Aktuelle Ausgabe

Offenlegung von Betriebs- und Geschäfts­geheimnissen gegenüber Wettbewerbern

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Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat am 20.02.2024 (KVB 69/23) in einer Beschwerde­sache von Alphabet Inc. und Google ­Germany GmbH gegen das Bundeskartellamt – soweit ­ersichtlich – erstmals Ausführungen zum Umfang des Schutzes von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen in Verfahren nach § 19a Gesetz gegen Wettbewerbs­beschränkungen (GWB) gemacht.

Hintergrund der Entscheidung

Im Januar 2021 ist die 10. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB-Digitalisierungsgesetz) mit einer zentralen Vorschrift (§ 19a GWB) in Kraft getreten. Das Bundeskartellamt hat damit ein neues Instrument im Bereich der erweiterten Missbrauchs­aufsicht über große Digitalkonzerne erhalten. Danach kann die Behörde Unternehmen, die eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb ­haben, bestimmte wettbewerbsgefährdende Praktiken untersagen. Im ersten Schritt prüft das Bundeskartellamt, ob ein Unternehmen eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb hat. Diese Marktstellung wurde bislang unter anderem bei Alphabet Inc./Google festgestellt.
Im zweiten Schritt kann das Amt dann ­wettbewerbswidrige Praktiken untersagen. Der der Entscheidung des BGH zugrundeliegende Fall betrifft die Prüfung des Bundeskartellamts von möglichen Wettbewerbsbeschränkungen durch Praktiken bei der Lizensierung von Diensten für ­Infotainmentsysteme und durch Nutzungsbedingungen der Google-Maps-Plattform. Das Bundeskartellamt versandte im Juni 2023 eine vorläufige rechtliche Einschätzung an Alphabet Inc., Mountain View, USA, und an die Google Germany GmbH, Hamburg, zu bestimmten Praktiken von Google im Zusammenhang mit den Google ­Automotive Services (GAS). Das Bundeskartellamt beabsichtigt, Google unter Anwendung der neuen Vorschriften nach § 19a GWB verschiedene wettbewerbsgefährdende Verhaltensweisen zu untersagen.

Bei den GAS handelt es sich um ein Produktbündel, das Google Fahrzeugherstellern zur Lizensierung anbietet. Es umfasst den Kartendienst Google Maps, eine Version des App-Stores Google Play und den Sprachassistenten Google Assistant. Google bietet Fahrzeugherstellern die Dienste grundsätzlich nur als Bündel an und macht nach Auffassung des Bundeskartellamts weitere Vorgaben für die Präsentation dieser Dienste im Infotainmentsystem des jeweiligen Fahrzeugherstellers, damit diese bevorzugt genutzt werden. Nach vorläufiger Einschätzung des Bundeskartellamtes erfüllt Googles Verhalten die Voraussetzungen mehrerer Tatbestände von § 19a Abs. 2 GWB, auf dessen Grundlage Unternehmen mit marktübergreifender Bedeutung gemäß § 19a Abs. 1 GWB verpflichtet werden können, die jeweiligen Praktiken zu beenden, sofern sie nicht sachlich gerechtfertigt sind.

Bisheriger Verfahrensverlauf

Das Bundeskartellamt beabsichtigt, seine vorläufige Einschätzung zu Googles Praktiken gegenüber zwei am Verfahren beteiligten Wettbewerbern von Google in teilgeschwärzter Fassung offenzulegen, damit diese zu den wettbewerblichen Bedenken Stellung nehmen können. Google beanstandet die Schwärzungen als unzureichend, weil damit Wettbewerber Kenntnis von Betriebs- und ­Geschäftsgeheimnissen Googles erhalten würden, die nach § 56 Abs. 4 GWB in Kartellverwaltungsverfahren Dritten nicht offengelegt werden müssen.

Google hat deswegen gegen die Offenlegung bestimmter im Einzelnen bezeichneter Testpassagen ­Beschwerde beim Bundeskartellamt eingelegt. Dieses hat die ­Beschwerde, nachdem es ihr nicht abgeholfen hat, dem Bundes­gerichtshof zur Entscheidung gemäß § 73 Abs. 5 GWB vorgelegt. Das Bundeskartellamt und Google haben sich hinsichtlich einiger Textpassagen bereits vor der münd­lichen Verhandlung vor dem BGH und hinsichtlich weiterer, aber nicht aller in Streit stehender Textpassagen in der mündlichen Verhandlung geeinigt.

Zuständigkeit des BGH

Die Zuständigkeit des BGH beruht auf § 73 Abs. 5 GWB. Dabei handelt es sich um eine Sondernorm für den ­Bereich vom Verfahren des Bundeskartellamts nach § 19a GWB. Der BGH ist nach dieser Bestimmung für sämtliche Streitigkeiten im ersten und letzten Rechtszug zuständig. Der BGH ist auch zuständig für sämtliche selbständige Verfahrenshandlungen im Zusammenhang mit Verfahren nach § 19a GWB, hier somit auch für die Offenlegung vermeintlicher Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse an Wettbewerber, was der Zuständigkeitskonzentration dient.

Die bisher in dieser Form nicht vorgesehene Zuständigkeit des BGH wurde im Gesetzgebungsverfahren der 10. GWB-Novelle mit der besonderen Eilbedürftigkeit von Verfahren im Digitalisierungsbereich begründet. ­Neben der Schaffung zusätzlicher Eingriffsbefugnisse des Bundeskartellamts nach § 19a GWB und der erweiterten Möglichkeit der Anordnung einstweiliger Maßnahmen nach § 32a GWB war auch eine Verkürzung des Rechtswegs und damit eine gleichsam erwartete Verkürzung der Gesamtverfahrensdauer für erforderlich gehalten worden.

Die Bestimmung ist nicht ohne Kritik geblieben: Hinsichtlich der Eignung der neuen Vorschrift zur Zielerreichung wird insbesondere darauf hingewiesen, dass der typischerweise als Rechtsmittelgericht agierende BGH für die Tatsachenermittlung, die aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes im Beschwerdeverfahren vorzunehmen ist, nicht ideal ausgestattet sei. Deshalb sei es fraglich, ob überhaupt eine deutliche zeitliche Verkürzung der Verfahren erreicht werden kann. Nach empirischen Erkenntnissen beträgt die durchschnittliche Verfahrensdauer bei Missbrauchsverfahren außerhalb von § 19a GWB aktuell 2,4 Jahre zwischen kartellbehördlicher Entscheidung und BGH-Entscheidung. Deswegen sah der Gesetz­geber ­offenbar die Notwendigkeit, den Rechtsweg zu verkürzen, nämlich das normalerweise vorgeschaltete ­Beschwerdeverfahren durch das Oberlandes­gericht (OLG) Düsseldorf auszuschließen. Angesichts der Doppel­stöckigkeit von § 19a GWB mit einer Verfügung zur Feststellung der Normadressatenstellung und einer weiteren Verfügung zur Untersagung bestimmter Verhaltensweisen besteht ein besonderes Potential für ein „Rechtsmittelpingpong“. Insoweit mag das zeitgleich zum Gesetzgebungsverfahren abgelaufene Facebook-Verfahren vor dem OLG Düsseldorf und dem BGH in den Augen des Gesetzgebers ein mahnendes Beispiel ­gewesen sein.

Der in Sachverhaltsfragen mit begrenzten Ressourcen ausgestattete Kartellsenat des BGH wird, so die Erwartung, bei der Sachverhaltsaufklärung gerade aufgrund seiner herausgehobenen Verfahrensposition besondere Sorgfalt anlegen müssen und sich diesbezüglich durch Nachermittlungen der Kartellbehörde und Stellungnahmen der Monopolkommission, die nach § 75 Abs. 5 GWB zulässig sind, die notwendige Sachverhaltskenntnis verschaffen müssen.
Zudem wird er den Beteiligten Gelegenheit geben müssen, zu diesen Erkenntnissen Stellung zu nehmen. Es bleibt – so die kritischen Stimmen – abzuwarten, inwieweit der diesbezügliche Zeitaufwand tatsächlich geringer ist als derjenige unter Beteiligung des OLG Düsseldorf.

Entscheidung des BGH

Der Bundesgerichtshof musste über die Wahrung der von Alphabet Inc./Google als solche bezeichneten Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse entscheiden. Es ist anerkannt, dass der Gesetzgeber in der einschlägigen Bestimmung von § 56 Abs. 4 GWB nicht vom engen Begriff des ­Geschäftsgeheimnisses nach § 2 Nr. 1 des Geschäftsgeheimnisgesetzes ausgegangen ist, sondern den herkömmlichen weiten Begriff der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse angewandt wissen wollte. Danach sind Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse alle auf ein Unternehmen bezogene Tatsachen, Umstände und Vorgänge, die nicht offenkundig, sondern nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und an deren Nichtverbreitung der Rechtsträger ein berechtigtes Interesse hat.

Die bloße Bezeichnung eines Geschäftsgeheimnisses seitens des Unternehmens genügt hierfür nicht. Bei Betriebsgeheimnissen, die als solche schutzwürdig sind, handelt es sich um technisches Wissen im weitesten Sinne (Produktionsverfahren, betriebliches Know-how und anderes mehr), bei den Geschäftsgeheimnissen um kaufmännisches Wissen, wie etwa Kalkulationen, Konditionen, Umsätze, Gewinnspannen und Marktstrategien. Keine schützenswerten Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse sind Tatsachen, die zwar noch nicht nach außen gedrungen sind, deren Offenlegung aber den betroffenen Unternehmen keinen rechtserheblichen Nachteil zufügt.

Der BGH hat der Beschwerde von Alphabet ­Inc./­Google hinsichtlich eines einzelnen aus internen Unterlagen Googles stammenden wörtlichen Zitats stattgegeben und sie im Übrigen zurückgewiesen. Die Zurückweisung betrifft insbesondere neben Bewertungen der Strategie Googles durch das Bundeskartellamt auch die wörtliche Wiedergabe einzelner Klauseln aus Verträgen Googles mit Fahrzeugherstellern.

Nach Auffassung des BGH kommt die Offenlegung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen gegenüber am Verfahren beteiligten Wettbewerbern zu Ermittlungszwecken sowie zur Wahrung ihrer Verfahrensrechte in Betracht, wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt wird. Die Offenlegung gegenüber den Wett­bewerbern muss zur Sachaufklärung geeignet, erforderlich und angemessen sein. Angemessen ist sie, wenn bei der vorzunehmenden Interessenabwägung das Sachaufklärungsinteresse des Bundeskartellamts das Interesse an der Wahrung der grundrechtlich geschützten Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse überwiegt. Dabei ist zunächst zu ermitteln, welches Gewicht den konkreten Nachteilen, die durch die Offenlegung drohen, und dem Sachaufklärungsinteresse jeweils zukommt. Zu berücksichtigen ist ferner das Interesse des Bundeskartellamts und der am Verfahren beteiligten Wettbewerber an der Wahrung des rechtlichen Gehörs.

Nach Auffassung des BGH handelt es sich bei den noch im Streit stehenden Textpassagen mit der einen erwähnten Ausnahme entweder bereits nicht um Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse von Google oder das Sachaufklärungsinteresse des Bundeskartellamts überwog Googles Geheimhaltungsinteresse.

Fazit

Der BGH hat mit seiner Entscheidung die Interessen des Bundeskartellamts an einer zügigen Fortführung des Verfahrens gefördert. Der BGH hat, soweit aus den vorliegenden Quellen ersichtlich, die Interessen beider Parteien angemessen abgewogen und sachgerecht entschieden. Es ist davon auszugehen, dass – entgegen den Befürchtungen verschiedener Stimmen, der BGH könne wegen vermeintlich fehlender Ressourcen zur Sachverhaltsaufklärung dem gesetzgeberischen Ziel der Verkürzung der Verfahrensdauer nicht gerecht werden – viele Verfahren sich in dem Bereich abspielen werden, in dem sich das ­vorliegende Verfahren abgespielt hat. Es wird nicht in jedem Fall eine vollumfängliche Sachverhaltsaufklärung erforderlich sein. Gerade der vorliegende Fall mit einer doch an Dokumenten orientierten Sachverhaltsaufklärung zeigt, dass die Stoßrichtung des Gesetzgebers, das angesprochene Rechtsmittelpingpong zu vermeiden, richtig war und diese in einer Vielzahl von Verfahren durch die neue Regelung realisiert werden kann.

 

Autor

Prof. Dr. Ulrich Schnelle, LL.M. Haver & Mailänder, Stuttgart Rechtsanwalt, Partner us@haver-mailaender.de www.haver-mailaender.de

Prof. Dr. Ulrich Schnelle, LL.M.
Haver & Mailänder, Stuttgart
Rechtsanwalt, Partner

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