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Aktuelle Ausgabe

Die neuen Commercial Courts

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Mit dem Inkrafttreten des Justizstandort-­Stärkungsgesetzes haben seit Frühjahr 2025 an mehreren Oberlandesgerichten die neuen Commercial Courts ihre Arbeit aufgenommen. Grundlage hierfür ist die neu eingefügte Vorschrift von § 119b Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), die die ­Länder zur Errichtung solcher Commercial Courts ­ermächtigt. Inzwischen gibt es Commercial Courts am OLG Stuttgart, OLG München, OLG Bremen, KG Berlin, OLG Hamburg, OLG Frankfurt am Main und OLG Düsseldorf. Zugleich sind auch – auf der Grundlage von § 184a GVG – an verschiedenen Landgerichten sogenannte ­Commercial Chambers unterschiedlichen Zuschnitts eingerichtet worden.


Mit dem Justizstandort-Stärkungsgesetz verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, die Fähigkeit der staatlichen Gerichte zu verbessern, komplexe Wirtschaftszivilverfahren effektiv zu bewältigen und damit eine geeignete Alternative zur Schiedsgerichtsbarkeit zu bieten, die gerade in derartigen Verfahren nach dem Eindruck vieler Beobachter den staatlichen Gerichten „den Rang abgelaufen“ hatte.


Commercial Court: Oberlandesgericht als Eingangsinstanz


Eine ganz wesentliche gerichtsverfassungsrechtliche Besonderheit der Commercial Courts ist es, dass sie es im ­Rahmen ihrer Zuständigkeit den Parteien ermöglichen, eine Tat­sacheninstanz zu überspringen und den Prozess unmittelbar bei einem Senat am Oberlandesgericht beginnen zu lassen. Diese bewusste Verkürzung des Instanzenzugs erfolgte in Anlehnung an die Schiedsgerichtsbarkeit, als deren Vorteil es häufig angesehen wird, dass sie ohne den mehrstufigen gerichtlichen Instanzenzug auskommt.


Die Zuständigkeit des Commercial Courts in erster Instanz hängt von drei besonderen Voraussetzungen ab: (1) Das Verfahren muss in eine der Sachmaterien fallen, die dem betreffenden Commercial Court vom Landesgesetzgeber aus dem Katalog in § 119b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 GVG zugewiesen worden sind, (2) es muss ein Mindeststreitwert von 500.000 Euro erreicht werden und (3) die Parteien müssen eine Parteivereinbarung dahingehend getroffen haben oder treffen, dass der Commercial Court in erster Instanz zuständig sein soll.


Das Verfahren vor dem Commercial Court weist eine Reihe von Besonderheiten gegenüber einem „normalen“ erst­instanzlichen Verfahren auf. So wird zwingend immer in einer Besetzung mit drei Richtern verhandelt und entschieden. Auf übereinstimmenden Wunsch der Parteien ist das Verfahren zudem auf der Grundlage von § 184a GVG künftig vollständig in englischer Sprache zu führen. Das betrifft alles von den anwaltlichen Schriftsätzen über die münd­liche Verhandlung bis hin zu den gerichtlichen Verfügungen und Entscheidungen. In bewusster Anlehnung an die Schiedsgerichtsbarkeit hat der Gesetzgeber des Weiteren einige besondere Verfahrensvorschriften vorgesehen, namentlich einen verpflichtenden Organisationstermin (§ 612 ZPO), der der Erstellung eines Verfahrenskalenders sowie der Lenkung und Strukturierung des Verfahrens dient, sowie auf Antrag der Parteien die Pflicht des Gerichts zur Erstellung eines mitlesbaren Wortprotokolls der mündlichen Verhandlung (§ 613 ZPO). Eine weitere bemerkenswerte verfahrensrechtliche Besonderheit enthält § 614 ZPO, indem er als Rechtsmittel gegen Urteile der Commercial Courts eine zulassungsfreie Revision zum Bundesgerichtshof vorsieht.


Commercial Chambers als Unterbau


Gewissermaßen als „Unterbau“ zum Commercial Court hat das Justizstandort-Stärkungsgesetz in § 184a ZPO den ­Ländern weiter ermöglicht, an ausgewählten Land­gerichten sogenannte Commercial Chambers einzurichten. Diesen Commercial Chambers können ebenfalls Sachmaterien aus dem Katalog des § 119b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 GVG zugewiesen werden. Das Verfahren wird auf Wunsch der ­Parteien ebenfalls in englischer Sprache geführt; auch die besonderen Verfahrensinstrumente der § 612 f. ZPO finden Anwendung. Der Instanzenzug bei einem Verfahren vor den Commercial Chambers ist der normale dreistufige ­Instanzenzug, wobei die Möglichkeit besteht, dem ­Commercial Court die Zuständigkeit für Berufungen und Beschwerden gegen Entscheidungen der Commercial Chambers zuzuweisen.


Umsetzung in Baden-Württemberg als Beispiel


Konsequent und stringent hat etwa Baden-Württemberg das Justizstandort-Stärkungsgesetz umgesetzt.


Am Oberlandesgericht Stuttgart ist ein aus zwei Senaten bestehender Commercial Court eingerichtet worden. Dabei hat man sich ganz bewusst ausschließlich auf bestimmte Sachmaterien fokussiert, nämlich auf das Gesellschaftsrecht und den Bereich M&A, um die im Interesse der Qualität der Entscheidungen essentielle Spezialisierung des Commercial Courts zu ermöglichen.


Parallel dazu sind am Landgericht Stuttgart Commercial Chambers eingerichtet worden. Diese sind in den gleichen Materien im Rahmen ihrer örtlichen Zuständigkeit ausschließlich und (über 5.000 Euro) streitwertunabhängig zuständig für alle deutsch- und englischsprachigen Fälle in den genannten, dem Commercial Court zugewiesenen Sachmaterien.


Es besteht also eine vollständige Parallelität der erstinstanzlichen Zuständigkeiten von Commercial Chambers und Commercial Court. Gleichzeitig ist eine zweitinstanzliche Zuständigkeit des Commercial Courts für Berufungen und Beschwerden gegen Entscheidungen der Commercial Chambers geschaffen worden. Auf diese Weise kann man sich, wenn in einem Fall die örtliche Zuständigkeit Stuttgart gegeben ist, in den genannten Sachmaterien unabhängig vom Streitwert sicher sein, im gesamten Instanzenzug vor einen spezialisierten Spruchkörper zu gelangen.


Damit reduzieren sich auch ganz maßgeblich etwaige Schwierigkeiten bei einer Parteivereinbarung zugunsten des Commercial Courts als Eingangsinstanz. Soweit der für die erstinstanzliche Zuständigkeit des Commercial Courts erforderliche Mindeststreitwert von 500.000 Euro nicht erreicht werden sollte, kann ergänzend mittels einer ­regulären örtlichen Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten von Stuttgart sichergestellt werden, dass der Fall jedenfalls zu einer spezialisierten Commercial Chamber und mindestens in der Berufungsinstanz zum Commercial Court gelangt. Commercial Court und Commercial Chambers haben auch eine Mustergerichtsstandsvereinbarung entworfen und auf ihrer Homepage www.commercial-court.de als „Stuttgarter Klausel“ zur Verfügung gestellt (siehe hierzu auch den Beitrag in Deutscher AnwaltSpiegel, Ausgabe 17/2025).


Darüber hinaus sind sowohl am Oberlandesgericht als auch am Landgericht Stuttgart diejenigen gesellschaftsrecht­lichen Sachmaterien, die der Bundesgesetzgeber nicht als Commercial-Court-Materien bestimmt hat, im Geschäftsverteilungsplan jenen Spruchkörpern zugewiesen, die als Commercial Chambers beziehungsweise Commercial Court fungieren. In diesen den Spruchkörpern außerhalb ihrer Funktion als Commercial Chamber beziehungsweise Commercial Court zugewiesenen Fällen gibt es dann zwar nicht die Möglichkeit, eine Instanz zu überspringen, und es kommen die besonderen Verfahrensregelungen des Justizstandort-Stärkungsgesetzes nicht zur Anwendung. Aber man hat in Stuttgart ungeachtet dessen, dass der Gesetz­geber bestimmte gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten den Commercial Courts und Commercial Chambers vorenthalten hat, im gesamten Gesellschaftsrecht jedenfalls die Gewähr, vor einen auf die Materie spezialisierten Spruchkörper zu gelangen.


Die schlüssige Umsetzung der Ermächtigung zur Zuweisung von Sachmaterien in Baden-Württemberg wird um weitere Faktoren ergänzt, die das baden-württembergische Modell auszeichnen. Dazu gehört zunächst der Aspekt, dass Baden-Württemberg bereits im Jahre 2020 noch auf der Grundlage des damaligen Rechtszustands sogenannte Commercial Courts am Landgericht Stuttgart und Land­gericht Mannheim eingerichtet hatte, wobei sich der Commercial Court am Landgericht Stuttgart bereits seit 2020 auf die Bereiche Gesellschaftsrecht und M&A spezialisiert hat. Gleichzeitig hat der Commercial Court am Land­gericht Stuttgart schon seit 2020 in geeigneten Großverfahren den nunmehr in § 612 ZPO vorgesehenen Organisationstermin praktiziert und damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Die nunmehr eingerichteten Commercial-Court-Senate und Commercial Chambers, die überwiegend personenidentisch mit dem früheren „Commercial Court“ am Land- und Oberlandesgericht Stuttgart sind, profitieren also ganz maßgeblich sowohl von der gewonnenen fachlichen Erfahrung, auf die mit dem neuen Modell aufgebaut wird, als auch von der Vertrautheit im Umgang mit den neuen Verfahrensinstrumenten.


Baden-Württemberg ist im Übrigen auch das einzige Bundes­land, bei dem im Zuge der Umsetzung des Justizstandort-Stärkungsgesetzes personelle Neustellen in Form von drei Richterstellen am Oberlandesgericht geschaffen wurden, und dies nachdem bereits im Zusammenhang mit der Errichtung des ursprünglichen Modellprojekts „Commercial Court“ im Herbst 2020 drei Neustellen am Land­gericht Stuttgart eingerichtet worden waren. Durch diese Investitionen wird sichergestellt, dass die Spruchkörper im Hinblick auf das zu bewältigende Fallaufkommen in der Lage sind, die hochgesteckten Ziele des Justizstandort-­Stärkungsgesetzes zur Verbesserung der Qualität der staat­lichen Gerichte in komplexen Wirtschaftszivilverfahren zu erfüllen. Abgerundet wird das Ganze dadurch, dass der Commercial Court Baden-Württemberg auch räumlich außerordentlich großzügig ausgestattet ist, sowohl was die Zahl der Sitzungssäle und die damit einhergehende Flexibilität bei der Terminierung als auch was die technische Ausstattung anbelangt.


Zusammenfassung


Mit der Option, das Verfahren gleich in erster Instanz vor einem erfahrenen und auf die Materie spezialisierten OLG-Senat zu führen und damit zugleich eine ganz erhebliche Straffung des Verfahrens zu erreichen, macht das Justiz­standort-Stärkungsgesetz den rechtsuchenden Unternehmen in geeigneten großen Verfahren ein außerordentlich attraktives Angebot. Es resultiert auch daraus, dass man die Commercial Courts in Baden-Württemberg mit einem vollwertigen Unterbau in Form der Commercial Chambers kombiniert. Diese sind in gleicher Weise spezialisiert, und ihre Zuständigkeiten wurden parallel zu denen des Commercial Courts ausgestaltet und um weitere gesellschaftsrechtliche Materien qua Geschäftsverteilungsplan arrondiert. Auf diese Weise schafft man für die Parteien die Sicherheit, in den entsprechenden Materien unabhängig vom Streitwert vor einen spezialisierten und qualifizierten Spruchkörper zu gelangen.

Das so geschaffene Modell ist eine ernstzunehmende Alternative zur Schiedsgerichtsbarkeit und braucht sich weder vor ihr noch vor ausländischen Gerichten zu verstecken.

Autor

Dr. Patrick Melin, LL.M. (USA), Commercial Court Baden-Württemberg, Oberlandesgericht Stuttgart

Dr. Patrick Melin, LL.M. (USA)

Commercial Court Baden-Württemberg, Oberlandesgericht Stuttgart
Vorsitzender Richter am 21. Zivilsenat


patrick.melin@olgstuttgart.justiz.bwl.de
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