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Schnellere Abwicklung von Massenverfahren durch neues Leitentscheidungsverfahren am BGH?

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Der Begriff der Massenverfahren prägt seit Jahren die tägliche Arbeit der Anwaltschaft und der Zivilgerichte. Während die Akteure auf Klägerseite stets variieren, sind auf Beklagtenseite nur wenige Akteure beteiligt. Solche Massenverfahren – die sogenannten Dieselverfahren sind wohl die bekanntesten – führen instanzenübergreifend zu einer intensiven Belastung der staatlichen Gerichte. Denn obwohl sich in den Einzelklagen oftmals die gleichen entscheidungserheblichen Rechtsfragen stellen, fehlt es bislang an einem wirksamen gesetzlichen Instrument, um derartige Klagewellen effizient zu bündeln und einheitlich zu entscheiden. Höchstrichterliche Rechtsprechung existiert, vor allen Dingen in den ersten Jahren eines Massenverfahrens, nicht.

Die damit einhergehende Gefahr für die Rechtsfindung ist offenkundig. Die Instanzgerichte sind faktisch auf sich allein gestellt und müssen die gleichgelagerten Rechtsfragen isoliert und regelmäßig ohne höchstrichterliche Wegweisung entscheiden. Das führt dazu, dass gleichgelagerte Rechtsfragen uneinheitlich entschieden werden. Weder die Parteien noch die Öffentlichkeit können verlässlich abschätzen, wie ein Einzelfall letztlich ausgeht.

Für die effiziente und zugleich Rechtsfrieden stiftende Erledigung von Massenverfahren ist es unabdingbar, dass der Bundesgerichtshof (BGH) zügig Leitentscheidungen zur Verfügung stellt. Solche Leitentscheidungen helfen den Instanzgerichten, sich an höchstrichterlichen Wertungen zu orientieren und zeitnah zahlreiche Verfahren einheitlich abschließen zu können, in denen sich gleichgelagerte Rechtsfragen stellen.

Ernüchternd (weil realistisch) ist der gegenwärtig steinige Weg bis zu einer Leitentscheidung des BGH. Leitentscheidungen können regelmäßig erst dann ergehen, wenn der gesamte Instanzenzug durchlaufen worden ist. Zeit, die die Instanzgerichte wohl nicht haben, wenn sie von der Flut der Klagewellen nicht mitgerissen werden möchten. Die Einführung der Musterfeststellungsklage im Jahr 2018 hat hieran nichts geändert. Hinzu kommt, dass die Parteien durch die Rücknahme der Revision oder durch einen Vergleichsabschluss derzeit aktiv verhindern können, dass der BGH wiederkehrende Rechtsfragen höchstrichterlich klärt. Dadurch werden Leitentscheidungen blockiert. Veröffentlichte Hinweisbeschlüsse (zum Beispiel BGH, Hinweisbeschluss vom 08.01.2019 – VIII ZR 225/17 = NJW 2019, 1133) lösen das Problem nicht.

Gesetzentwurf des Bundesministeriums der Justiz soll Abhilfe schaffen

Diese angespannte Situation hat das Bundesministerium der Justiz (BMJ) erkannt. Mit dem Gesetzentwurf, der die Einführung eines sogenannten Leitentscheidungsverfahrens am BGH vorsieht, soll Abhilfe geschaffen werden. Primäres Ziel des Gesetzentwurfs ist es, leichter und schneller höchstrichterliche Leitlinien des BGH zu wiederkehrenden Rechtsfragen zu erhalten. Insbesondere soll es auch in Fällen, in denen die Revision zurückgenommen wird oder sich das Revisionsverfahren auf andere Weise als durch Urteil erledigt, möglich werden, dennoch zentrale Rechtsfragen durch den BGH entscheiden zu lassen. Ziel ist es insoweit auch, die Einflussnahme von Parteien auf potentielle Leitentscheidungen des BGH zu vermindern.

Der Anwendungsbereich des neuen Leitentscheidungsverfahrens umfasst Fälle, in denen eine Vielzahl von Einzelklagen gleichgelagerter Ansprüche bei Gerichten anhängig ist. Neben den sogenannten Dieselverfahren – als fortwährender legislativer und technischer Innovationstreiber – sind Streitigkeiten von Verbrauchern mit Dienstleistern von Fitnessstudios (insbesondere zur Wirksamkeit von Vertragsklauseln) oder Fluggesellschaften (sogenannte Fluggastrechte-Verfahren) für das Leit-entscheidungsverfahren prädestiniert.

Konkret sieht der Gesetzentwurf in § 552b ZPO-Entwurf folgenden Verfahrensablauf vor: Der BGH kann sich aus den bereits anhängigen Revisionsverfahren dasjenige aussuchen, das aus seiner Sicht am geeignetsten erscheint, um ein möglichst breites Spektrum an wiederkehrenden offenen Rechtsfragen zu erörtern, die auch für eine Vielzahl anderer Rechtsstreitigkeiten von Bedeutung sein werden. Der BGH identifiziert die relevanten noch offenen Rechtsfragen dabei selbst. Durch Beschluss bestimmt der BGH das ausgewählte Revisionsverfahren zum Leitentscheidungsverfahren. In zeitlicher Hinsicht erfolgt die Bestimmung zum Leitentscheidungsverfahren frühestens nach Eingang einer Revisionserwiderung oder nach Ablauf einer zur Revisionserwiderung gesetzten Frist. An dieser Stelle dürfte der Entwurf zu kurz greifen, da es die Parteien bis zu diesem Zeitpunkt in der Hand haben, eine höchstrichterliche Entscheidung bewusst zu blockieren oder zu verzögern. Der Beschluss über die Bestimmung zum Leitentscheidungsverfahren enthält eine Darstellung des Sachverhalts und der Rechtsfragen, deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist.

Daneben zeigt sich eine weitere Schwachstelle des Gesetzentwurfs. Das Leitentscheidungsverfahren setzt nach wie vor voraus, dass der Rechtsstreit den gewöhnlichen und zeitaufwendigen Instanzenzug durchlaufen hat. Nur aus anhängigen Revisionsverfahren kann der BGH ein Leitentscheidungsverfahren nach eigenem Ermessen bestimmen. Dass dadurch Verzögerungen – vielfach von mehreren Jahren – entstehen, ist evident. Weder die vom Entwurf angestrebte Beschleunigungsfunktion noch die Entlastungsfunktion werden erreicht. Eine effizientere Lösung dürfte darin liegen, den Instanzgerichten eine eigene Vorlagebefugnis einzuräumen und dem BGH so ein Verfahren als Leitentscheidung aktiv vorlegen zu können. Der weitere Verlauf des Verfahrens hängt vom Verhalten der Parteien ab. Wird das ausgewählte Revisionsverfahren von den Parteien nicht auf andere Art beendet, ergeben sich grundsätzlich keine Besonderheiten. Der BGH fällt ein herkömmliches Revisionsurteil mit inhaltlicher Begründung (vgl. §§ 561 ff. ZPO).

Relevanz entfaltet das neue Leitentscheidungsverfahren, wenn kein Urteil nach Maßgabe von §§ 561 ff. ZPO beziehungsweise keine Entscheidung mit inhaltlicher Begründung ergehen kann. Der Gesetzentwurf erlaubt es dem BGH in dieser Konstellation, eine Leitentscheidung auch dann noch zu treffen, wenn die Parteien das Revisionsverfahren beenden, vgl. § 565 Abs. 1 ZPO-Entwurf. Selbst wenn sich die Parteien des Rechtsstreits also (aus prozess-taktischen Gründen) gütlich einigen oder die eingelegte Revision zurückgenommen wird, soll es dem BGH unbenommen bleiben, eine Art hypothetische Entscheidung zu treffen. Der BGH soll nach der Vorstellung des Gesetzentwurfs im ernannten Leitentscheidungsverfahren in jedem Fall eine Entscheidung treffen. Die Leitentscheidung trifft der BGH durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung.

Im Beschluss wird festgestellt, dass die Revision beendet ist. Zugleich trifft der BGH eine Leitentscheidung zu den im Beschluss benannten Rechtsfragen, vgl. § 565 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 ZPO-Entwurf. Der Beschluss ist zu begründen, wobei sich die Begründung auf die Erwägungen zur Entscheidung der maßgeblichen wiederkehrenden Rechtsfragen zu beschränken hat, vgl. § 565 Abs. 3 ZPO-Entwurf. Der Gesetzentwurf stellt zudem klar, dass die derart getroffene Leitentscheidung keine formale Bindungswirkung und auch keine Auswirkungen auf das zugrundeliegende konkrete Revisionsverfahren haben soll. Die Leitentscheidung stellt lediglich eine Richtschnur als Orientierungshilfe für die unteren Gerichte dar. Dass sie faktisch mehr als das sein wird, ist zu erwarten.

Option für Instanzgerichte: Aussetzung des Verfahrens

Damit die Instanzgerichte während eines noch laufenden Leitentscheidungsverfahrens nicht dazu gezwungen sind, ihre Fälle entscheiden zu müssen, sieht der Gesetzentwurf eine neue Aussetzungsregelung vor. Mit Zustimmung der jeweiligen Parteien können die Instanzgerichte anordnen, dass die bei ihnen anhängigen Verfahren, in denen sich die gleichen Rechtsfragen stellen, ausgesetzt werden, bis der BGH eine Leitentscheidung getroffen hat, vgl. § 148 Abs. 4 ZPO-Entwurf.

Abzuwarten bleibt, ob die geplante Erweiterung der Aussetzungsvorschrift geglückt ist. Bedenken ergeben sich unter anderem deshalb, weil der Wortlaut des neuen § 148 Abs. 4 ZPO-Entwurf den Instanzgerichten ein Ermessen einräumt. Die Verfahren können, müssen aber nicht ausgesetzt werden. Vergegenwärtigt man sich die Ziele des Leitentscheidungsverfahrens – Sicherung eines hohen Qualitätsniveaus der Rechtsprechung, Erhöhung der Effizienz von gerichtlichen Verfahren sowie Rechtssicherheit – sprechen gute Gründe dafür, eine Pflicht zur Aussetzung zu normieren. Das jedenfalls dann, wenn die Parteien einer Aussetzung zustimmen. Ob darüber hinaus für eine Aussetzung überhaupt die Zustimmung der Parteien erforderlich sein muss, ist zweifelhaft. Da die höchstrichterliche Leitentscheidung letztlich als Richtschnur fungieren soll, liegt es nahe, den Instanzgerichten auch ohne Zustimmung der Parteien die Anordnungsbefugnis über die Aussetzung zuzusprechen und die Aussetzung von Amts wegen in jeder Verfahrenslage zu ermöglichen. Dafür streitet die drohende Gefahr widersprechender Entscheidungen sowie die angestrebte Entlastung der Gerichte. Eine solche Aussetzung von Amts wegen ohne Zustimmungserfordernis sollte als pflichtgemäße Ermessensentscheidung ausgestaltet bleiben und könnte durch Antrag einer Partei angeregt werden.

Fazit und Ausblick

Der Gesetzentwurf ist trotz seiner – wohl auch entwicklungsbedingten – Schwächen ein Schritt in die richtige Richtung, um Massenverfahren effizienter zu erledigen. Das Leitentscheidungsverfahren wird dafür Sorge tragen, dass sämtliche Fälle, in denen sich die gleichen Rechtsfragen stellen, zukünftig einheitlicher entschieden werden. Ein Mehr an Rechtssicherheit entsteht, und die Gefahr divergierender Entscheidungen wird minimiert. Es bleibt abzuwarten, wie sich das neue Verfahren – sollte es Gesetz werden – in der Praxis bewährt.

 

wolf.mueller@gvw.com

n.seitz@gvw.com