Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD ist überschrieben mit „Verantwortung für Deutschland“. Damit kann vieles gemeint sein. Verantwortung für den Schutz von Grund- und Bürgerrechten gehört aber offenkundig nicht dazu. Anders ist die Sammlung von tiefgreifenden Grundrechtsrechtseingriffen, die die Koalition den Innen- und Justizbehörden ermöglichen will, nicht zu erklären. Allein an acht Stellen listet der Koalitionsvertrag die Erweiterung oder sogar völlige Neuschaffung von Überwachungsbefugnissen für Sicherheitsbehörden auf.
Isoliert betrachtet lassen sich vielleicht jeweils nachvollziehbare Gründe für die Einführung der einzelnen Überwachungsmaßnahmen finden. Zusammen betrachtet ergibt sich aber ein verheerendes Bild: Die Koalition plant, die vielen schon vorhandenen gesetzlichen Überwachungskompetenzen massiv zu erweitern. Die „Überwachungslast“, die die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger beschränkt, nimmt damit immer weiter zu. Es ist nicht erkennbar, dass sich die Koalition bemüht, im Sinne einer „Überwachungsgesamtrechnung“ einen Ausgleich zu schaffen und an anderer Stelle Eingriffe in Freiheitsrechte zu reduzieren.
Vorratsdatenspeicherung
„Wir führen eine verhältnismäßige und europa- und verfassungsrechtskonforme dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern ein, um diese einem Anschlussinhaber zuordnen zu können.“
(Koalitionsvertrag, Zeilen 2630 ff.)
Was erst einmal harmlos daherkommt und ausdrücklich „verhältnismäßig“ sein soll, birgt erhebliche rechtliche und politische Risiken. Hier wird nichts anderes als die anlasslose, flächendeckende Vorratsdatenspeicherung sämtlicher IP-Adressen jeglicher Internetkommunikation in Deutschland für einen Zeitraum von drei Monaten angekündigt.
Damit plant die Koalition die Wiedereinführung eines Überwachungsinstruments, das aus guten Gründen bereits mehrfach sowohl vom Bundesverfassungsgericht als auch vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) für verfassungs- beziehungsweise europarechtswidrig erklärt worden ist. An diesem Befund ändert weder die Begrenzung auf nunmehr drei Monate (in der verfassungswidrigen Rechtslage waren es sechs Monate) noch die Begrenzung auf die IP-Adressen etwas. Letztere sollen schließlich ausdrücklich gespeichert werden, um sie einem Anschlussinhaber zuzuordnen. De facto werden also auch hiermit personenbezogene Daten auf Vorrat erhoben – und das von allen Internetnutzern und bei jeder Nutzung.
Richtig ist, dass der EuGH zuletzt in einem Urteil hat anklingen lassen, dass unter engen Voraussetzungen eine IP-Speicherpflicht denkbar sei. Dass das Vorhaben, wie im Koalitionsvertrag umrissen, diesen Anforderungen genügt, muss allerdings insbesondere in Bezug auf die lange Dauer der Speicherung bezweifelt werden. Hinzu kommt: Regierungsvertreter haben auf Nachfragen ausdrücklich erklärt, nicht auf die Entscheidung über eine geplante EU-Richtlinie zu einheitlichen Speichervorgaben innerhalb der EU warten zu wollen, sondern zeitnah eine nationale Regelung vorzulegen. Das bedeutet zum einen, dass auf die Telekommunikationsunternehmen erhebliche organisatorische Herausforderungen zukommen werden, wenn zwei sich möglicherweise in Teilen widersprechende Regelungen kurz hintereinander umgesetzt werden müssen. Und es bedeutet zum anderen doppelte Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten. Bislang hatten weder europäische noch nationale Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung vor Gerichten Bestand.
Entfristung der Telekommunikationsüberwachung
„Unter anderem entfristen wir die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl (…).“
(Koalitionsvertrag, Zeilen 2838 f.)
Diese Maßnahme erhält vor allem Brisanz, wenn man die Genese der derzeitigen Regelung betrachtet. Die Möglichkeit zur Telefonüberwachung bei Wohnungseinbruchsdiebstahl ist von der damaligen schwarz-roten Koalition 2019 eingeführt worden. Damals einigten sich die Regierungspartner auf eine Befristung der Regelung bis Dezember 2024 bei gleichzeitiger Evaluierung der Maßnahme. Der Evaluierungszeitraum fiel jedoch mitten in die Coronapandemie, während der die Zahl der Wohnungseinbrüche drastisch zurückging, da viel mehr Menschen als üblich tagsüber zu Hause waren. Weil eine Evaluierung so keine validen Ergebnisse erbringen konnte, verständigte sich die damalige Ampelkoalition auf eine erneute befristete Verlängerung und eine neue Evaluierung. Auf deren Ergebnis will die neue Koalition aber offenbar nicht warten und agiert bei ihrem Bestreben um Gesetzesverschärfungen deshalb ohne notwendige Faktengrundlage.
Wohnungseinbrüche sind schwerwiegende Delikte mit potentiell traumatisierenden Folgen. Das steht außer Frage. Es sei allerdings daran erinnert: Ermittlungsmaßnahmen nach der Strafprozessordnung (StPO) treffen Tatverdächtige, nicht ausschließlich Täter. Bei der Telefonüberwachung kommt hinzu, dass der jeweilige Telefonpartner bei jedem Telefonat ebenfalls Mitbetroffener des Grundrechtseingriffs ist. Angesichts der Dimension dieses Eingriffs wäre eine gründliche Evaluation der Maßnahme, bevor über eine Entfristung entschieden wird, das rechtstaatlich gebotene Minimum.
Quellen-TKÜ bei Bundespolizei
„Im Rahmen ihrer begrenzten Zuständigkeit ermöglichen wir der Bundespolizei zur Bekämpfung schwerer Straftaten die Quellen-TKÜ ohne Zugriff
auf retrograd gespeicherte Daten.“
(Koalitionsvertrag, Zeilen 2632 ff.)
Ziel der sogenannten Quellen-Telekommunikationsüberwachung ist das Überwachen verschlüsselter Kommunikation, die etwa über Messenger wie WhatsApp oder Signal geführt wird. Das Problematische dabei: Um die Verschlüsselung zu umgehen, wird heimlich eine Überwachungssoftware auf das Endgerät des Nutzers gespielt, die Daten dann bereits an der „Quelle“, also vor der Verschlüsselung, abfängt. Um diese Technik einsetzen zu können, müssen technische Schwachstellen am Endgerät ausgenutzt werden. Damit wiederum fällt der Staat als Akteur für ein effektives Schwachstellenmanagement im Bereich digitaler Endgeräte aus, weil er vielmehr selbst ein Interesse am Bestehen solcher Schwachstellen hat. Das gefährdet letztlich nicht nur den Grundrechts- und Datenschutz der unmittelbar Betroffenen, sondern sämtlicher Nutzerinnen und Nutzer in Deutschland.
Biometrische Gesichtserkennung im öffentlichen Raum
„Für bestimmte Zwecke sollen unsere Sicherheitsbehörden, unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Vorgaben und digitaler Souveränität, (…) den nachträglichen biometrischen Abgleich mit öffentlich zugänglichen Internetdaten, auch mittels Künstlicher Intelligenz, vornehmen können.“
(Koalitionsvertrag, Zeilen 2633 ff.)
Die biometrische Internetauswertung, die buchstäblich jedes Bild einer Person, das irgendwann irgendwo ins Internet gestellt worden ist, auswerten kann, gelangte rund um die Festnahme der früheren RAF-Terroristin Daniela Klette in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, nachdem ein investigativer Journalist mit einem Gesichtserkennungsprogramm ältere Fotos von ihr und ihren Tanzgruppen in Berlin im Internet gefunden hatte. Der Bedarf, Ermittlern die Nutzung von Tools zu erlauben, die für Privatpersonen frei zugänglich sind, ist grundsätzlich nachvollziehbar. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass bei der automatisierten Überprüfung einer unbestimmten Anzahl von Bildern potentiell ebenso viele Mitbetroffene dieses Grundrechtseingriffs erzeugt werden. Der Einsatz sollte daher nur mit hohen rechtsstaatlichen Hürden und für Delikte der Schwerstkriminalität erwogen werden. Ob das mit der gewählten Formulierung im Koalitionsvertrag so gemeint ist, ist zweifelhaft.
Automatische Autokennzeichenerfassung
„Wir erlauben zu Strafverfolgungszwecken den Einsatz von automatisierten Kennzeichenlesesystemen im Aufzeichnungsmodus.“
(Koalitionsvertrag, Zeilen 2637 f.)
Die automatisierte Erfassung sämtlicher Autokennzeichen in einem bestimmten Abschnitt bei gleichzeitigem automatisiertem Abgleich mit vorliegenden Fahndungsdateien ist ebenfalls ein wiederkehrendes Thema der Sicherheits- und Justizpolitik. Bereits mehrfach hat das Bundesverfassungsgericht entsprechende Regelungen verschiedener Länder als verfassungswidrig verworfen. Es hat zuletzt 2018 klargestellt, dass auch eine nur kurzzeitige Erfassung sämtlicher Kennzeichen in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung eingreift. Und zwar in die Grundrechte sämtlicher Autofahrenden, die zum jeweiligen Zeitpunkt an einer bestimmten Stelle vorbeifahren. Das unterscheidet diese Art der Erfassung vom sogenannten Blitzer, der Daten nur im Falle einer Geschwindigkeitsübertretung, also anlassbezogen, erfasst. Die Kennzeichenerfassung ist deshalb nach der Rechtsprechung nur innerhalb von engen rechtlichen, zeitlichen und örtlichen Grenzen zulässig. Die offene Formulierung im Koalitionsvertrag lässt Zweifel daran aufkommen, ob die Koalition gewillt sein wird, diese engen verfassungsrechtlichen Grenzen einzuhalten.
Ausweitung Videoüberwachung
„Zur nachträglichen Identifikation von mutmaßlichen Tätern wollen wie [sic] eine Videoüberwachung an Kriminalitätsschwerpunkten.“
(Koalitionsvertrag, Zeilen 2853 ff.)
Es bleibt unklar, ob und welche Befugnisnorm des Bundes hier verändert werden soll. Allgemeine Videoüberwachung im öffentlichen Raum stützt sich im Regelfall auf Befugnisnormen aus dem jeweiligen Gefahrenabwehrrecht der Länder. Der Bund hätte insoweit weder eine gesetzliche noch eine untergesetzliche Regelungskompetenz. So bleibt dieser Satz möglicherweise ein reiner Programmsatz ohne Substanz. Die Stoßrichtung ist allerdings dieselbe wie bei den angekündigten Gesetzesverschärfungen: Es soll zusätzliche Überwachung und damit zusätzliche Eingriffe in Grundrechte aller Bürgerinnen und Bürger geben.
Fazit
In der Gesamtschau ist der Befund leider eindeutig. Das Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit, zwischen Grundrechten und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse wird mit diesem Koalitionsvertrag einseitig zu Lasten der Freiheit und des Grundrechtsschutzes verschoben. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob diese Vorhaben tatsächlich den Deutschen Bundestag passieren. Falls ja, sind Verfassungsbeschwerden nach Karlsruhe zu erwarten. Zumindest dort saßen in den vergangenen Jahrzehnten stabile Hüter der Grundrechte.

