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„Carte blanche“ für Klagevehikel bei Kartellschadensersatzklagen?

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Das Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C-253/23 (ASG 2), das am 28.01.2025 verkündet worden ist, befasst sich mit der Vereinbarkeit der deutschen Regelungen zur Abtretung von Kartellschadensersatzansprüchen mit dem Effektivitätsgrundsatz und dem Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nach Unionsrecht. Der EuGH entschied über ein Vorlageersuchen des Landgerichts Dortmund im Rahmen eines Kartellschadensersatzverfahrens betreffend das sogenannte Rundholzkartell.

Hintergrund

In seinem Urteil hat der EuGH bestätigt, dass Klagevehikel unter bestimmten Umständen berechtigt sein müssen, Kartellschadensersatzansprüche zu bündeln. Dies ist insbesondere für Deutschland von allgemeinem Interesse, da deutsche Gerichte bisher eher uneinheitlich darüber entschieden haben, ob Klagevehikel Kartellschadenersatzansprüche durch Abtretungen an sie bündeln und gebündelt vor Gericht bringen dürfen. Die Entscheidung des EuGH ist eine Vorabentscheidung und dient dem nationalen Gericht als verbindliche Orientierungshilfe für die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts im vorliegenden Fall.

Der Fall

Die Entscheidung des EuGH befasst sich mit der Zulässigkeit der Bündelung von Ansprüchen durch die Ausgleichsgesellschaft für die Sägeindustrie Nordrhein-Westfalen GmbH (ASG 2), ein extra für die Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen aus dem Rundholzkartell gegründetes Klagevehikel. Im Jahr 2020 erhob ASG 2 eine gebündelte Klage vor dem Landgericht Dortmund, gestützt auf Ansprüche, die ihr von 32 Sägewerken abgetreten worden waren. Die Sägewerke haben – so jedenfalls von ASG 2 behauptet – beim Kauf von Rundholz einen kartellbedingten Preisaufschlag gezahlt, da das Land NRW zwischen 2005 und 2019 die Preise für Rundholz für sich und andere Waldbesitzer in NRW unter Verstoß gegen Artikel 101 AEUV harmonisiert haben soll.

Das Bundeskartellamt hatte diese Vorgehensweise untersucht und 2009 eine Verpflichtungszusagenentscheidung nach § 32b des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und Art. 101 AEUV gegen das Land NRW und andere, in gleicher Weise am Vertrieb von Rundholz beteiligte Länder erlassen. Es gab also keine verbindliche Bußgeldentscheidung einer staatlichen Behörde, so dass sich der EuGH mit der Zulässigkeit von Klagevehikeln im Rahmen einer eigenständigen Schadensersatzklage (Stand-alone-Klage im Gegensatz zu Follow-on-Klagen) befasste.

In dem erstinstanzlichen Verfahren vor dem Landgericht Dortmund, das zum Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH führte, argumentierte das Land NRW, dass ASG 2 nicht aktivlegitimiert sei, und stellte auch die Begründetheit der Klage von ASG 2 im Übrigen in Frage. Das Land NRW machte geltend, dass die Abtretungen an ASG 2 (allesamt Inkassozessionen zur Einziehung) gegen das deutsche Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) verstießen und daher nichtig seien. Das vorgebrachte Argument war, dass kartellrechtliche Ansprüche eindeutig die im RDG festgelegte Grenze in Bezug auf die Zulässigkeit außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen durch Nichtanwälte (wie Klagevehikel, die auf Erfolgshonorarbasis arbeiten) überschritten. Kartellschadensersatzklagen gelten, wie vom Beklagten vorgebracht, als besonders komplex und neigen zu Interessenkonflikten, weshalb Klagevehikeln in der Regel die nach dem RDG erforderliche Expertise fehle, um solche Verfahren vor Gericht zu bringen.

Das Urteil des EuGH

Die Entscheidung beschränkt sich auf Stand-alone-Klagen, da die Frage betreffend Follow-on-Klagen, die ebenfalls vom Landgericht Dortmund vorgelegt wurde, vom EuGH als hypothetisch und damit unzulässig eingestuft worden ist.

Der EuGH hat klargestellt, dass sich der Anspruch auf Schadensersatz bei Kartellverstößen unmittelbar aus Artikel 101 AEUV und Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergibt. Letzterer verankert das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren. Nach Auffassung des EuGH müssen nationale Gesetze unangewendet bleiben, wenn sie die Geltendmachung kartellrechtlicher Schadensersatzansprüche übermäßig erschweren. In diesem Zusammenhang verweist der EuGH auf sein wegweisendes Urteil in der Rechtssache Courage aus dem Jahr 2001 (EuGH, Urteil vom 20.09.2001, Rechtssache C-453/99), in dem festgestellt wurde, dass die volle Wirksamkeit des Kartellverbots nach Artikel 101 AEUV gefährdet wäre, wenn Einzelpersonen nicht in der Lage wären, Ersatz für finanzielle Verluste zu verlangen, die durch ein Kartell verursacht wurden. Dieser Grundsatz unterstreicht die Bedeutung der privaten Rechtsdurchsetzung für die Aufrechterhaltung der Integrität des EU-Wettbewerbsrechts.

In Bezug auf Klagevehikel bedeutet dies laut EuGH

  • weder, dass das nationale Recht einen Mechanismus für Gruppenklagen von Klagevehikeln enthalten muss;
  • noch bedeutet dies, dass das Unionsrecht die rechtlichen Anforderungen für die Gültigkeit einer Abtretung an das Klagevehikel durch den vermeintlich Geschädigten festlegt.

Nach Auffassung des EuGH muss das nationale Recht jedoch die Möglichkeit vorsehen, dass Parteien, die Schadensersatzansprüche aufgrund eines Kartells geltend machen, ihre Ansprüche an ein Klagevehikel gebündelt abtreten können, wenn

  • das nationale Recht keine anderen wirksamen Möglichkeiten vorsieht, um Einzelansprüche in einem eigenständigen Schadensersatzanspruch zusammenzufassen, und
  • die Erhebung einzelner Schadensersatzklagen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls unmöglich oder übermäßig schwierig ist, so dass diese Personen ihres Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz beraubt würden.

Zur weiteren Untermauerung dieses Arguments verweist der EuGH auf die allgemeinen Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität, die in Ermangelung detaillierter Unionsrechtsvorschriften in dieser Hinsicht in Bezug auf das Recht, Wiedergutmachung für den durch Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schaden zu verlangen, zu beachten sind.

Im Wesentlichen impliziert das Urteil des EuGH daher, dass einzelne Kläger, um ihr Recht auf Schadensersatz wirksam ausüben zu können, entweder das Recht haben müssen, Einzelklagen vor nationalen Gerichten zu erheben, oder die Möglichkeit haben müssen, ihre Einzelklagen in einer Gruppenklage zusammenzufassen. Kurz gesagt: Auf Klagevehikel gebündelte Klagen müssen zulässig sein, wenn es keine Alternative gibt, um solche Ansprüche wirksam zu verfolgen.

Nächste Schritte

Im nächsten Verfahrensschritt muss das Landgericht Dortmund entscheiden, ob das deutsche Recht unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entweder wirksame Möglichkeiten für individuelle kartellrechtliche Schadensersatzklagen oder wirksame andere Möglichkeiten zur Bündelung individueller Ansprüche bietet. Es wird erwartet, dass das Landgericht Dortmund nun zugunsten der Aktivlegitimation des Klägers entscheidet, basierend auf seiner ursprünglichen Annahme, dass das Abtretungsmodell die einzige wirksame Möglichkeit war, Schadensersatzansprüche geltend zu machen.

Schlussfolgerung

Auf den ersten Blick mag der großzügige Ansatz des EuGH, der von Effektivitätserwägungen geleitet ist, es den Parteien, die angeblich durch ein Kartell geschädigt worden sind, erleichtern, eine Entschädigung für die erlittenen finanziellen Verluste zu verlangen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die Entscheidung des EuGH zu einer Zunahme der Klagen führen wird.

Tatsächlich sehen sich die Kläger selbst unter Berücksichtigung der Hilfe durch den EuGH immer noch mit erheblichen Unsicherheiten bei Kartellschadensersatzklagen nach deutschem Recht konfrontiert. Die größte Hürde für eine erfolgreiche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen ist die Anforderung, den individuellen Schaden zu begründen und nachzuweisen, da das deutsche Recht in dieser Hinsicht keine Vermutung eines Mindestschadens kennt.

Darüber hinaus würden Kläger, selbst wenn solche gebündelten Klagen zulässig wären und sie die Hürde nehmen würden, ausreichende Beweise für Kartellschäden vorzulegen, immer noch dem Risiko ausgesetzt sein, dass sich die Beklagten erfolgreich – und zu Recht – auf die „passing on defense“ (also die Weitergabe des Preisaufschlags an die nachgelagerte Marktstufe) berufen.

Auch die Bündelung von – manchmal mehreren hunderttausend – Einzelfällen außerhalb der Verfahrensmechanismen für Sammel- oder Verbandsklagen bleibt für alle Beteiligten eine Herausforderung in Bezug auf Personal, technische Infrastruktur und den Zeit- und Kostenaufwand für solche überdimensionierten Fälle.

In jedem Fall ist nach dem EuGH-Urteil eines klar: Es gibt keinen „Freibrief“ für Klagevehikel, sondern in jedem Fall einen Ansatz, der auf die Gesamteffektivität abzielt. 

Autor

Dr. Sebastian Felix Janka, LL.M. (Stellenbosch) Luther, München Rechtsanwalt, Partner

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Luther, München
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sebastian.janka@luther-lawfirm.com
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Dr. Borbála Dux-Wenzel, LL.M. (Köln/Paris I) Luther, Köln Rechtsanwältin, Partnerin

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borbala.dux-wenzel@luther-lawfirm.com
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Autor

Samira Altdorf, LL.M. (Brussels School of Competition) Luther, Düsseldorf Rechtsanwältin, Senior Associate

Samira Altdorf, LL.M. (Brussels School of Competition)

Luther, Düsseldorf
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samira.altdorf@luther-lawfirm.com
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Severin Uhsler Luther, München Rechtsanwalt, Associate

Severin Uhsler

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