Dass die Digitalisierung der Justizbehörden und Gerichte langsamer voranschreitet als in den Rechtsanwaltskanzleien, ist bekannt. Ebenso, dass auch für die Justiz ab dem 01.01.2026 das Führen einer elektronischen Akte verpflichtend ist (siehe hier). Doch es tut sich was: Die Digitalisierung der Justizbehörden und Gerichte nimmt Geschwindigkeit auf. Impulsgeber dafür scheint die zunehmende Verbreitung und Akzeptanz von Large Language Models (LLM) zu sein.
Zauberformel LLM
Haben sich die staatlichen Einrichtungen der Justiz in der Vergangenheit schwergetan, sich gegenüber digitalen Prozessen und Technologien zu öffnen, sieht die Situation bei LLM ganz anders aus. Diese Methode der künstlichen Intelligenz (KI) hat ihren Ursprung in „Machine Learning“-Systemen, die Muster und Gesetzmäßigkeiten erkennen und Ableitungen daraus ziehen. Das sogenannte Deep Learning geht noch einen Schritt weiter. Dr. Bettina Mielke, Richterin am OLG Nürnberg, beschreibt Deep Learning als spezielle Art des maschinellen Lernens, bei der große neuronale Netze mit zahlreichen Zwischenschichten eingesetzt werden, wodurch eine umfangreiche innere Struktur entsteht (siehe hier). Verwendung findet dieses Verfahren vor allem bei der Objekterkennung oder der automatischen Sprachverarbeitung – einem Aspekt, der im Rechtswesen von großer Relevanz ist. LLM wiederum ist der aktuell neueste Reifegrad von KI und basiert auf einem statistischen Verfahren. Grundlage sind langwierige und aufwendige Trainingszyklen. Dabei sind die Bewältigung der extrem großen Datenmengen und die Durchführung erfolgreicher Trainingsläufe eine große Herausforderung. Wie groß jedoch das Potential ist, zeigt die Erfolgsgeschichte von Chat GPT, dem bekanntesten LLM-System.
Forschungsprojekt zum Einsatz von KI in der Justiz
Um den Anschluss bei dieser Technologie nicht zu verpassen, ging im Sommer ein gemeinsames Forschungsprojekt der bayerischen und nordrheinwestfälischen Justiz an den Start: ein generatives Sprachmodell, das Richterinnen und Richter entlasten soll. Geleitet wird das Projekt auf wissenschaftlicher Ebene von der Technischen Universität München (Prof. Dr. Matthias Grabmair) und der Universität zu Köln (Prof. Dr. Barbara Dauner-Lieb).
Auf seiner Internetseite beschreibt das Justizminsterium NRW das LLM-Projekt wie folgt: „Das Generative Sprachmodell der Justiz (GSJ) könnte beispielsweise dafür eingesetzt werden, neue Textbausteine zu formulieren, unstrittige Sachverhalte aus einer Akte herauszufiltern und Schriftsätze aus verschiedenen Akten zu vergleichen. Die Anwendungsfälle werden unmittelbar mit Praktikerinnen und Praktikern in Legal-Design-Workshops entwickelt. Die Testphase dauert bis Ende 2026 und wird aus Mitteln der Digitalisierungsinitiative des Bundes für die Justiz finanziert.“
Mit FRAUKE und OLGA Massenverfahren besser in den Griff bekommen
Darüber hinaus gibt es bereits andere KI-Projekte in der Justiz, die verdeutlichen, wie gewaltig die positiven Effekte von KI sein können. Beispielsweise muss das Frankfurter Amtsgericht jährlich bis zu 15.000 Fälle bearbeiten, bei denen Fluggäste Regressansprüche an die Fluganbieter stellen – wegen Flugverspätungen oder stornierten Verbindungen (siehe hier). Seit etwa zwei Jahren hat das Frankfurter Amtsgericht die Legal-Tech-Lösung FRAUKE (Frankfurter Urteils-Konfigurator, elektronisch) im Einsatz. Diese Software basiert auf KI und hilft der Justiz dabei, die Verfahren im Bereich der Fluggastrechte zu beschleunigen.
Wie funktioniert das? Bei den Klagen handelt es sich um Massenklagen, bei deren Verfahren sich vielfach nur die Namen und Daten unterscheiden, der Sachverhalt aber im Wesentlichen ähnlich ist. Markant ist für diese Art von Klage außerdem, dass sie in erster Linie über Internetplattformen eingereicht werden und deshalb den Gerichten von der ersten Minute an digital vorliegen. Da die Entschädigungssätze in der EU-Fluggastrechteverordnung einheitlich geregelt sind, bieten sich diese Verfahren geradezu an für den Einsatz intelligenter, KI-gestützter Softwarelösungen. In zahlreichen Presseberichten heißt es, dass der Einsatz von FRAUKE die Effizienz des Frankfurter Amtsgerichts signifikant gesteigert hat (siehe hier). Die weitestgehend automatisierte Bearbeitung ähnlich gelagerter Vorgänge stellt für die Mitarbeitenden der Gerichte eine deutliche Arbeitserleichterung dar und seit dem vergangenen Jahr hat Presseberichten zufolge auch der Flughafen Brandenburg FRAUKE im Einsatz, um die Masse der Fluggastrechteklagen besser in den Griff zu bekommen (siehe hier).
Vergleichbar damit ist auch die KI-Lösung OLGA (Oberlandesgerichtsassistent) zu sehen, die bei den Massenklagen im Mercedes-Dieselskandal eingesetzt wurde. Vom Dieselskandal bei Mercedes waren über 10.000 Kunden betroffen. Auch hier ähnelten sich die Sachverhalte sowie Argumentationsketten – lediglich die persönlichen Daten und Kaufverträge unterschieden sich. Das Oberlandesgericht Stuttgart nutzte die Möglichkeit, mit OLGA auf eine intelligente Automatisierung bei der Verarbeitung der Klagen zu setzen.
Laut Legal Tribune Online ist diese Art von KI ein „Rettungsanker in den Massenverfahren.“ Die Volljuristin und Journalistin Linda Pfleger schreibt dazu: „Für ein mulmiges Bauchgefühl und die rot blinkende Warnleuchte mit der Aufschrift ,RoboJudge‘ besteht kein Anlass. Die Stimmen der Justiz sind sich einig, dass Richterinnen und Richter in ihrer Tätigkeit nicht ersetzt werden sollen.“
Bund plant, KI in der Justiz-Cloud bereitzustellen
Diese und andere KI-Projekte sorgen dafür, dass die Justizbehörden und Gerichte allmählich mehr Vertrauen in moderne Technologien entwickeln, weil die positiven Effekte unmittelbar in einer signifikanten Entlastung für die Verfahrensbeteiligten spürbar werden. Um die Trendwende zur Digitalisierung der Justiz zu forcieren, plant der Bund, zukünftig sogar eine zentrale Justiz-Cloud inkl. KI-Funktion zur Verfügung zu stellen. Die geplante Justiz-Cloud soll als bundesweite Plattform fungieren, die eine einheitliche IT-Infrastruktur für Gerichte, Staatsanwaltschaften und andere Justizeinrichtungen schafft. Sie soll nicht nur den nahtlosen Datenaustausch zwischen den Bundesländern, sondern durch hohe Sicherheitsstandards auch den Schutz sensibler Daten gewährleisten. Zwar befindet man sich auch hier noch in den Anfängen, aber die Dynamik, die aufgrund der ersten Erfolge zustande kommt, beschleunigt die Erkenntnis, dass die Digitalisierung und KI kein Teufelszeug sein müssen, sondern durchaus eine sehr wirkungsvolle Unterstützung sein können.
Das sind erfreuliche Signale, denn eines steht fest: Spätestens, wenn in den nächsten Jahren die Babyboomer in Rente gehen, werden die Gerichte noch stärker damit zu kämpfen haben, das passende Personal zu finden. Wenn sie bis dahin in der Lage sind, all die Aufgaben, die sich automatisieren und digitalisieren lassen, auf eine moderne Art und Weise abzuwickeln, ist schon viel gewonnen.
Kanzleien investieren bereits in Automatisierung und KI
Auch auf Seiten der Rechtsanwaltskanzleien ist man sich der Mehrwerte einer intelligenten Prozessautomatisierung bewusst und will in diesen Bereichen zukünftig investieren. Das ist eines der Ergebnisse des Legal Tech Reports, den stp.one 2024 veröffentlicht hat. Über zwei Drittel der befragten Kanzleien (69%) gaben an, dass sie von einer Steigerung des Budgets für Legal-Tech-Lösungen ausgehen. 48% sagten, dass ihr Budget sogar deutlich steigen wird. Der Fokus der Investitionen liegt dabei auf der Integration von Standardlösungen, wie beispielsweise Microsoft Office 365, der Workflow-Automatisierung und einer Fortsetzung des Wechsels in die Cloud. Eine große Rolle spielen die Automatisierung des Dokumenten- und Vertragsmanagements und der zentrale, digitale Austausch von Dokumenten. Gerade die Automatisierung von mehr als zehn Schlüsselprozessen – von Dokumentenmanagement über den Mandantenservice bis hin zur Konfliktanalyse – halten die Rechtsanwälte dabei für wichtig.
Schon heute setzen innovative Kanzleien auf intelligente Automatisierungslösungen, wie beispielsweise den Legal Twin von stp.one. Dieser KI-basierte Assistent sorgt für spürbare Entlastung im Bereich des Fallmanagements, etwa bei der Analyse von Dokumenten und Kontexten, der Extraktion von Inhalten sowie dem Generieren und Zusammenstellen von Informationen für Mandanten. Aber auch klassische ReFa-Aufgaben, zu denen die Mandantenverwaltung, das Kategorisieren und Analysieren von Daten, lassen sich mit der KI-Lösung von stp.one schneller erledigen.
Lücke zwischen Kanzleien und Justiz schließt sich – wenn auch nur langsam
Es scheint, als hätte der Einzug von KI in die moderne Arbeitswelt die Dynamik bei der Digitalisierung im Rechtswesen neu entfacht. Auch wenn die Behörden noch etwas hinterherhinken, scheint sich der Digitalisierungsreifegrad der beiden Player – Kanzleien und Behörden – anzunähern. Das lässt alle Beteiligten zuversichtlicher in die Zukunft blicken als noch vor einem Jahr. Damals bestimmten die Vorbehalte seitens der Justizbehörden sowie die Vorwürfe von Kanzleiseite noch viel stärker das Gesamtbild als heute. Bleibt zu hoffen, dass die positiven Effekte der Automatisierung und von KI auf beiden Seiten anhalten und weiter ihre motivatorische Power entfalten.
Autor
Jens Decieux
stp.one, Karlsruhe
Vice President Strategy & Alliances


