Ob Thermofenster, Fluggastrechte oder Datenschutzverstöße – Massenverfahren gibt es mittlerweile in vielen Bereichen, und ihre Zahl nimmt zu. Ein neues Gesetz soll hier nun Entlastung bringen. Durch die Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens vor dem Bundesgerichtshof (BGH) sollen die Instanzgerichte der Klagewellen besser Herr werden. Ob dieses Ziel erreicht werden kann, scheint allerdings zweifelhaft.
Voraussetzungen einer Leitentscheidung
Nach dem Gesetz über die Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof, das am 31.10.2024 in Kraft trat, kann der BGH ein Revisionsverfahren, das Rechtsfragen aufwirft, „deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung“ ist, durch Beschluss zum „Leitentscheidungsverfahren“ bestimmen. In dem Beschluss stellt der BGH den Sachverhalt und die zu klärenden Rechtsfragen dar. Endet ein solches Leitentscheidungsverfahren ohne ein mit inhaltlicher Begründung versehenes Urteil, so trifft der BGH über die relevanten Rechtsfragen wiederum durch Beschluss eine begründete Leitentscheidung.
Die Leitentscheidung soll nur für Massen an Zivilklagen mit deckungsgleichen Inhalten Anwendung finden. In Verfahren vor den Arbeits- und Sozialgerichten, Verwaltungsgerichten und Finanzgerichten soll keine Leitentscheidung möglich sein.
Die Leitentscheidungen kann der BGH nach eigenem Ermessen erlassen. Sie entfalten keine Bindungswirkung für die Instanzgerichte, sondern stellen eine Orientierungshilfe dar. Erfahrungsgemäß äußert sich der BGH zu einer Sache, wenn einer seiner Senate dies für angezeigt hält. Die Instanzgerichte halten sich dann üblicherweise an die durch den BGH vorgegebene Richtung – und zwar auch ohne eine Leitentscheidung nach neuer Definition. So hat der BGH schon bisher in Einzelfällen vergleichbare Beschlüsse veröffentlicht. Ein Beispiel ist der Hinweisbeschluss aus dem Februar 2019 (Az. VIII ZR 225/17), in dem der BGH wesentliche rechtliche Bewertungen zum Dieselskandal abgab. Bemerkenswert daran ist nicht nur der Hinweisbeschluss an sich, sondern vor allem, dass der BGH diesen veröffentlichte, nachdem der Kläger seine Revision unter Hinweis auf einen Vergleich bereits zurückgenommen hatte.
Gerichtsstand spielt oft eine entscheidende Rolle
Ob eine Leitentscheidung zu weniger Klageeingängen bei den Instanzengerichten führt, scheint keineswegs ausgemacht. Sie mag den Beteiligten in Einzelfragen früher Rechtssicherheit bringen, als wenn erst ein Revisionsurteil abgewartet werden muss. Allerdings hat sich in bisherigen Massenverfahren jeweils schnell herauskristallisiert, welche Tendenz die einzelnen Gerichte einnehmen. Der Gerichtsstand ist entsprechend häufig der entscheidende Faktor für die Erfolgsaussichten einer Klage. Auch wenn eine möglichst bundesweit einheitliche Rechtsprechung zu begrüßen ist, ändert dies nichts an der Zahl der durch die Gerichte zu fällenden Urteile. Allein wenn die Leitentscheidung den Klagen schlechte Erfolgsaussichten verspricht, dürfte dies den Fluss der Klageeinreichungen verlangsamen. Lässt die Leitentscheidung die Klage hingegen erfolgversprechend erscheinen, wird dies im Gegenteil für mehr Klagen sorgen. Der Hinweisbeschluss des BGH im Dieselskandal gab der Klägerseite neuen Aufwind, da den Klagen pressewirksam gute Erfolgsaussichten attestiert worden sind.
Klägerkanzleien in Massenverfahren führen ihre Prozesse strategisch. Sie werben regelmäßig in großem Stil um mehr potentielle Kläger; nur in der Masse liegt für diese Kanzleien der Profit. Auch mit der Summe an erzielten Vergleichen werden mögliche Kläger gelockt, ihrerseits durch eine Klage schnell an Geld zu gelangen.
Auf Seiten der Beklagten besteht oft wenig Interesse, eine höchstrichterliche Entscheidung zu riskieren, weil diese im Fall des Unterliegens weitreichende Folgen für ähnliche Verfahren haben kann. Stattdessen wird durch hohe Vergleichsangebote die Schaffung von Präzedenzfällen möglichst hinausgezögert. Bevor ein Verfahren beim BGH landet, hat dieser keine Möglichkeit, eine Leitentscheidung zu fällen. Es kommt also auch weiterhin darauf an, ob die Kläger die Revision hartnäckig genug verfolgen.
Es gibt bereits etablierte und wirkungsvolle Mechanismen zur Entlastung der Gerichte in Massenverfahren. Die Einführung der Musterfeststellungsklage anlässlich des Dieselskandals im Jahr 2018 hat beispielsweise dazu beigetragen, dass mehr als 200.000 individuelle Klagen vermieden worden sind. Die Bündelung vieler gleich gelagerter Ansprüche ist auch in anderen Massenverfahren erfolgt. Trotzdem ist die Anzahl der Kläger, die sich Musterfeststellungsklagen anschließen, im Verhältnis zur absoluten Anzahl der Klagen noch immer gering. Die Attraktivität der Musterfeststellungsklagen weiter zu verbessern, wäre ein großer Schritt in Richtung Entlastung der Instanzgerichte.
Massenverfahren stellen für die Gerichte hohen organisatorischen Aufwand dar, in der Sache selbst sind sie aber mit deutlich weniger Aufwand verbunden als teilweise komplexe Einzelklagen. Investitionen in die Digitalisierung der Justiz würden hier spürbare Verbesserungen bringen. Digitale Aktenführung und die Möglichkeit virtueller Gerichtstermine sind dabei nur zwei Punkte, die Gerichten die Arbeit erleichtern könnten.
Fazit
Ob Leitentscheidungen die Instanzgerichte wirklich entlasten werden, ist aus einer Vielzahl von Gründen zweifelhaft. Die neue Regelung schafft zwar eine Möglichkeit der Orientierung. Sie zwingt jedoch weder den BGH dazu, eine Leitentscheidung zu erlassen, noch bindet sie die Instanzgerichte in ihrer Entscheidungspraxis. Dennoch bleibt spannend, wie der BGH das neue Instrument künftig nutzen wird. Daneben bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber weitere Maßnahmen zur effektiven Bewältigung von Massenverfahren in Betracht zieht, um die Justiz langfristig zu entlasten.
Hinweis der Redaktion:
Über den Gesetzesentwurf berichteten Wolf Müller und Dr. Niklas Maximilian Seitz in Deutscher AnwaltSpiegel 16/2023 (siehe hier). (tw)
Autor
Isabelle Hörner
Menold Bezler, Stuttgart
Rechtsanwältin, Fachanwältin für Internationales Wirtschaftsrecht, Associate
isabelle.hoerner@menoldbezler.de
www.menoldbezler.de


