Die Justiz steht vor einer Richtungsentscheidung: Digitalisierung, Automatisierung und künstliche Intelligenz (KI) eröffnen immense Potentiale für eine modernisierte Rechtsprechung – doch die Transformation ist anspruchsvoll. Der 3. Digital Justice Summit, der am 25. und 26.11.2024 im Hotel de Rome in Berlin unter der Organisation von Wegweiser Media & Conferences GmbH stattfand, bot eine Plattform für richtungsweisende Diskussionen, Best Practices und visionäre Ansätze. Experten und Expertinnen aus Justiz, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft beleuchteten in 23 Sessions die aktuellen Herausforderungen und Perspektiven einer sich wandelnden Justizlandschaft.
Im Mittelpunkt des Summits stand die Frage: Wie gestalten wir ein Justizsystem, das den Anforderungen der digitalen Gegenwart und Zukunft gerecht wird? Mit der rasanten Entwicklung von KI rückt diese Technologie zunehmend in den Fokus der Justizakteure. Doch wie kann KI sinnvoll eingesetzt werden, ohne grundlegende Prinzipien wie die richterliche Entscheidungsfreiheit oder das Recht auf einen menschlichen Richter zu gefährden?
Von analog zu digital – eine ambitionierte Herausforderung
„In der Justiz sehen wir oft eine 1:1-Umstellung von analogen Prozessen in digitale Systeme – das ist wenig ambitioniert“, kritisierte Staatssekretär Mathias Weilandt. Während andere Bereiche wie autonomes Fahren oder Smart Cities innovative Vorreiterrollen einnehmen, verharrt die Justiz oft in traditionellen Strukturen. Dennoch zeigen Projekte wie Exelentic, der diesjährige Publikumsliebling des 2. Digital Justice Awards, dass Fortschritte möglich sind.
Der 2. Digital Justice Award
Exelentic setzte sich in diesem Jahr als Publikumsliebling beim Digital Justice Award durch, der innovative Produkte und Dienstleistungen zur Modernisierung und Digitalisierung der Justiz auszeichnet. Nach einer Vorabstimmung der Justizvertretenden auf VdZ.org und einer Jury-Wahl unter den Top 10 wurden die fünf besten Projekte – Allgemeine KI-Richterassistenz, dskrpt, Exelentic, Fair Text und NOTARIUS – zum Live-Pitch auf dem Digital Justice Summit eingeladen. Exelentic überzeugte dabei durchweg und führte das Rennen in allen Phasen an, einschließlich der finalen Publikumswahl.
Das MIGVG-Projekt von Exelentic demonstriert den erfolgreichen Einsatz von Robotic Process Automation (RPA) zur Migration elektronischer Akten in Sachsen. Diese Initiative entlastet Mitarbeitende, steigert die Effizienz und verbessert die Datenqualität – ein Paradebeispiel dafür, wie Automatisierung Monotonie durch Produktivität ersetzt.
Der ethische Drahtseilakt der künstlichen Intelligenz
KI in der Justiz bleibt ein kontroverses Thema. Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert das Recht auf ein faires Verfahren – und impliziert für viele die Unverzichtbarkeit eines menschlichen Richters. KI darf, so der Konsens auf dem Summit, niemals die richterliche Entscheidungsgewalt ersetzen. Sie kann jedoch unterstützend wirken, insbesondere in Bereichen wie der Bearbeitung von Massenverfahren oder der Datenanalyse. Doch in welchem Ausmaß und in welchen Aspekten die Unterstützung bedenkenlos erfolgen kann, ist noch nicht vollends geklärt.
Dr. Felor Badenberg betonte, dass KI „eine realistische Fehlerkultur erfordert“. Algorithmen sind nicht fehlerfrei – ebenso wenig wie Menschen. Doch wenn Fehler transparent gemacht und korrigiert werden können, wird Vertrauen aufgebaut. KI könne so zu einem Werkzeug werden, das Bürgerinnen und Bürgern schnelle und effiziente Antworten liefert, ohne die Qualität der Justiz zu beeinträchtigen, anstatt mit jahrelangen Prozessen Entscheidungen zu verzögern.
Recht auf den gesetzlichen Richter – neu gedacht?
Das Grundgesetz sah bei seiner Verabschiedung 1949 keine Technologien wie KI-Richter voraus. Heute wirft diese Diskrepanz grundlegende Fragen auf: Können maschinelle Entscheidungen im Einklang mit dem Rechtsstaat stehen? Ist die Einführung eines „virtuellen Gerichtssaals“ eine realistische Vision?
Ellen Lefley von JUSTICE in Großbritannien verwies auf den Post-Office-Skandal, bei dem fehlerhafte Computersysteme fälschlicherweise Hunderte Menschen belasteten. Sie mahnte: „Technologie kann irren. Sie darf nie die Grundlage für willkürliche Entscheidungen werden.“ Gleichzeitig betonten sie und ihre Panelkollegen, dass KI bestehende Ungleichheiten abmildern könne – etwa durch den Abbau von Bias oder die Förderung der Waffengleichheit vor Gericht.
Digitalisierung in Kanzleien: Herausforderungen und Fortschritte
Eine bedeutende Schnittstelle zwischen Justiz und Gesellschaft sind die Kanzleien. Laut eigener Angaben sehen sich mehr als die Hälfte der Kanzleien bereits als erfolgreich digital transformiert. Viele nutzen KI-basierte Lösungen, um Arbeitsprozesse zu optimieren und Routineaufgaben zu automatisieren. Doch so viel Potential die Technologie auch bietet, die Kanzlei als physischer Ort bleibt vorerst unersetzlich. Virtuelle Kanzleien sind aus rechtlichen Gründen nicht möglich, da Anwälte und Anwältinnen für amtliche Dokumente physisch erreichbar sein müssen. Dennoch scheint das Ziel einer weitgehend digitalen Kanzlei greifbar nah.
Besonders für kleinere und mittelständische Kanzleien bleibt die Digitalisierung jedoch eine Herausforderung – nicht aus Unwillen, sondern aus Realität: Zeit- und Ressourcenmangel erschweren es, neben dem Tagesgeschäft größere Innovationsprojekte zu stemmen. Der Weg zur Beschaffung neuer Technologien ist oft lang und kompliziert, von Haushaltsplänen bis zu Vergabeprozessen.
Daten: Der ungenutzte Schatz der Justiz
Einer der zentralen Diskussionspunkte des Summits war der enorme Datenschatz, auf dem die Justiz sitzt. Tausende Urteile, Nachrichten und Dokumente liegen brach und könnten genutzt werden, um KI-Modelle zu trainieren und Prozesse zu optimieren. Doch der Weg dorthin ist lang: Standards für Datenqualität, Datenschutzvorgaben und eine klare rechtliche Rahmensetzung sind essentiell.
Dr. Dirk Staudenmeyer von der Europäischen Kommission betonte in diesem Zusammenhang die Bedeutung des EU AI Act, der einen risikobasierten Ansatz verfolgt. „Die Anforderungen sind hoch, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen“, so Staudenmeyer. Doch nur durch klare Regeln lasse sich eine vertrauenswürdige Nutzung von KI gewährleisten.
Justiz der Zukunft – ein iterativer Prozess
„Innovation hört nie auf – sie ist ein permanenter Beta-Zustand“, wie im Panel zu Justice Operations treffend zusammengefasst wurde. Die Justiz benötigt Mut, Neues auszuprobieren, und den Willen, sich anzupassen. Projekte wie OLGA in Baden-Württemberg, das auf spezifische KI-Anwendungen setzt, zeigen, dass Fortschritt auch in Nischen möglich ist.
Die Justiz kann jedoch nicht isoliert agieren. Sie muss auf die Expertise der Wirtschaft zurückgreifen, technische Standards setzen und gleichzeitig den Zugang zu Gerechtigkeit für alle gewährleisten.
Mindset und Werte: Der Schlüssel zur Transformation
Eines der größten Missverständnisse rund um die Digitalisierung ist die Annahme, dass sie bestehende Probleme automatisch löst. Tatsächlich erfordert sie jedoch einen tiefgreifenden Wandel – nicht nur technisch, sondern auch kulturell. Die Bereitschaft zur Veränderung ist in der Justiz durchaus vorhanden, doch hohe Erwartungshaltungen an KI und digitale Lösungen führen oft zu Frustration, wenn diese nicht sofort erfüllt werden. Iteratives Arbeiten, kontinuierliches Lernen und die Einbettung der neuen Technologien in bestehende Prozesse sind daher essentiell.
Die Justiz steht außerdem im Spannungsfeld zwischen Effizienz und Rechtsstaatlichkeit. Während in der Privatwirtschaft Effizienzsteigerung und Kostensenkung im Fokus stehen, muss die Justiz primär die Werte eines demokratischen Rechtsstaats sichern. Hier geht es nicht nur um Zahlen, sondern um die Frage, wie Technik eingesetzt werden kann, ohne grundlegende Prinzipien zu gefährden.
Fazit: Innovation als harte Arbeit
Die digitale Transformation der Justiz ist ein langer, komplexer Prozess, der jedoch enormes Potential birgt. Sie erfordert strategische Planung, die Einbindung aller Beteiligten und den Mut, neue Wege zu gehen. Innovation ist keine bequeme Aufgabe, sondern harte Arbeit – doch sie ist notwendig, um die Justiz fit für die Zukunft zu machen. Der Datenschatz der Justiz kann nur dann voll ausgeschöpft werden, wenn Technologie, Prozesse und Menschen in Einklang gebracht werden. Die Chancen stehen gut, doch die Herausforderungen dürfen nicht unterschätzt werden.
Ein Blick nach vorn
Der 3. Digital Justice Summit zeigte eindrucksvoll, dass die Digitalisierung der Justiz sowohl immense Chancen als auch erhebliche Herausforderungen mit sich bringt. Bis zum nächsten Summit, der vom 24. bis 25.11.2025 stattfindet, werden neue Projekte entstehen, alte Debatten weitergeführt und vielleicht eine Welle KI-gestützter Anwendungen Einzug in die Justiz finden. Die Revolution hat begonnen – nun gilt es, sie mit Bedacht zu gestalten.
Autor
Anna-Janina Stöhr
Wegweiser Media & Conferences GmbH
Division II: Research & Content
Redakteurin
anna-janina.stoehr@wegweiser.de
www.wegweiser.de


