Am 01.01.2023 ist das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) in Kraft getreten, und die betroffenen Unternehmen sind dabei, ihre neu auferlegten Sorgfaltspflichten zu konkretisieren und zu erfüllen. Dafür setzen die Unternehmen auf innovative Technik und wählen digitalisierte Lösungen. Denn die im LkSG festgelegte Bemühungspflicht zur Ermittlung und Bekämpfung von Menschenrechts- und umweltbezogenen Verletzungen ist so umfassend, dass man ihr händisch mit Akten und Papier in aller Regel kaum gerecht werden kann. Und während schon die Vorgaben des deutschen Gesetzes manche Unternehmen an ihre organisatorischen Grenzen bringen, legt nun die Europäische Kommission mit einer EU-weiten Lieferketten-Richtlinie samt strengerer Regelungen nach.
Für ihren Entwurf einer europäischen „Lieferketten-Richtlinie“ bekam die EU-Kommission bereits im Dezember 2022 die Zustimmung der EU-Länder.1 Die erste Sitzung im Europäischen Parlament wurde für Mai 2023 angesetzt, so dass davon auszugehen ist, dass die Richtlinie zeitnah die notwendigen Instanzen durchlaufen und voraussichtlich im Jahr 20252 in der gesamten EU in geltendes Recht umzusetzen sein wird.3 Aus Sicht deutscher Unternehmen ist es zunächst sicher begrüßenswert, dass weitreichende, kostenintensive Verpflichtungen dieser Art zukünftig auch die Wettbewerber aus anderen EU-Staaten betreffen. Eine europaweite Regelung sorgt für eine bessere Konkurrenz- und Wettbewerbsfähigkeit.
Welche Unternehmen sind betroffen?
Die Sorgfaltspflichten werden aber nicht nur über die nationalen Grenzen hinaus ausgedehnt, auch der persönliche Anwendungsbereich der vorgeschlagenen europäischen Lieferketten-Richtlinie ist erheblich breiter als der des deutschen Lieferkettengesetzes. Gemäß der europäischen Regelung gelten die Sorgfaltspflichten für Unternehmen, die im vergangenen Geschäftsjahr im Durchschnitt mehr als 500 Beschäftigte hatten und einen weltweiten Nettoumsatz von mehr als 150 Millionen Euro erzielten.4 Somit bleiben kleine und mittlere Unternehmen, die insgesamt etwa 99% aller Unternehmen in der Union ausmachen, zunächst von der Richtlinie ausgenommen. Dagegen müssen Unternehmen, die in Branchen mit besonders hohem Schadenspotential tätig sind und für die zugleich die bestehenden branchenspezifischen OECD-Leitfäden5 gelten, die Richtlinie ebenfalls berücksichtigen, wenn sie einen Nettoumsatz von 40 Millionen Euro und mindestens 250 Beschäftigte haben.6 Hierunter fallen zum Beispiel Unternehmen, die in der Herstellung von Textilien, in der Fischerei oder in der Gewinnung von mineralischen Ressourcen tätig sind. Für diese Unternehmen wird die Erfüllung der Sorgfaltspflicht insofern vereinfacht, als sie sich nur auf schwerwiegende negative Auswirkungen konzentrieren müssen, die sich aus ihrer unternehmerischen Tätigkeit ergeben und die für ihre Branche relevant sind.
Sehr interessant ist zudem, dass die EU-Kommission mit ihrem Vorschlag zur Lieferketten-Richtlinie nicht nur direkt in der EU ansässige Unternehmen verpflichten möchte, sondern ebenso Unternehmen aus Drittländern, die mit ihrem in der EU erwirtschafteten Umsatz die genannten Schwellenwerte erfüllen.7 Die Kommission schätzt, dass in etwa 13.000 Unternehmen aus der EU und etwa 4.000 Unternehmen aus Drittländern unter diese Richtlinie fallen werden.8
Inwiefern verändern sich die Pflichten für Unternehmen?
Deutsche Unternehmen dürften erleichtert sein, dass die in der europäischen Richtlinie definierten Sorgfaltspflichten dem deutschen LkSG so ähnlich sind, dass unliebsame Überraschungen vermieden werden dürften. Menschenrechts- und umweltbezogene Verletzungen sind aufzufinden, zu vermeiden und zu beheben. Genauso wie dem deutschen LkSG zufolge ist zum Beispiel eine Beschwerdemöglichkeit für Betroffene einzurichten. Die Begrifflichkeiten sind zwar anders – so wird statt von einer Lieferkette von einer Wertschöpfungskette gesprochen –, aber die Pflichten sind im Wesentlichen identisch mit denen, die die Vereinten Nationen in ihren Leitprinzipen für Wirtschaft und Menschenrechte9 statuiert haben und auf die sich auch das deutsche Gesetz bezieht.
Die Reichweite der Pflichten dagegen wird erweitert. Fortan werden auch indirekte Lieferanten von vornherein in den Verantwortungskreis des Unternehmens eingebunden, sofern eine „etablierte Geschäftsbeziehung“ vorliegt. Darunter versteht die Richtlinie eine direkte oder indirekte Geschäftsbeziehung, die hinsichtlich Intensität oder Dauer beständig ist oder sein dürfte und keinen unbedeutenden oder lediglich untergeordneten Teil der Wertschöpfungskette darstellt.10
Auffallend ist der explizite Bezug auf das Pariser Klimaschutzabkommen. Große Unternehmen haben einen Plan11 festzulegen, mit dem sie sicherstellen, dass das Geschäftsmodell und die Strategie des Unternehmens mit den Klimazielen der 1,5-Grad Erderwärmung vereinbar sind. Auch solche Unternehmen, bei denen der Klimawandel als ein Hauptrisikofaktor oder als eine Hauptauswirkung der Unternehmenstätigkeit ermittelt worden ist, haben Emissionsreduktionsziele aufzunehmen.12 Wen genau das betreffen wird, ist zu diesem Zeitpunkt schwer zu umreißen, da die Richtlinie noch vom Europäischen Parlament verabschiedet und von den entsprechenden Gesetzgebern in nationales Gesetz umgesetzt werden muss. Sicher ist jedoch, dass einige Unternehmen ihre umweltpolitischen Ziele überdenken werden müssen.
Die neue zivilrechtliche Haftung
Ein für deutsche Unternehmen eindeutig neuer Aspekt ist die in der Richtlinie festgelegte zivilrechtliche Haftung. Wenn Unternehmen ihre Sorgfaltspflicht vernachlässigt haben und dadurch negative Auswirkungen eingetreten sind, die ermittelt, vermieden, abgeschwächt, behoben oder durch angemessene Maßnahmen minimiert hätten werden müssen, werden sie zukünftig für entstandene Schäden haftbar sein.13 So könnte beispielsweise ein Beinbruch eines Mitarbeiters in der ausländischen Produktionsstätte zum Problem für das belieferte Unternehmen in Deutschland werden, wenn der Unfall durch gefährliche Arbeitsbedingungen entstanden ist, gegen die das Unternehmen Maßnahmen hätte ergreifen müssen.
Unternehmen könnten damit nicht nur für direkte Vertragspartner, sondern indirekt auch für deren Zulieferer haften. Hierbei soll gelten: Je weiter entfernt entlang der Wertschöpfungskette der Schaden eingetreten ist, desto abgeschwächter ist der Haftungsmaßstab. Dabei wird berücksichtigt, dass bei einer Mehrzahl von Zwischenlieferanten in der Wertschöpfungskette der faktische Einfluss des Unternehmens sinkt. Ebenso wird der Möglichkeit der Flucht in andere Rechtssysteme Rechnung getragen. Die Haftung wird nicht allein deshalb ausgeschlossen sein, weil das auf entsprechende Ansprüche anzuwendende Recht nicht das Recht eines Mitgliedstaats ist.14 Die in der Richtlinie vorgesehene Haftung hat Vorrang vor jeglichen nationalen Haftungsregelungen.15
Die Geschädigten haben die Möglichkeit, vor den zuständigen nationalen Gerichten eine zivilrechtliche Haftungsklage zu erheben. Eine solche zivilrechtliche Haftung betrifft dann den eigenen Geschäftsbereich eines Unternehmens sowie seine Tochtergesellschaften und etablierte Geschäftsbeziehungen, mit denen ein Unternehmen regelmäßig und häufig zusammenarbeitet.16
Worauf sollten sich deutsche Unternehmen einstellen?
Die EU-Richtlinie wird weiteren Änderungen unterliegen, und insbesondere der deutsche Gesetzgeber wird bei der nationalen Umsetzung die schon vorliegenden Pflichten des Lieferkettengesetzes berücksichtigen. Gleichwohl sollten sich Unternehmen darauf einstellen, dass sie – auch wenn sie nach dem deutschen Gesetz keine Sorgfaltspflichten erfüllen müssen – nach Umsetzung der EU-Richtlinie unter den Anwendungsbereich fallen könnten. Das gilt vor allem, wenn sie in risikoreichen Branchen tätig sind. Betroffene Unternehmen sollten die erweiterten Pflichten zwingend mitbedenken, denn die Folgen von Versäumnissen können vergleichsweise teuer werden. Eine fundierte Beratung und Unterstützung ist in jedem Fall empfehlenswert, um Fehlgriffe bei der Umsetzung zu vermeiden.
_____
Hinweis der Redaktion:
Der Autor ist Teil des Teams, das beim Legal-Service-Provider CLARIUS.LEGAL ein umfangreiches Tool zur Erfüllung der Sorgfaltspflichten des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes entwickelt hat. Das Tool ist 2022 mit dem Best of Legal Award in der Kategorie Compliance ausgezeichnet worden. (tw)

