e-Justice ist eine Publikation der Produktfamilie Deutscher AnwaltSpiegel

e-Justice ist eine Publikation der Produktfamilie Deutscher AnwaltSpiegel

Aktuelle Ausgabe

Digitale Justiz im Fokus

Artikel anhören
Artikel zusammenfassen
Teilen auf LinkedIn
Teilen per Mail
URL kopieren
Drucken

Die digitale Transformation im Justizwesen bringt weltweit tiefgreifende Veränderungen mit sich, die darauf abzielen, Effizienz, Transparenz und den Zugang zu rechtlichen Prozessen zu verbessern. Vor dem Hintergrund der damit verbundenen Potentiale und Herausforderungen trafen sich Delegationen aus Deutschland und der Ukraine zu einem rechtsvergleichenden ­Dialog, der im Rahmen eines mehrtägigen Workshops an der Technischen Hochschule Köln stattfand. Ziel war es, wertvolle Impulse für die Weiterentwicklung der Digitalisierung des jeweils eigenen Justizsystems zu erhalten und von den wechselseitigen Erfahrungen zu profitieren. Im Fokus des ersten von drei geplanten Workshops stand der Status quo der Justizdigitalisierung, namentlich die ­Implementierung elektronischer Gerichtsakten, der Einsatz von Videokonferenzsoftware zur Durchführung von Gerichtsverhandlungen sowie die Einsatzmöglichkeiten von künstlicher Intelligenz (KI).

Ukraine: Aktueller Stand der Justizdigitalisierung

Im Jahr 2017 begann die Ukraine mit der Einführung verschiedener elektronischer Instrumente, um das Justizwesen effizienter zu gestalten. Einige dieser ­Instrumente wurden durch die ukrainische Delegation vorgestellt; teilweise gehen diese deutlich über das hinaus, was im Bereich E-Justice in Deutschland technisch und rechtlich möglich ist.

Dr. Oleksandra Yanovska, Richterin am ukrainischen Supreme Court, stellte das umfassende Unified ­Judiciary Information Telecommunication System (UJITS) vor, welches als integrales Element der Justizdigitalisierung fungiert und aus mehreren Subsystemen wie „E-Cabinet“ und „E-Court“ besteht. Diese Module verhelfen zu einer effizienten und transparenten Verfahrensführung und bieten den elektronischen Austausch von Dokumenten und den Zugang zu Gerichtsentscheidungen in Echtzeit. Das Videokonferenzsubsystem ermöglicht Fern­verhandlungen und sorgt für Video- und Audioaufnahmen während der Verhandlungen. Wenngleich die praktische Handhabung schon weitgehend reibungslos verläuft, verbleiben in diesem Kontext auch noch offene Fragen, etwa unter welchen Voraussetzungen digitale Beweis­mittel anerkannt werden können, um die Integrität der Verfahren und deren Verfassungsmäßigkeit zu wahren. Ein weiterer Vortrag, diesmal von Dr. Daria Bohatchuk, gab praktische Einblicke in die tatsächliche Nutzung der Justizsoftware und widmete sich der Frage, unter welchen Voraussetzungen die Richterschaft KI-Systeme einsetzen darf. Dr. Andrii Koshman ging auf die Herausforderungen für das Justizsystem angesichts der Coronapandemie und des russischen Angriffskriegs ein. Vor diesem Hintergrund warf Prof. Dr. Volodymyr Venher einen verfassungsrechtlich-kritischen Blick auf die Digitalisierung der ukrainischen Justiz; es müsse darauf geachtet werden, dass alle Digitalisierungsmaßnahmen auf ausreichenden Rechtsgrundlagen ergingen.

Denn in der Praxis seien in der Ukraine schon eine erhebliche Zahl an digitalen Verfahren und Verfahrensarten zu verzeichnen. So ist das „iCase“-System ein bedeutender Fortschritt in der Automatisierung der Voruntersuchungsprozesse in Strafverfahren, indem es Verfahrensmaterialien erstellt, speichert und überträgt. Durch die effizientere Bearbeitung der Fälle durch verschiedene staatliche Stellen (etwa Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte) werden die Kosten- und Zeitaufwände gesenkt, Fehler reduziert und eine einheitliche digitale Arbeitsumgebung geschaffen. Es verfügt über eine umfassende Sicherheitsstruktur, die Schutz vor unbefugtem Zugriff gewährleisten soll. 97% der über „iCase“ eingereichten Anträge sind erfolgreich bearbeitet worden.

Die App „Diia“ ermöglicht als zentrale Plattform Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu digitalen Diensten und stellt staatliche Dokumente und Services bereit, ­damit die Interaktion mit staatlichen Institutionen erleichtert wird. Ein potentielles Risiko betrifft dabei natürlich den Schutz dieser personenbezogenen Daten, was insbesondere angesichts der hybriden Kriegsführung durch Russland, die auch Cyberangriffe beinhaltet, von besonderer Relevanz ist.

Ruslan Sydorovych, ehemaliges Parlamentsmitglied und Mitglied der „High Qualification Commission of Judges of Ukraine“ sprach darüber, wie digitale Innovationen in der Justizverwaltung den Zugang zum Recht und zur Justiz angesichts des Richtermangels verbessern können. So führe die Einführung digitalisierter Bewerbungs- und Auswahlverfahren für Richterkandidaten zu einer erheb­lichen Steigerung von Effizienz und Transparenz. Dadurch solle der menschliche Fehlerfaktor minimiert, Unterlagen präziser geprüft und das Vertrauen in die Justiz gestärkt werden.

Rasim Babanly, Erster Stellvertreter des Stabschefs des ­ukrainischen Supreme Court, führte aus, dass in der ­Ukraine grundsätzlich alle Gerichtsurteile in anonymisierter Form innerhalb von 24 Stunden veröffentlicht und mit einem KI-gestützten Suchtool kombiniert werden, welches eine Analyse bestimmter Rechtsfragen und einen Vergleich der Urteile ermöglicht.

Deutschland: Digitale Justiz zwischen Innovation und Verfassungstreue

Die deutsche Delegation stellte die umfassenden Digitalisierungsbestrebungen in Deutschland dar.

Dr. David Stadermann, Richter am Verwaltungsgericht in Hamburg, wandte sich den verfassungsrechtlichen ­Anforderungen zu, die an Onlineverhandlungen zu ­stellen sind. Dies betrifft insbesondere die Wahrung des Rechts auf rechtliches Gehör, das in Art. 103 Abs. 1 GG verankert und fundamental im Rechtsstaat ist. In digitalen Verhandlungen ist die Gleichzeitigkeit von Bild und Ton aller Beteiligten sicherzustellen. Videoaufnahmen finden dagegen nicht statt. Für Aufsehen hatten Entscheidungen des Bundesfinanzhofs gesorgt, die darauf hinweisen, dass ein Verstoß gegen die Sicht- und Hörbarkeit aller Verfahrensbeteiligten in jedem Zeitpunkt eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör darstellen könne.

Mit dem Einsatz von Legal Tech in der Justiz beschäftigte sich Prof. Dr. Christian Piroutek (Hochschule Stralsund). KI-basierte Systeme wie OLGA (Oberlandesgerichts-Assistenz) und FRAUKE (Frankfurter Urteils-Konfigurator Elektronisch), die für Massenklagen entwickelt worden sind, zeigen, wie KI Richter durch die Automatisierung repetitiver Aufgaben unterstützt, große Datenmengen effizient analysiert und so die Effizienz des gesamten Verfahrens steigert. Prof. Dr. Piroutek betonte hinsichtlich der Implementierung von generativer KI die Notwendigkeit, den Einsatz auf Assistenzfunktionen zu beschränken, um die richterliche Unabhängigkeit nicht zu gefährden, und warnte vor Datenschutzrisiken, wenngleich ein Anonymisierungsprozess stattfand. In Deutschland werden nur ausgewählte Urteile anonymisiert veröffentlicht, während viele nicht zugänglich gemacht werden. Dies erschwert die Schulung von KI-Programmen, da umfangreiche Datenmengen fehlen und der Trainingsprozess somit zeitaufwendig ist.

Dr. Daniel Lübcke, Richter am OLG Köln, bot ­einen Einblick in die in Nordrhein-Westfalen genutzte ­elektronischen Gerichtsakte e²A, die sich durch eine hohe Benutzerfreundlichkeit und einen fortschrittlichen Entwicklungsstand auszeichnet. Ein automatischer ­Zugriff für Dritte in das System wird nicht gewährt, vielmehr ­findet ein Informationsaustausch statt, also das Ver­senden elektronischer Dokumente, um die IT-Sicherheit zu ­gewährleisten.

Dr. Ingo Werner, Vizepräsident des LG Aachen, stellte mit Geschäftsverteilungssystem „Justitia“ eine IT-Anwendung vor, die schon im Echtbetrieb im Einsatz ist und eine automatisierte und gerechte Verteilung von Fällen innerhalb der Gerichte basierend auf der Arbeitslast und Fallgewichtung ermöglicht. Die für die Geschäftsverteilung maßgeblichen Zuteilungssummen werden durch eine algorithmisch gestützte Berechnung ermittelt, um die Transparenz und die Effizienz des Verfahrens zu erhöhen. Zudem trägt das System zur Wahrung des Rechts auf ­einen gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 GG bei.

Rechtsvergleich

Beide Delegationen identifizieren im Rahmen der jeweiligen Vorträge und den anschließenden Diskussionen nicht nur Erfolge, sondern auch ähnliche Herausforderungen (Performanz und Zuverlässigkeit der IT-Systeme; Nutzerfreundlichkeit für alle Verfahrensbeteiligte und Sicherstellung der richterlichen Entscheidungsfreiheit und Unabhängigkeit).

Als unitarische Republik weist die Ukraine eine zentralisierte Struktur auf, bei der Entscheidungsfindungen zur Einführung neuer Technologien zentral stattfinden und eine landesweite Umsetzung erfahren. Dies kann vor dem Hintergrund der schieren Größe und dem Bedürfnis nach standardisierten Lösungen zu einer Prozessverlangsamung führen. Dennoch ist die Ukraine in bestimmten Bereichen – etwa der umfassenden Zurverfügungstellung von anonymisierten Gerichtsentscheidungen – fort­geschrittener als Deutschland.

Im Vergleich dazu führt Deutschlands föderale Struktur mit den unterschiedlichen Interessen der Bundesländer einerseits zu einer teils fragmentierten Einführung von Technologien und birgt die Gefahr paralleler Entwicklungen, andererseits ermöglicht sie eine breite Koordination (so auch das in der Praxis geübte „Einer für alle“-Prinzip) und den Austausch von Innovationen zwischen den Ländern, was zu langfristigen Synergieeffekten führt.

Fazit und Ausblick

Der rechtsvergleichende Dialog zwischen der deutschen und ukrainischen Delegation verdeutlicht, dass die Justizdigitalisierung sowohl technische als auch rechtliche und gesellschaftliche Implikationen hat. Die Ukraine hat trotz der schweren Bedingungen durch den andauernden Krieg bemerkenswerte Fortschritte in der Implementierung und Nutzung digitaler Systeme erzielt. Auch in Deutschland geht die Digitalisierung der Justiz in großen Schritten ­voran.

Der hier angestoßene Austausch bietet beiden Ländern die Gelegenheit, ihre digitalen Justizansätze zu optimieren: Eine kontinuierliche und vertiefte Kooperation ist essenziell, um die Digitalisierung voranzutreiben und eine leistungsfähigere sowie nachhaltig bürgerorientierte digitale Justiz zu gewährleisten.

Dies lädt zu einem Blick in die Zukunft ein: Die Bereiche Legal Tech und E-Justice sind genauso schnelllebig wie die entsprechende technologische Entwicklung. Auch im Jahr 2025 wird künstliche Intelligenz eines der dominanten Fokusthemen sein. Dabei wird es insbesondere um die Frage gehen, ob und – wenn ja, welche – KI-­Programme in der Justiz eingesetzt werden sollen. Im Anschluss ­müsste sodann die Frage beantwortet werden, wie – auch und gerade in der Justiz – die von der europäischen KI-Verordnung geforderte KI-Kompetenz geschaffen werden kann. Klar ist: Digitalisierungsthemen sind in der Justiz angekommen. Dies zeigt auch die vor gut zweieinhalb Jahren von dem Verfasser Heetkamp mitgegründete ­„digitale richterschaft“, die eine Austauschplattform zu

Digitalisierungsthemen und Innovationsprozessen in der ­Justiz ist. Die „digitale richterschaft“ hat mittlerweile über 1.100 Personen aus Justiz, Anwaltschaft und vielen weiteren Bereichen auf ihrer Mailingliste (mehr Informationen unter: www.digitale-richterschaft.de). Die monat­lichen Onlinevorträge widmen sich aktuellen Digitalisierungsthemen – beispielhaft seien aus den letzten Monaten ­genannt: MAKI (KI-Programm aus Niedersachsen); die KI-Verordnung nebst ihren Auswirkungen auf die Justiz und eine Diskussionsveranstaltung zur genauen Aus­gestaltung von Verfahren nach § 128a ZPO.

Autor

Prof. Dr. Simon J. Heetkamp, LL.M.
Fakultät für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften,
Institut für Versicherungswesen, Technische Hochschule Köln
simon.heetkamp@th-koeln.de
www.th-koeln.de

Prof. Dr. Simon J. Heetkamp, LL.M.
Fakultät für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften,
Institut für Versicherungswesen, Technische Hochschule Köln
imon.heetkamp@th-koeln.de
www.th-koeln.de

Autor

Julia Bubarew
Technische Hochschule Köln
Studentische Hilfskraft

Julia Bubarew
Technische Hochschule Köln
Studentische Hilfskraft