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Rente, Steuer, § 127 SGB IV und der ganze Rest

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Kaum ein gesellschaftliches Thema bewegt derzeit so sehr wie die Zukunft und damit Sicherheit der gesetzlichen Rente. Täglich werden gewichtige Stimmen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik laut, die eine Reform des Rentensystems fordern (siehe z.B. hier). Selbst – oder ob der Bedeutung für diejenigen, die von der staatlichen Rente abhängen, natürlich gerade dort – die Boulevardpresse setzt sich tatsächlich sehr ernsthaft mit dieser Thematik auseinander (siehe hier). Erreichen des Renteneintrittsalters mit 70 Jahren, staatlich organisierte Zusatzversicherungen auf Kapitalbasis oder Abschaffung der Frührente sind dabei nur einige der derzeit diskutierten Vorschläge. Selten war eine politische Zwickmühle so offenkundig, kann es letztlich, auch wenn der Handlungsbedarf tatsächlich unstreitig ist, niemandem recht gemacht werden – oder vielleicht doch?

Wie so oft in der politisch-öffentlichen Diskussion, so wird auch hier das, was sich im Gesetz bereits niedergeschrieben wiederfindet, allenfalls am Rande diskutiert. Betrachtet man die Thematik im rechtlichen Licht, so rückt dieser Umstand manche Inhalte der teils sehr dogmatisch wirkenden Positionen möglicherweise etwas zurecht. Dabei spannt sich ein Bogen aus den jüngsten sowie teils über einhundert Jahre alten – und immer noch geltenden – Vorschriften des Sozialversicherungsrechts über das Steuerrecht hin zum Verfassungsrecht.

§ 127 SGB IV – eine fiskalisch motivierte Amnestienorm

Im letzten Gesetz der Ampelregierung vom 28.02.2025 (BGBl. 63/2025) ist § 127 SGB IV als gesetzliche Grundlage für die Beantwortung der Frage geschaffen worden, wie denn mit dem Thema des landläufig als Scheinselbständigkeit bekannten Phänomens des sozialversicherungsrechtlichen Status von – auf Basis einer freien Mitarbeit – tätig werdenden Lehrern und Lehrerinnen umgegangen werden soll. Hintergrund für diese in allerletzter Sekunde geschaffene Norm der vormaligen Bundesregierung war das sogenannte Herrenberg-Urteil des Bundessozialgerichts vom 26.02.2022 (B 12 R 3/20 R), benannt nach der beklagten Gemeinde Herrenberg, in der sich das Problem gerichtlich manifestierte.

In aller Kürze ging es in dem genannten Rechtsstreit darum, ob als freie Mitarbeiter an der dortigen kommunalen Musikschule tätige Lehrer nicht selbständig seien, wie dies nach Auffassung der Deutschen Rentenversicherung Bund anzunehmen war. Dieser Meinung schloss sich das Bundessozialgericht in seinem Urteil an. Im Ergebnis – auch wenn es stets auf die Umstände des Einzelfalls ankommen soll – bedeutet dies schlicht, dass aufgrund der im Urteil getroffenen Feststellungen letztlich alle Lehrkräfte an vergleichbaren Einrichtungen, etwa den Volkshochschulen, als Scheinselbständige, mithin als Beschäftigte, zu qualifizieren seien.

Diese sogenannte Scheinselbständigkeit löst die Zahlungsverpflichtung für Sozialversicherungsbeiträge ausschließlich durch die Auftraggeber aus. Allein aus dieser Zahlungsverpflichtung (arbeits- und steuerrechtliche Folgen, wie die möglicherweise notwendige Korrektur von Umsatzsteuerbescheiden, sollen trotz ihrer Bedeutung hier außen vor bleiben) resultieren dramatisch hohe Verbindlichkeiten, die für die ohnehin meist klammen Kommunen schlichtweg nicht zu stemmen wären.

Der Gesetzgeber entschied sich daher für eine Amnestielösung: § 127 SGB IV regelt, dass im Fall der Feststellung einer Scheinselbständigkeit und dem daraus folgenden Beschäftigungsverhältnis die Versicherungs- und Beitragspflicht in der gesetzlichen Sozialversicherung erst mit dem 01.01.2027 eintritt, sofern beide Vertragsparteien bei Vertragsschluss von der Selbständigkeit ausgegangen sind und die Lehrkraft dem späteren Beginn der Versicherungspflicht zustimmt (vgl. insbesondere: Thüsing/Mantsch, BetriebsBerater 2025, S. 628 ff: „Mit dem letzten Omnibus nach Herrenberg“). Die Norm von § 127 SGB IV erspart den Kommunen somit erhebliche Nachzahlungen und darf daher sehr wohl als Amnestieregelung verstanden werden, die letztlich den Staat vor Forderungen der Kommunen nach finanzieller Unterstützung in diesem Zusammenhang schützt.

Mit anderen Worten: Es werden – rechtssicher erst mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Norm, vermutlich aber mit Rückwirkung und eben bis 31.12.2026 – keine Beiträge von den Auftraggebern gefordert. Über die Rückwirkungsthematik soll im Übrigen seitens des Bundessozialgerichts im September 2025 entschieden werden. Man darf (und manch einer wird) sehr gespannt sein.

Rentenversicherungspflicht Selbständiger in der deutschen Rente – seit über 100 Jahren schon

Zugleich greift in diesem Fall eine andere, oftmals übersehene, aber gerade in der Diskussion zur Rente sehr bedeutsame Norm: § 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI, namentlich die Rentenversicherungspflicht des selbständigen Lehrers. Denn wenn bei den § 127 SGB IV unterfallenden Sachverhalten auf Versicherungsbeitragszahlungen durch den Auftrag- beziehungsweise dann Arbeitgeber verzichtet wird, so müssen – und das ist so auch explizit geregelt – die Lehrer ihrerseits sehr wohl etwas bezahlen. Hier stützt sich der Gesetzgeber wiederum auf § 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI, um von den Lehrkräften, die für die Zwecke der Zahlungsverpflichtung als Selbständige qualifiziert werden, selbst die sogenannten Regelbeiträge zu erhalten. Diese entsprechen in etwa dem Höchstbeitrag eines Arbeitnehmers.

Wem das nun alles vollkommen fremd oder gar systemwidrig vorkommt, geht man doch bei der Sozialversicherungspflicht vom Beschäftigten allein aus: Bereits seit mehr als einhundert Jahren (die Norm von § 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI ist 1906 in das Sozialgesetzbuch aufgenommen worden) ist es in unserem System ganz selbstverständlich so, dass auch bestimmte Gruppen von Selbständigen verpflichtet sind, in die staatliche Rentenkasse einzuzahlen. In § 2 SGB VI finden sich auch nicht nur die selbständigen Lehrer, sondern etwa Handwerker, Künstler und – für die hier dargestellten Gedankengänge besonders interessant – auch die arbeitnehmerähnlichen Selbständigen wieder, § 2 Satz 1 Nr. 9 SGB VI. Letztere sind um die Jahrtausendwende zu Versicherungspflichtigen in der staatlichen Altersvorsorge geworden.

In der Ausprägung der Norm von § 127 SGB IV spiegelt sich daher das gesamte Dilemma der Rententhematik wider, allerdings aus einem ganz anderen Blickwinkel und möglicherweise ja mit einem Lösungsansatz: Letztlich braucht das Rentensystem die Beitragszahlung auch durch selbständig Tätige. Und selbst wenn unser Renten- und Sozialversicherungssystem seit jeher zwischen versicherungspflichtigen Beschäftigten und versicherungsfreien Berufsgruppen, wie etwa Beamten, Selbständigen und den freien Berufen unterscheidet, so gab und gibt es seit jeher die gesetzliche Versicherungspflicht bei der Rente auch für bestimmte Gruppen von Selbständigen. Im Übrigen: Die Pflichtversicherung als Selbständiger kennen gerade diejenigen, die den verkammerten Berufen angehören, sehr gut. Auch etwa die Anwalts- oder Steuerberaterkammern kämen wohl nicht auf die Idee, ihre selbständigen Mitglieder nicht in die Versicherungspflicht mit einzubeziehen. Und wie die Altersvorsorge aus diesem System zeigt, ist die möglichst allumfassende Beitragszahlerbasis durchaus positiv zu werten.

Verfassungsrechtliche Aspekte

Wie vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bestätigt (vgl. zuletzt Bundesverfassungsgericht – BVerfG, Beschluss vom 07.04.2022, 1 BvL 3/18 u.a., siehe hier), hat der Gesetzgeber einen großen Spielraum bei sämtlichen sozialversicherungsrechtlichen Regelungen. Gleichwohl darf man sich angesichts der Regelung von § 127 SGB IV sehr wohl die Frage stellen, ob eine derartige Regelung einer kritischen Prüfung am Maßstab von Artikel 3 Grundgesetz standhält. Ob dies jemals gerichtlich überprüft werden wird, steht angesichts der zeitlichen Befristung von § 127 SGB IV, dessen Geltung von vornherein bis zum 31.12.2026 beschränkt ist, in den Sternen.

Der für eine Zustimmung zum Erlass dieser Norm miteinbezogene Bundesrat verband seine Zustimmung dann auch mit dem dringenden Appell an den Gesetzgeber, die Zeit für eine nachhaltige Regelung zu nutzen (Beschluss des Bundesrats vom 14.02.2025, BR-Drucksache 577/24). Der Gesetzgeber wird sich nolens volens mit diesem Thema ohnehin beschäftigen müssen.

Wirtschaftliche Auswirkungen des derzeitigen Zustands der gesetzlichen Rentenversicherung

Betrachtet man nunmehr noch einen weiteren rechtlichen Aspekt, der zugleich eine große wirtschaftliche Bedeutung entwickelt, werden das bestehende Spannungsfeld und die rechtliche Dimension, in der sich die für sich genommen eher dann doch unbedeutende Norm von § 127 SGB IV bewegt, auf einmal in ihrem Ausmaß erkennbar. Denn das der aktuellen Grundsatzdiskussion zur Rente letztlich zugrundeliegende Problem ist die bereits seit vielen Jahren und vor allem die perspektivisch fehlende Finanzierbarkeit der staatlichen Renten auf einem annähernd hinreichenden Niveau.

Wie kann derzeit das Rentenniveau überhaupt noch gehalten werden? – Die Antwort ist klar und doch letztlich sehr bedenklich: durch Subventionierung aus den Steuereinnahmen des Bundes. So betrugen die Zuschüsse im Jahr 2023 rund 84,3 Milliarden Euro. Angesichts der immer längeren Rentenbezugsdauer einerseits und des beständigen Rückgangs der Beitragszahler andererseits bedarf es keiner großen Rechenkünste, um einen (deutlichen) Anstieg dieses Subventionierungsbetrags prognostizieren zu können.

Gemäß § 3 Abs. 1 AO sind Steuern „[…] Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft […]“. Mit anderen Worten: Es wird gezahlt, ohne dass dies zu einer konkreten Gegenleistung führt.

Und nun gilt es, sich einmal zurückzulehnen und sich kurz die eigene Steuerlast vor Augen zu führen. Bei den gewaltigen Subventionsbeträgen dürfte rein rechnerisch außer Frage stehen, dass gerade auch die Gruppe der gutverdienenden Selbständigen oder der Angehörigen von in Versorgungswerke einzahlenden Personen einen im Durchschnitt wohl nicht unerheblichen vierstelligen Betrag für diese Subventionierung aufbringt.

Vor diesem Hintergrund drängt sich daher geradezu die Frage auf, ob es nicht viel sinnvoller sein könnte, dass nicht nur selbständige Lehrer, Hebammen oder arbeitnehmerähnliche Selbständige, sondern eben alle Erwerbstätigen, vom kleinen Gewerbetreibenden über klassische Selbständige hin zu Unternehmern, einen eigenständigen Beitrag, vielleicht analog dem bereits bestehenden System mit den sogenannten Regelbeiträgen, in die staatliche Rentenkasse leisten. Der – rechtlich, aber vor allem auch wirtschaftlich – unbestreitbare Vorteil wäre, dass aus einer in einem großen anonymen Topf derzeit verpuffenden und nur die Altersvorsorge anderer Personen wesentlich querfinanzierenden Steuerzahlung eine echte Beitragszahlung mit daraus resultierenden eigenen Ansprüchen werden könnte.

Ganz konkret würde vermutlich eine ungefähr gleich hohe Beitragszahlung in die staatliche Altersvorsorge, wie es derzeit die steuerliche Belastung darstellt, in einem dann durchaus nennenswerten Versorgungsbeitrag münden. Die genauen Auswirkungen eines solchen Weges sind bislang noch nicht belastbar berechnet worden. Es käme hierbei jedoch wohl eher auf die konkrete Ausgestaltung an, um ein lohnendes System zu schaffen – aber dem Grunde nach sollte diese Rechnung in etwa aufgehen.

Wenn man nicht mehr weiterweiß …

… schaut man, was der Nachbar weiß: Wer nun denkt, dass die vorstehend beschriebene Herangehensweise etwas vollkommen Exotisches sei, dem sei ein Blick über die (europäischen) Grenzen angeraten: In fast allen europäischen Ländern werden ganz selbstverständlich auch von Selbständigen Beiträge in das staatliche Altersvorsorgesystem geleistet. Paradebeispiel ist sicherlich die Schweiz, deren Altersvorsorge exemplarisch für ein funktionierendes System steht. Aber auch in den skandinavischen Ländern wird, dort ergänzt um relativ einfache, zusätzliche staatliche Versorgungswerke, ein vom sozialversicherungsrechtlichen Status unabhängiger Beitrag in die staatliche Altersvorsorge geleistet.

Ausblick

Bei allen Diskussionen rund um dieses sehr wichtige Thema wäre zu wünschen, dass die Verantwortlichen den Blick ruhig etwas weiter über den Tellerrand richten. Betrachtet man manche Thematik in Gänze, das heißt eben auch mit den Auswirkungen an anderer Stelle, klärt sich das Bild zumeist deutlicher auf. Der Gesetzgeber könnte hier mit wenigen, aber wirkungsvollen Maßnahmen agieren. Dass es möglicherweise Übergangszeiten geben muss, um eine derartige Systemänderung herbeizuführen, sollte kein Grund sein, nicht auch in die Richtungen zu denken, die zumindest an manchen Stellen schon angelegt sind. Die Rentenversicherungspflicht von Selbständigen ist – nicht zuletzt für die Selbständigen selbst – eine rechtlich eben bereits für bestimmte Berufe bestehende, daher insgesamt denkbare und vermutlich (und vor allem) eine wirtschaftlich sinnvolle Lösung. Sie sollte, auch wenn Ausgangspunkt eine rechtlich fragliche und zudem insgesamt wirklich seltsam anmutende Norm wie § 127 SGB IV ist, zumindest mit in die Diskussion einbezogen werden kann. 

Autor

Prof. Dr. Andreas Katzer Sonntag & Partner, Augsburg Partner, Rechtsanwalt

Prof. Dr. Andreas Katzer

SONNTAG PartGmbB, Augsburg
Rechtsanwalt, Honorarprofessor an der Hochschule für angewandtes Management, Partner


andreas.katzer@sonntag-partner.de
www.sonntag-partner.de