Einleitung
Mit Urteil vom 08.05.2025 (C-581/23) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) wesentliche Anforderungen an die kartellrechtliche Zulässigkeit von Verkaufsverboten im Rahmen von Alleinvertriebssystemen neu justiert. Der EuGH hat entschieden, dass ein Anbieter seinen Händlern den aktiven Verkauf in exklusive Verkaufsgebiete anderer Händler untersagen darf, wenn er die Händler zuvor ausreichend über den Bestand und den Schutz der Exklusivgebiete informiert hat und die Händler der Beschränkung entweder ausdrücklich oder durch schlüssiges Verhalten zugestimmt haben.
Das Urteil wird erhebliche Auswirkungen auf die Praxis der Vertriebsvereinbarungen innerhalb der EU haben und klärt wichtige Fragen zur Freistellung von Verkaufsverboten.
Sachverhalt
Gegenstand des Urteils war ein belgischer Rechtsstreit zwischen Beevers Kaas (Beevers) und der Supermarktkette Albert Heijn. Beevers ist in Belgien die Alleinvertriebshändlerin des bekannten Beemster-Käses, den sie von der niederländischen Herstellerin Cono Kaasmakers (Cono) bezieht. Beemster-Käse ist bekannt für seine cremige Textur und seinen milden bis würzigen Geschmack, der je nach Reifegrad variiert. Die Kühe, die die Milch für den Käse liefern, grasen auf den fruchtbaren Weiden des Beemster-Polders in den Niederlanden, der seit 1999 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Die traditionelle Herstellung auf Holzbrettern verleiht dem Käse seinen charakteristischen Geschmack und seine Textur.
Bereits seit 1993 besteht zwischen Cono und Beevers eine Alleinvertriebsvereinbarung für den Vertrieb von Beemster-Käse in Belgien und Luxemburg.
Die Albert-Heijn-Gesellschaften – insbesondere die Supermarktketten Albert Heijn und Delhaize – sind unter anderem in Belgien und in den Niederlanden tätig. Sie sind ebenfalls Abnehmer von Beemster-Käse und verkauften ihn auch in Belgien, was den Konflikt auslöste.
Beevers Kaas warf den Albert-Heijn-Gesellschaften vor, sie verstießen gegen die vereinbarten und „ehrlichen Marktpraktiken“, da sie die Alleinvertriebsrechte von Beemster in Belgien verletzen würden. Die Albert-Heijn-Gesellschaften wenden sich gegen diesen Vorwurf und machen geltend, dass Beevers Kaas und Cono versuchten, ihnen ein Verbot des aktiven Verkaufs aufzuerlegen, was kartellrechtlich nicht zulässig sei.
Vor den belgischen Gerichten streiten die Parteien darüber, ob die Alleinvertriebsvereinbarung im Einklang mit den damals noch anwendbaren Bestimmungen der Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung 330/2010 der Europäischen Kommission steht, insbesondere mit der Bedingung der sogenannten „parallelen Auferlegung“ beim Alleinvertrieb. Die Bedingung der „parallelen Auferlegung“ beim Alleinvertrieb bezieht sich auf die Verpflichtung des Anbieters, den Alleinvertriebshändler vor dem aktiven Verkauf anderer Abnehmer im exklusiven Gebiet des Händlers zu schützen. Dies bedeutet, dass der Anbieter sicherstellen muss, dass andere Abnehmer nicht ohne Erlaubnis des Alleinvertriebshändlers in dessen Gebiet verkaufen.
Die maßgeblichen Fragen hat der belgische Appellationshof Antwerpen als Berufungsinstanz dem EuGH vorgelegt. Zentrale Streitfrage war, ob diese Praktiken gegen kartellrechtliche Bestimmungen verstoßen.
Rechtlicher Rahmen
Gemäß der bis 2022 geltenden Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung 330/2010 waren Gebietszuweisungen grundsätzlich als Kernbeschränkungen nicht gruppenfreigestellt. Die seit Juni 2022 geltende Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung 2022/720 erlaubt jedoch unter bestimmten Bedingungen eine Freistellung solcher Einschränkungen. Ein zentraler Aspekt dieser Regelung ist, dass aktive Verkäufe allein einem exklusiven Händler oder maximal fünf Händlern vorbehalten sind.
Eine entscheidende Voraussetzung für die Freistellung einer solchen Abrede ist es, dass eine Vereinbarung zwischen dem Anbieter und allen ausgeschlossenen Händlern existiert, die diese ausgeschlossenen Händler verpflichtet, nicht aktiv in das geschützte Gebiet zu verkaufen. Diese Vereinbarung kann explizit durch Vertragsklauseln oder konkludent durch nachvollziehbares Verhalten erfolgen. Die neue Vertikal-GVO 2022/720 schreibt zudem ausdrücklich vor, dass Anbieter ihre Exklusivhändler vor aktiven Verkäufen durch andere Händler schützen müssen.
Zentrale Punkte
In seinem Urteil vom Mai 2025 stellte der EuGH nun klar, dass eine bloße vertragliche Zuweisung eines exklusiven Gebiets nicht ausreicht. Für eine Freistellung vom Kartellverbot ist eine nachweisbare Vereinbarung notwendig, bei der alle betroffenen Händler dem Verzicht auf aktive Verkäufe zugestimmt haben müssen. Diese Zustimmung kann explizit durch Vertragsklauseln oder implizit durch konkludentes Verhalten erfolgen, sofern dies hinreichend dokumentiert ist. Auch eine stillschweigende Zustimmung kann demnach angenommen werden, wenn das Verhalten etwa durch Regelungen in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder ähnlichen Mitteilungen unterstützt wird.
Mit seinem Urteil macht der EuGH deutlich, dass es demnach nicht ausreicht festzustellen, dass andere Händler nicht aktiv in das Alleinvertriebsgebiet verkaufen. Vielmehr muss eine tatsächliche und nachprüfbare Vereinbarung vorliegen, die belegt, dass alle anderen Händler dem Verzicht auf aktive Verkäufe explizit oder zumindest konkludent zugestimmt haben. Für diesen Nachweis können direkte Beweise oder auch Indizien herangezogen werden. Entscheidend ist dabei die Sicherstellung und der Nachweis, dass der Exklusivhändler während des vereinbarten Zeitraums wirksam geschützt wird. Zeitlich ist zu beachten, dass die Gruppenfreistellung nur so lange gilt, wie diese Zustimmung besteht.
Fazit
Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie ihre Vertriebsstrategien überdenken und sicherstellen sollten, dass alle beteiligten Händler umfassend informiert sind und den Verkaufsbeschränkungen explizit zustimmen. Der Nachweis solcher Vereinbarungen sollte idealerweise schriftlich oder zumindest in Textform, also etwa per E-Mail oder Webformblatt, festgehalten werden. Darüber hinaus sollten Unternehmen interne Mechanismen zur Überwachung und Durchsetzung dieser Beschränkungen einführen.
Ohne diese Maßnahmen riskieren sie Verstöße gegen das Kartellverbot gemäß Art. 101 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beziehungsweise § 1 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB).
Insgesamt stärkt dieses Urteil die Sicherheit für Exklusivhändler innerhalb der EU, während es gleichzeitig strenge Anforderungen an Transparenz und Einwilligung setzt. Das Urteil macht deutlich, dass einfache Lösungen für ein Verbot aktiver Verkäufe riskant sein können. Zu empfehlen sind eine gründliche Prüfung und Beratung, da eine fehlerhafte Implementierung solcher Beschränkungen sowohl kartellrechtliche als auch zivilrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen könnte.


