder des Gerichts nur per Bild- und Tonübertragung teilnehmen und auch der Vorsitzende die Verhandlung nicht vom Gerichtssaal aus, sondern aus seinem dienstlichen oder häuslichen Arbeitszimmer leitet.
Diese Verhandlungsform ruft außer technischen Herausforderungen auch ein gravierendes Rechtsproblem hervor. Denn wenn es keinen Gerichtssaal mehr gibt, wie soll dann die nach § 169 GVG zwingend gebotene Öffentlichkeit hergestellt werden?
Reality-TV am Gericht?
Das Gesetz will das Problem dadurch lösen, dass die Verhandlung in Bild und Ton in einen öffentlich zugänglichen Raum des Prozessgerichts übertragen wird. In den Gerichtsgebäuden ist also eine Art Kinosaal einzurichten, wo interessierte Besucher mitverfolgen können, was sich auf den Monitoren der Prozessbeteiligten abspielt. An größeren Gerichten, wo mehrere Verhandlungen parallel laufen, muss man entweder mehrere derartige Räume vorhalten oder – was eher in Betracht kommen dürfte – durch Kopfhörer dafür sorgen, dass jeder Besucher die ihn interessierende Verhandlung ungestört verfolgen kann.
Der Rechtsausschuss des Bundestags wollte noch einen (großen) Schritt weiter gehen und auch die unmittelbare Teilnahme der Öffentlichkeit an der Verhandlung zulassen. Damit war selbstverständlich nicht gemeint, dass die Prozessbeteiligten den Zutritt von Jedermann zu ihren Dienst- oder Privaträumen gestatten müssen; das Publikum sollte sich vielmehr online in die Videoverhandlung einschalten können. In der Begründung dieser Empfehlung ist von der Bereitstellung eines Zugangslinks die Rede, d.h. besagter Jedermann könnte nach Anklicken eines – wohl auf der Website des Gerichts einzurichtenden – Links von zu Hause aus die Verhandlung verfolgen. Medientechnisch gesprochen wäre also die Wahl zwischen besonderen Formen von Public Viewing und Streaming eröffnet worden. Diesem durchaus zeitgemäßen Mediengenuss – statt an fiktiven Gerichtsshows mit Barbara Salesch hätte man an der Lösung realer menschlicher Konflikte teilhaben können – hat der Bundesrat jedoch den Stecker gezogen. Er rief dagegen den Vermittlungsausschuss an und führte dazu aus:
„Am Grundsatz der Saalöffentlichkeit ist festzuhalten. Bei der digitalen Zuschaltung der Öffentlichkeit kann weder sicher festgestellt werden, wer an der Verhandlung teilnimmt, noch können sitzungspolizeiliche Maßnahmen wirksam durchgeführt werden. Es lässt sich technisch nicht verhindern, dass Verhandlungen abgefilmt und weiterverarbeitet oder veröffentlicht werden. Äußerungen könnten aus dem Zusammenhang gerissen und zu missbräuchlichen Zwecken verwendet werden. Wenn die Beteiligten einschließlich des Gerichts befürchten müssen, dass die im Gerichtssaal getätigten Äußerungen im Internet für eine unbeschränkte Personenanzahl und einen unbegrenzten Zeitraum verstetig oder verfälscht dargestellt werden, besteht die Gefahr, dass sich Verfahrensbeteiligte nicht mehr unbefangen verhalten.“
Das hat überzeugt, die „unmittelbare Teilnahme“ per Reality-TV ist nicht Gesetz geworden. Es wurde noch rechtzeitig erkannt, dass das Streaming zu einer Über-Öffentlichkeit führen würde, die durch den Sinn des § 169 GVG – Kontrolle der Rechtsprechung – nicht gefordert wird, aber weit in die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten eingreift. Als Unterhaltungsprogramm für Voyeure, die sich an den Rechtskonflikten Anderer ergötzen, ist der Öffentlichkeitsgrundsatz nicht gedacht.
Doch sprechen dieselben Gesichtspunkte nicht auch gegen die gesetzlich vorgesehene Übertragung ins Gerichtskino? Zwar mag der Eingriff in die persönliche Sphäre der Beteiligten nicht so groß sein, wenn man sie nur im nüchternen Übertragungsraum eines Gerichts und nicht gewissermaßen hautnah auf dem privaten Bildschirm verfolgen kann. Dennoch kommt es auch hier zu einer Zurschaustellung Prozessbeteiligter außerhalb des geschützten Kosmos eines Gerichtssaals. Die Partei, die sich zu Einzelheiten ihres Rechtsstreits, nicht selten von sehr persönlichem Charakter, äußern muss, weiß nicht, ob im Übertragungsraum jemand zuschaut und mithört, ggf. wer ihrer (mehr oder weniger glückenden) Performance folgt. Vielleicht der böse Nachbar, die missgünstige Ex, der Reporter vom Lokalblatt? Dies kann die Unbefangenheit der Äußerung und damit Sachaufklärung wie Rechtsfindung entscheidend beeinträchtigen.
Rechtliche Bewertung
Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung verlangt nicht, dass sie vor einem unüberschaubaren Publikum stattzufinden hat. Ihr Sinn besteht darin, eine Kontrolle der Rechtsprechung durch Unbeteiligte zu ermöglichen. Es soll keine Geheimjustiz geben, sondern eine Gerichtsbarkeit der offenen Tür. Jedermann soll sich jederzeit davon überzeugen können, dass vor Gericht rechtsstaatlich verhandelt wird. Es gibt aber keinen Anspruch des Einzelnen, jeder ihn interessierenden Gerichtsverhandlung beiwohnen zu können, erst recht nicht, dies inkognito zu tun (oder gar von zu Hause aus am Bildschirm).
Eine derartige Ausweitung des Öffentlichkeitsgrundsatzes stünde auch mit dem Recht am eigenen Bild in Widerspruch, einer Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Es macht einen Unterschied, ob ein Prozessgeschehen von einem anwesenden Zuschauer wahrgenommen wird oder ob er das von einer Kamera aufgenommene Porträt eines Prozessbeteiligten auf einem Bildschirm, u.U. in Großaufnahme samt Mimik und körpersprachlichen Signalen, betrachten kann.
Bisher war anerkannt, dass den Besuchern von Verhandlungen, zu denen Beteiligte per Video zugeschaltet werden, nur die Ton-, nicht auch die Bildübertragung zugänglich gemacht werden muss. Bei vollvirtuellen Verhandlungen, bei denen auch die Richter nicht mehr im Gerichtssaal anwesend sind, wäre das keine Lösung, denn von einer ausschließlich akustisch wahrnehmbaren Verhandlung kann sich der Vertreter der Öffentlichkeit (im wahrsten Sinne des Wortes) kein Bild machen. Daraus ist aber nicht der Schluss zu ziehen, dass er zum – jedenfalls passiven – Teilnehmer der Videokonferenz gemacht werden muss. Der richtige Schluss lautet dagegen: Eine solche Verhandlung darf es nicht geben. Das Gericht muss in einem öffentlich zugänglichen Raum verhandeln. Dies muss ja nicht der große Sitzungssaal sein. Es genügt ein Besprechungszimmer mit Richtertisch samt Übertragungsequipment und ein paar Stühlen für (potentielle) Zuhörer.
Nur auf diese Weise können die Vorsitzenden auch ihrer Verantwortung für den ordnungsgemäßen Ablauf der Verhandlung gerecht werden. Anwesende Repräsentanten der Öffentlichkeit sind Bestandteil des Verhandlungssettings, die „Sitzungsgewalt“ des Vorsitzenden erstreckt sich auf sie. So kann (und muss) er z.B. gegen das Anfertigen von Bild- oder Tonaufnahmen oder das Versenden von Nachrichten aus dem Sitzungssaal einschreiten; es kann auch für die Beweiswürdigung einer Zeugenaussage von Bedeutung sein, wenn der Zeuge, vom Richter unerkannt, den bisherigen Verhandlungsablauf im Übertragungsraum beobachten konnte. Die Möglichkeit, den Übertragungsraum von einem Gerichtswachtmeister beaufsichtigen zu lassen, ruft nicht nur personelle Probleme hervor, sie bietet auch keinen vollwertigen Ersatz für die richterliche Verhandlungsleitung.
Man könnte durchaus darüber diskutieren, ob der aus dem 19. Jahrhundert stammende Öffentlichkeitsgrundsatz mit den heutigen Wertungen von Persönlichkeits- und Datenschutz noch vereinbar ist oder ob die Öffentlichkeit der Verhandlung besser in die Disposition der Parteien gestellt werden sollte. Solange er aber in § 169 GVG normiert und in § 547 Nr. 5 ZPO seine Verletzung sogar zum absoluten Revisionsgrund erhoben wird, muss er beachtet werden. Dann gilt aber auch das Verbot von Bildübertragungen nach § 169 Abs. 1 Satz 2 GVG. Selbst in einen Arbeitsraum für Medienvertreter darf nach Satz 3 der genannten Vorschrift nur der Ton übertragen werden. Die Übertragung in einen allgemein zugänglichen Raum, wie sie der neue § 16 Abs. 4 EGZPO probeweise zulassen will, verstößt gegen diese grundlegenden Wertungen. Sie sollten nicht über Bord geworfen werden, nur um den Richtern das Erscheinen in einem mit offener Tür ausgestatteten Raum des Gerichts zu ersparen.
Public Viewing ist ein beliebtes Format bei der Übertragung von Fußballmeisterschaften. Für Gerichtsverhandlungen passt es nicht.
Autor
Prof. Dr. Reinhard Greger
FB Rechtswissenschaft Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Univ.-Prof. i.R., Richter am BGH a.D.
regreg@t-online.de
www.reinhard-greger.de


