Der Beginn des neuen Jahres stand ganz im Zeichen der mentalen Gesundheit. So trotzten neun Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Task Force „Lawyer Well-Being“ beim Bundesverband der Wirtschaftskanzleien in Deutschland (BWD) einem der längsten Bahnstreiks der Geschichte, um sich am 23. und 24.01.2024 unter der Leitung von Stefanie Müller, M.A. (Menold Bezler), Sebastian Schüßler (Rödl & Partner) und Dr. Jo Aschenbrenner (Rechtsanwältin, selbständige Coachin) in Nürnberg diesem Thema zu widmen.
Mentale Gesundheit in der Rechtsbranche – braucht man das?
Mal ehrlich, wem kam bei „Lawyer Well-Being“ nicht zuerst der Gedanke: „Klingt nach Wellness für Anwälte! Brauchen wir das wirklich? Ist es schon so weit gekommen?“
Tatsächlich dürfte sich diese Frage für den überwiegenden Teil von Mitarbeitenden der Rechtsbranche stellen, da sich das Thema „mentale oder auch psychische Gesundheit“ vor allem in diesem Bereich meist unter dem Siegel der Verschwiegenheit verbirgt. Der Idealtypus eines Anwalts bzw. einer Anwältin ist doch – so scheint es teilweise noch verbreitet zu sein – der Fels in der Brandung, der möglichst rund um die Uhr für die Mandanten „die Kuh vom Eis holt“, um sie vorm Ertrinken und somit vor dem Untergang zu bewahren. Der Druck ist also groß! Die digitalen Medien, die den Arbeitsalltag in vielerlei Hinsicht deutlich einfacher gemacht haben, sind nicht nur Segen, sondern auch Fluch. Meeting reiht sich an Meeting – dank Kamera und virtuellen Konferenzräumen lassen sich – um im Bilde zu bleiben – in kürzester Zeit weitere „Kühe retten“, und das möglichst parallel, damit die Stundenvorgaben eingehalten und wenn möglich noch übertroffen werden können.
Diese Umstände werden in der Regel begleitet durch eine perfektionistische Denkhaltung, extrem hohe Ansprüche an sich selbst neben einem hohen Leistungsdruck und einem ausgeprägten Konkurrenzdenken. Die Grundsteine dafür werden bereits im Studium gelegt, in dem ein enormes Lernpensum bewältigt werden muss, begleitet von dem Wissen, dass die Note des Examens vermeintlich über den weiteren Lebensweg entscheidet.
Kann das auf Dauer gutgehen?
Laut dem Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse von 2022 ist die Anzahl der Fehlzeiten aufgrund psychischer- und Verhaltensstörungen seit dem Jahre 2000 um gut 120% gestiegen. Die Kurve geht also steil nach oben, Tendenz: weiter zunehmend.
Dazu passt die vielbeachtete Studie „The Silent Epidemic: Well-Being and Personal Health of Legal Professionals in Times of Digital Transformation and Social Change“ (2021) des Liquid Legal Institute, eines juristischen Think-Tanks, der sich in Deutschland des Themas Lawyer Well-Being angenommen hat. Danach gaben über 70% der Befragten an, im Laufe ihrer bisherigen Berufslaufbahn mindestens einmal psychische Probleme gehabt zu haben. Ebenso viele gaben an, mehrere Kolleginnen und Kollegen zu kennen, die psychische Probleme haben. Über 80% der Befragten stimmten zu, dass psychische Erkrankungen in der Rechtsbranche stigmatisiert werden und dass das Thema deutlich mehr Beachtung braucht.
Psychische Gesundheit ist – laut WHO – ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann. Psychische Störungen stellen Störungen der psychischen Gesundheit dar, die oft durch eine Kombination von belastenden Gedanken, Emotionen, Verhaltensweisen und Beziehungen zu anderen gekennzeichnet sind.
Über 70% der im Rahmen der Studie Befragten geben an, beruflich bedingt zumindest einmal psychische Probleme gehabt zu haben. Sie befanden sich damit nicht in einem Zustand, in dem sie ihre Fähigkeiten ausschöpfen und produktiv arbeiten konnten. Das zeigt ein enormes Potential, das einfach so verlorengeht, was sich – bedingt durch mitunter lange Abwesenheitszeiten und/oder berufliche Wechsel – entsprechend negativ auf die Leistung der gesamten Kanzlei oder des Unternehmens auswirkt.
War for Talents – attraktiv durch innovative Ideen!
Dass Fachkräfte Innovation und Wettbewerbsfähigkeit sichern und für Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand sorgen, ist längst kein Geheimnis mehr. Gleiches gilt wohl für den Umstand, dass in der Branche alle auf der Suche nach qualifizierten Bewerbern sind, um genau diese Parameter im Rahmen des „Kanzlei-Mikrokosmos“ zu erreichen. Dabei müssen sich die zukünftigen Arbeitgeber etwas einfallen lassen, um den jungen Talenten etwas „anbieten“ zu können. Die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens oder der flexiblen Arbeitszeiten sind dabei längst kein Anreiz mehr, sondern werden seitens der Bewerber schlicht vorausgesetzt.
Vielmehr zählen mittlerweile andere Parameter: Einer azur-Bewerberumfrage aus dem Jahre 2020 zufolge gaben mehr als ein Drittel der teilnehmenden Nachwuchsjuristen an, dass ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fast ebenso wichtig ist wie das Betriebsklima. Daneben wird erwartet, dass sich der zukünftige Arbeitgeber mit „Mental Health“-Themen auseinandergesetzt und diesbezüglich eine Kultur geschaffen hat, die in der Praxis auch entsprechend gelebt wird – ohne Einschränkung sämtlicher Möglichkeiten, die eine juristische Karriere beim potentiellen Arbeitgeber bereithält. Die Ansprüche haben sich also geändert, und tatsächlich reagieren erste Kanzleien und Unternehmen auf die Entwicklung: Nachrichten von Programmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, vom Fehlen von Stundenvorgaben oder von veränderten Parametern der Leistungsbewertung geistern durch den Markt. Health Awards werden angestrebt und „Well-Being-Manager“ etabliert.
Es wird Zeit, das Siegel der Verschwiegenheit (weiter) zu brechen!
Im Rahmen der Tagung ist uns eines klar geworden: Es wird Zeit, das Siegel der Verschwiegenheit zu brechen und das Thema mentale Gesundheit weiter in den Fokus zu rücken, um damit ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es hier um nicht weniger geht als die Zukunftsfähigkeit der Mitgliedskanzleien.
Zusammen mit Dr. Jo Aschenbrenner und ihrem „Modell der Multiperspektiven“ haben wir die verschiedenen Ebenen der Zuständigkeiten näher beleuchtet:
- UNTERNEHMENS-Ebene – „Corporate Health“: Aufgabe des Managements wird es sein, die Auswirkungen festzustellen, die Prozesse, Hierarchien und die Unternehmenskultur auf die Gesundheit der Organisation haben. Moderne Strukturen und Prozesse (HR, Vergütung, Leistungsbewertung & Co.) gilt es zu definieren und umzusetzen bzw. anzupassen. Darüber hinaus ist neben der Etablierung bedarfsgerechter Angebote in den Bereichen Stressmanagement und körperliche Gesundheit eine Umgebung zu schaffen, die ein gutes Miteinander von Familie und Beruf ermöglicht.Ein „Monsterprojekt“, das sich aber am Ende auszahlt: Nach dem Bericht von DeNeve & Ward, „Measuring Workplace Wellbeing“ aus 2023, verzeichnen die 100 führenden Unternehmen nach dem Wellbeing-Index tatsächlich eine höhere Marktperformance gegenüber Unternehmen aus S&P 500, Nasdaq und Dow Jones.
- WIR-Ebene – „Human Centered Leadership“: Aufgabe der Führungskräfte wird sein, die Rolle von Leadership für Resilienz und mentale Gesundheit in Arbeitsbeziehungen herauszuarbeiten und zu prägen. Ein zentraler Aspekt wird der Umgang mit mentaler Gesundheit im Zusammenspiel mit der jeweiligen Performance sein.Zahlreiche Studien belegen, dass positive Führung einen positiven Einfluss auf die Grundstimmung der Mitarbeitenden hat. Stress und Burn-out werden reduziert, die Gesundheit, Arbeitszufriedenheit und auch die Leistung werden gefördert (vgl. Markus Ebner, Positive Leadership, siehe z.B. hier).
- ICH-Ebene – „Lawyer Well-Being“: Jede Person selbst hat sich mit dem eigenen Leistungsanspruch und gesundheitsfördernden Verhaltensweisen auseinanderzusetzen. Dazu gehört das Erlernen von Achtsamkeit und Selbstfürsorge sowie der Umgang mit dem sogenannten Impostor-Syndrom, bei dem Menschen der Überzeugung sind, trotz offensichtlicher Beweise für ihre Fähigkeiten, dass sie sich den Erfolg erschlichen und nicht verdient haben, sowie dem Workaholic-Syndrom, bei dem es zu übermäßigem und unkontrolliertem Arbeiten kommt, so dass alles andere (Freizeitgestaltung, Beziehungen) in den Hintergrund gerät.
Das Thema mentale Gesundheit hat also nicht im Ansatz etwas mit Wellness zu tun. Um dies weiter zu verdeutlichen, hat sich die Task Force dazu entschlossen, ihren Namen in „Sustainable Performance“ anzupassen.
Nun liegt es an uns allen, etwas zu bewegen: Es bedarf jetzt des Engagements und persönlichen Commitments aller Mitglieder des Rechtsmarkts, sich offen für dieses Thema zu zeigen und es zu enttabuisieren. Darüber hinaus bedarf es der Bereitschaft zur Veränderung bestehender Strukturen, Prozesse und Wertungen, um Kanzleien fit und attraktiv für die Zukunft zu machen, damit zukünftig zuverlässig und langfristig „Kühe vom Eis geholt“ werden können.
Hierbei möchte die Task Force „Sustainable Performance“ unterstützen: Die Task Force „Sustainable Performance“ hat ein Ziel vor Augen – die Zukunftsfähigkeit der Mitgliedskanzleien zu stärken. Das bedeutet für uns, die nachhaltige Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden für unsere Mandanten in den Mittelpunkt zu stellen. Mit innovativen Ideen, wissenschaftlich fundierten Konzepten und bedarfsorientierten Angeboten setzen wir uns für die physische und mentale Gesundheit der Mitarbeitenden ein. Durch unsere Arbeit verbessern wir so das Employer Branding der Mitgliedskanzleien, steigern Arbeitszufriedenheit und Retention in den Kanzleien und leisten damit einen wesentlichen Beitrag zum Unternehmenserfolg.
Vielen Dank an die weiteren Teilnehmer und Teilnehmerinnen Janine Weller-Beunings (Heuking Kühn Lüer Wojtek), Caroline Pluta, LL.M. (PLUTA Rechtsanwalts GmbH), Helga Twellbeck (Ashurst LLP), Kristin Flade (CMS) sowie Stefan Rizor, LL.M. (BWD) für den tollen Austausch. Zusammen freuen wir uns auf viele weitere Projekte.
Autor

Mazars Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Frankfurt am Main
Rechtsanwältin, Salary Partner
